Chile | Nummer 294 - Dezember 1998

“Die spanischen Kollegen sind in einer guten Lage”

Interview mit der Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf

Seit ihrem ersten Aufenthalt in Chile im Jahr 1972 verfolgte Petra Isabel Schlagenhauf die Ereignisse im Land, unter der Militärdiktatur genauso wie während der folgenden Jahre des Übergangs zum Parlamentarismus. Seit dem vergangenen Jahr hält sie Kontakt zu den spanischen Anwälten und Richtern, die gegen Augusto Pinochet wegen seiner Verbrechen, vor allem gegen spanische Staatsangehörige und spanischstämmige Chilenen, ermitteln. Das folgende Interview wurde am 3. November geführt. Am 4. November erhob Petra Schlagenhauf für einen Mandanten Klage gegen Pinochet beim Bundesgerichtshof.

Niels Müllensiefen, Harald Neuber

Sie stehen von Berlin aus in ständigem Kontakt mit den zuständigen juristischen Stellen in Madrid und setzen sich für die Auslieferung Pinochets nach Spanien ein. Auch persönlich sind Sie in die Geschehnisse seit 1973 involviert. Können Sie uns Ihre Bindungen, persönlich wie beruflich, schildern?

Ich war 1972, damals noch unter der Regierung Allende, im Schüleraustausch in Chile und ging dort viereinhalb Monate zur Schule. Zu dem Programm gehörte auch, daß man in einer chilenischen Austauschfamilie wohnte. Von dieser Familie ist der Onkel meiner Austauschschwester, ein führender Kommunist, am 11. September 1973 (Tag des Putsches, Anm. d. Red.) in der Moneda, dem Regierungspalast, verhaftet worden. Wir wir später durch Zeugen erfuhren, wurde er umgebracht. Die Leiche wurde der Familie nie übergeben. Viele Familienmitglieder sind damals vertrieben worden, mußten ins Exil gehen. Die Familie ist zum Teil auseinandergerissen worden, meine Austauschschwester selbst lebt bis heute im Ausland. Soviel zu den persönlichen Erlebnissen.
Nachdem ich später in Berlin mit dem Jurastudium angefangen hatte, engagierte ich mich zusammen mit Exilchilenen zunächst vor allem für das Schicksal inhaftierter chilenischer Frauen. Später habe ich Chile oft besucht, habe dort auch an Treffen von Menschenrechtsgruppen teilgenommen, wo es um politische Gefangene und die Straflosigkeit der Militärs ging. Dabei fand auch ein Austausch mit Argentiniern statt, die unter der dortigen Diktatur ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Diese Treffen fanden noch während der Pinochet-Diktatur statt?

Zum ersten Mal habe ich 1988 an einem solchen Treffen teilgenommen. Das war also in der Übergangszeit. Ich habe mich dort juristisch wie auch persönlich mit der jüngeren chilenischen Geschichte beschäftigt, vor allem mit den Problemen der Übergangszeit.

Wann kam dann Ihr Kontakt mit den spanischen Prozeßführern zustande?

Ich bin im Sommer letzen Jahres mit dem spanischen Anwalt Juan Garcés in Verbindung getreten, der die Exilchilenen vertrat, die von Europa aus um ihr Recht kämpften. Auch er ist in die Vorfälle während der Militärdiktatur involviert. Er ist Katalane und hat als Berater Salvador Allendes gearbeitet. Über seine Erlebnisse von 1973 hat er ein Buch geschrieben. Garcés hat in Madrid jahrelang daran gearbeitet, der Straflosigkeit in Chile juristisch beizukommen, und er ist einer der Hauptakteure im Prozeß gegen Pinochet. Er unterrichtet mich laufend über das Verfahren. Durch diese Bekanntschaft kam ich in Kontakt mit dem Anwalt Carlos Slepoy, der sich mit den Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur beschäftigt. Über ihn wiederum lernte ich den Richter Baltasar Garzón aus Madrid kennen, der ja nun als Ermittlungsrichter im Fall Pinochet agiert. Garzón war schon damals als extrem ambitionierter Mann bekannt, der beispielsweise den hochrangigen argentinischen Militärangehörigen Adolfo Scilingo, den er ursprünglich als Zeugen vorgeladen hatte, im Gerichtssaal verhaften ließ. Dieser Fall schlug damals hohe Wellen, da Scilingo in einem Interview die vermuteten „Todesflüge“ zugegeben hat, bei denen Dissidenten über dem Río de la Plata aus dem Flugzeug geworfen wurden. Scilingo bestätigte damals, was Oppositionelle schon von jeher der Militärdiktatur vorgeworfen hatten, und wurde so zu einem der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses. Garzón hatte damals schon erreicht, gegen einige der argentinischen Verantwortlichen Haftbefehle zu erlassen und ihre ausländischen Konten zu beschlagnahmen. Später wurden auch Kontakte nach Deutschland geknüpft, von wo aus Exilargentinier im Mai dieses Jahres Strafanzeige gegen Angehörige des argentinischen Militärs stellten. Im Laufe der Ermittlungen wurde auch im „Plan Cóndor“ ermittelt. Das war die Zusammenarbeit zwischen den chilenischen und den argentinischen Militärs.

Und uruguayischen Militärangehörigen …

Ja, auch Uruguay und Paraguay waren in diese Zusammenarbeit verwickelt, die auf ein Verschwindenlassen und Ermorden politischer Gegner hinauslief. Jedenfalls hatte Richter Garzón schon damals besonderes Interesse an Pinochet als Beschuldigtem bekundet. Rechtsanwalt Garcés sagte mir schon im Mai dieses Jahres, daß seiner Einschätzung nach Garzón irgendwann einen Haftbefehl gegen Pinochet erlassen wird. Das Problem würde dann bloß sein, Pinochet außer Landes zu bekommen, um den Haftbefehl auch zu vollstrecken. Daß Pinochet einige Monate später nach Großbritannien reisen würde, damit hatten wir natürlich nicht gerechnet.

Wie gestaltet sich Ihre juristische und politische Zusammenarbeit mit den spanischen Juristen von Berlin aus?

Ich bin im wesentlichen daran beteiligt, daß hier politische Aktionen organisiert und koordiniert werden. Wir, das FDCL, haben kürzlich eine Demonstration vor der britischen Botschaft für die Auslieferung Pinochets nach Spanien organisiert. Zur Zeit planen wir eine weitere Demonstration, die sich auf ein breites Bündnis stützt. Auf Wunsch meiner spanischen Kollegen habe ich eine Kampagne in Deutschland angestoßen, bei der es darum ging, Faxe an die Audiencia Nacional (nationaler Gerichtshof Spaniens, Anm. d. Red.) zu schicken, um so, unmittelbar vor der endgültigen Entscheidung über die Zuständigkeit der spanischen Gerichtsbarkeit, Druck auszuüben. Eine ähnliche Kampage haben wir jetzt vor der Entscheidung des britischen Oberhauses über das spanische Auslieferungsgesuch in Richtung London gestartet.
Es ist auch an mich herangetragen worden, eine Sammelklage hier lebender Betroffener zu organisieren. Es existiert zwar tatsächlich die Möglicheit nach deutschem Recht, eine solche Klage einzureichen. Allerdings denke ich, daß der spanische Prozeß mehr Aussicht auf Erfolg hat, und daß man sich auf ihn konzentrieren sollte, da in den letzten zweieinhalb Jahren unheimlich viel Material zusammengetragen worden ist. Durch die gute Dokumentation sind die Kollegen in Madrid einfach in der besten Lage, solch ein Verfahren real, konsequent und erfolgreich durchzuführen.

Wie beurteilen Sie rein juristisch die Entscheidung des britischen „High Court“, Pinochet genieße als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität?

Diese Entscheidung verstößt gegen geltendes Völkerrecht. Zwar sind Staatsoberhäupter grundsätzlich vor Strafverfolgung wegen ihrer Amtshandlungen geschützt – dies entspringt dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung der Souveränität der Staaten. Seit den Nürnberger Prozessen 1945/46 ist jedoch längst anerkannt, daß diese Immunität nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Völkermord, Verschwindenlassen und Folter gelten kann. Wie es treffend gesagt wurde: Nach der Rechtsauffassung des Londoner Gerichts hätte selbst Hitler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Wie schätzen denn die spanischen Anwälte nun, nach dieser ersten negativen britischen Entscheidung, die Chancen im Prozeß gegen Pinochet ein?

Sie sind nach wie vor sehr davon überzeugt, Erfolg zu haben. Die Audiencia Nacional, ein nicht gerade linkslastiges Gericht, hätte auch niemals das Auslieferungsgesuch des Richters Garzón bestätigt, wenn dem Prozeß nicht eine derart überwältigende Dokumentation der Verbrechen zugrunde liegen würde.

Zu dieser so deutlichen Beweislage trugen sicher nicht zuletzt die zahlreichen Zeugenaussagen bei?

Genau, es sind sehr viele Zeugen – auch aus Chile – gehört worden. Ich selbst habe übrigens für den Anwalt Garcés hier in Deutschland Helmut Frenz als Zeugen ausgemacht. Frenz war Lutheraner und evangelischer Bischof in Chile, und ihm wurde nach dem Putsch 1973 von Pinochet die Einreise ins Land verboten. Er hatte sich damals für einen katholischen Priester eingesetzt und zusammen mit einem katholischen Bischof bei Pinochet vorgesprochen, um diesen Menschen irgendwie zu retten. Während dieses Gespräches sagte Pinochet einige Sätze, die ihn eindeutig als Mitwisser der Verbrechen entlarvten, was ja bis heute immer wieder bestritten wird. Frenz wurde also im Januar dieses Jahres von den spanischen Richtern als Zeuge gehört und es ging danach überall durch die Presse, daß die Mitwisserschaft Pinochets mit dieser Aussage belegt werden kann.

Wie stark war in den letzten zweieinhalb Jahren, die der Prozeß bereits andauert, der Widerstand der rechten Kräfte in Chile?

Die Bestrebungen in Spanien, Pinochet habhaft zu werden, lösten bei seinen Anhängern massive Proteste aus. Es ist sogar so, daß versucht wurde, auf das Verfahren direkten Einfluß zu nehmen -sowohl von chilenischer als auch von argentinischer Seite. So reiste der chilenische Ex-Militärstaatsanwalt Torres nach Madrid – angeblich, um dort Urlaub zu machen – und besuchte „zufällig“ die beiden spanischen Untersuchungsrichter Garzón und García-Castellón. Dort gab er Material ab, das angeblich beweisen sollte, daß alles eine wüste Lügenkampagne sei. Der chilenische Widerstand führte in der Folge auch zu einer Stärkung der Rechten innerhalb der spanischen Justiz. Das ging soweit, daß seitens der spanischen Staatsanwaltschaft argumentiert wurde, daß die Militärregierungen in Chile und Argentinien nur einen „Übergang“ zu einer zivilen, demokratischen Regierung dargestellt hätten. Diese Äußerungen lösten in Spanien einen Skandal aus. Die Presse fiel über die Staatsanwaltschaft her, die dann sofort einen Rückzieher machen mußte.

Wie ist die Stimmung in Chile nach der Festnahme Pinochets in London einzuschätzen?

Die Situation in Chile ist sehr angespannt. Ich denke, daß hier in Europa anfangs nur das angekommen ist, was die Rechte dort an Protesten veranstaltete. Diese nahmen bald extreme Formen an. So ist zum Beispiel auf Initiative eines rechten Bürgermeisters der Müll von der britischen und der spanischen Botschaft nicht mehr abgeholt worden. Allerdings wurden sogleich Müllabfuhren aus links regierten Stadtbezirken geschickt, deren Wagen – eine wirklich sehr nette Anekdote – mit Transparenten bespannt waren, auf denen es hieß: „Wenn ihr unseren Müll beseitigt, holen wir euren ab!“
Aber es ist schon so, daß die Rechte heftig reagiert hat, zum Teil auch wieder mit Morddrohungen, etwa mit den Worten:“Wenn Pinochet etwas passiert, dann bringen wir dich um.“ Die Betroffenen solcher Drohungen sind Rüchkehrer aus dem Exil, Oppositionelle und ehemalige politische Gefangene. Es hat zudem auch einen xenophoben Schub in Chile gegeben. Das bedeutet, daß ein Brite oder Spanier, der heute nach Chile fährt, durchaus unangenehme Erfahrungen machen kann.
Es ist im Grunde herausgekommen, daß die ganze Übergangssituation, die ganze Versöhnung eine einzige Lüge ist und daß sich die Lager immer noch verfeindet gegenüberstehen. Die wahren Machtverhältnisse treten jetzt wieder zutage. Es zeigt sich, wie gespalten dieses Land nach wie vor ist.

Wie würden Sie – auch wenn dies schwerfällt – diese Spaltung prozentual beurteilen?

Nun, ich würde schon von einem Kräfteverhältnis 60:40 zugunsten der Gegner Pinochets ausgehen. Beim Referendum 1988 hat Pinochet einen Stimmenanteil von rund 40 Prozent auf sich verbuchen können. Obwohl er den heute so nicht mehr bekommen würde, kann man doch mit 30 Prozent Pinochetismus rechnen. Dazu kommt der Mittelstand, der auch eher zu dieser Seite neigt. Es gibt die „klassische“ Aufteilung in ein Drittel Rechte, ein Drittel Christdemokraten, ein Drittel Linke. Letztere sind in den siebzehn Jahren Gewaltherrschaft unter Pinochet zerschlagen worden. Den Leuten sitzt heute noch die Angst im Nacken. Chile ist ein Land, in dem man sich über fünfzehn Jahre lang nicht getraut hat, den Mund aufzumachen. Ich bin mir sicher, daß zumindest 60 Prozent der Chilenen am Tag, als die Nachricht der Festnahme kam, zu Hause saßen und gefeiert haben, sich aber nicht getraut haben, damit sofort auf die Straße zu gehen. Die psychologische Einschüchterung ist sehr, sehr verheerend gewesen.
So ist die Situation im Moment. Es steht alles sehr auf der Kippe, obwohl die Stimmung gegen Pinochet zu siegen scheint. Selbst aus den konservativen Kreisen wurden jüngst Stimmen laut, die sich zu der Festnahme positiv äußern. Auch der oberste Gerichtshof ist allmählich nicht mehr ausschließlich von Pinochetisten besetzt, so daß dort das Amnestiegesetz, 1978 von der Junta selbst verfaßt, künftig sogar zur Debatte stehen könnte. Und die Stimmen gegen Pinochets Senatorenamt mehren sich, auch von konservativer Seite.

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