Brasilien | Nummer 356 - Februar 2004

Die Titanic wieder auf Kurs bringen

Ein Jahr Lula – eine Bilanz

Zwiespältig sind die Meinungen vieler linker Intellektueller über das Regierungsjahr, das die Regierung Lulas nun hinter sich gebracht hat. Doch schwindet die populäre Unterstützung für den Präsidenten bislang kaum, obwohl doch kein erhoffter Bruch mit der bisherigen Regierungspraxis in Brasilien vorgenommen wurde. Die Erklärung dafür ist vielleicht, dass die Regierung Lulas eben keine Linksregierung ist, sondern ein Bündnis, in dem eine linke Partei die stärkste Kraft ist – aber nicht die einzige.

Thomas W. Fatheuer

Mit einem rauschenden Massenfest hatte am 1. Januar 2003 Brasilia den Amtsantritt von Inacio Lula da Silva gefeiert. Kaum ein Präsident hat wohl in letzter Zeit sein Amt mit so vielen widersprüchlichen Erwartungen angetreten wie Lula. Daher kann es kaum überraschen, wenn nach einem Jahr auch die Bilanz widersprüchlich ist – und alle Versuche, sie auf einen Nenner zu bringen, der Komplexität der aktuellen Situation in Brasilien wohl kaum gerecht werden.

Lula zu kritisieren scheint leicht
Es scheint äußerst leicht zu sein, die Regierung Lulas und seiner Partei (PT) nach einem Jahr zu feiern oder vernichtend zu kritisieren. Aloizio Mercadante, ein einflussreicher PT Senator, zitiert Zahlen gegenüber der Tageszeitung Folha de São Paulo, um den Erfolg des ersten Jahres der Regierung Lula zu belegen: „Die Regierung Lula übernahm von ihrer Vorgängerin ein schweres Erbe und es gelang ihr, die negativen Indikatoren zu wenden. Die Inflationsrate, die 2002 auf 25,3 Prozent stieg und drohte, außer Kontrolle zu geraten sank auf 8,7 Prozent.Das Verhältnis interner Kredit / BIP, das seit 1994 (damals 55 Prozent) ständig sank und 2002 bei nur 24,3 Prozent angelangt war, steigt wieder an. Das Verhältnis öffentliche Nettoverschuldung / BIP das 2002 bei 56,3 Prozent angelangt war und in den letzten acht Jahren um 7,3 Prozent pro Jahr anwuchs ist 2003 nur um 1,3 Prozent gewachsen”. Weiterhin führt Mercadante den ersten Zahlungsbilanzüberschuss seit acht Jahren und das drastische Sinken des „Risiko Brasiliens (von internationalen Ratingagenturen vergeben) als Indizien für ein äußerst erfolgreiches erstes Jahr an.
Professor Adriano Benayon sieht alles ganz anders und zitiert auch Zahlen: „Das Durchschnittseinkommen der Lohnabhängigen sank 2003 (Zahlen bis Ende Oktober) um 15,2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit im Großraum São Paulo stieg von 19 auf 20,4 Prozent. Die Wirtschaftspolitik Lulas habe das Land in eine Rezession geführt und gleichzeitig den Banken formidable Gewinne beschert. Das erste Jahr Lula war somit ein Desaster, bescheinigt der Professor und resümiert die Enttäuschung, die besonders im intellektuellen Lager grassiert.

Die Katastrophe blieb aus – Die Titanic auf neuem Kurs?
Damit sind die Pole der aktuellen Debatte um die Regierung Lula markiert. Während für die einen die makropolitsche Stabilisierung die notwendige Voraussetzung für alles Weitere ist, hat für die anderen Lula durch Subordination unter neoliberale Konzepte gleich zu Anfang jeglichen Handlungsspielraum verloren. Lula selbst hat die Ausgangslage seiner Regierung in einem drastischen Bild zusammengefasst: Es sei nicht so gewesen, dass ein Zusammenstoß mit dem Eisberg gedroht hätte, nein Brasilien ist im Jare 2002 mit dem Eisberg zusammengstoßen. Die neue Regierung hätte somit ein maneuvrierunfähiges Schiff übernommen, in das Wasser eindrang. In solch einer Situation kann man nicht am Repertoir des Orchesters rummäkeln, sondern muss erstmal die Löcher schließen, während das Schiff weiterhin ohne Kurs dahinschlingert. Erst nach den notwendigen Reparaturarbeiten sei Steuern und eine neue Kursbestimmung möglich. Nach diesem Bild und der Meinung vieler treuer Anhänger der Regierung ist das große Ereignis des Jahres 2003 das Ausbleiben der Katastrophe. Nun ist es fast unmöglich zu beweisen, dass die Lage tatsächlich so war und dass alle alternativen Wege in die Katastrophe geführt hätten. Aber es gibt gute und unleugbare Gründe, die zumindest die Angst der Regierung plausibel machen. Insbesondere die explodierende Verschuldung hat eine restriktive Haushaltspolitik erfordert. Die Regierung hat sich gegenüber dem IWF zu einem primären Haushaltsüberschuss von 4,25 Prozent verpflichtet und wohl ein Ergebnis von etwa 5 Prozent erreicht. Man mag darüber streiten, ob sich die Regierung vielleicht in der Dosis geirrt hat Aber dass eine nachaltiges Wachstum mit steigender Schuldenlast (inzwischen gehen etwa 10 Prozent des BIP in den Schuldendienst) unvereinbar ist, mag wohl kaum von der Hand zu weisen sein.

Keine Linksregierung
Um nicht in der etwas sterilen Grabenpolemik pro – contra Regierung Lula stecken zu bleiben, ist eine Diskussion über den Charakter der Regierung Lula notwendig und über die Erwartungen, die an eine solche Regierung zu stellen sind. Tarso Genro, Regierungsmitglied und ehemaliger Bürgermeister von Porto Alegre, stellt zu recht fest, dass die Regierung Lula „keine Linksregierung im klassischen Sinne ist. Es ist ein Regierung, in der eine Linkspartei die Führung im Rahmen eines politischen Paktes inne hat. … Würde die Regierung mit dem Bündnis, das sie unterstützt, brechen, würde sie erhebliche Schwierigkeiten haben zu regieren und könne das Land in ein Desaster führen.
Zwar hatte Lula 2002 die Präsidentschaftswahlen sicher gewonnen und die PT wurde die stärkste Partei, aber sie ist weit davon entfernt selbst zusammen mit kleineren Linksparteien eine parlamentarische Mehrheit zu bilden. Die Regierungsfähigkeit hängt also tatsächlich von einem Bündnis mit Kräften ab, die beim besten Willen nicht zum progressiven Lager gezählt werden können. Lula und die überwältigende Mehrheit der PT haben sich für dieses Bündnis und damit für einen widersprüchlichen Pakt entschieden.

Kein Bruch mit dem Alten
Diese Entscheidung geht deutlich gegen die Option des „Bruchs“, den ein Teil der Parteilinken immer einforderte: den Bruch mit dem traditionellen politischen und ökonomischen System. Die Mehrheit der Partei sieht für einen solchen Bruch die Bedingungen nicht gegeben sind. Tarso Genro führt drei Bedingungen an, die für eine Politik des „Bruchs notwendig wären: „Die erste Annahmen ist, dass es möglich sei, eine demokratische Regierungsfähigkeit zu sichern ohne ein Abkommen mit den Unternehmern, speziell mit den Großunternehmern zu schließen. Die zweite Annahme ist, dass es möglich sei, die Grundlagen für ökonomisches Wachstum zu schaffen, ohne Unterstützung des privaten Sektors. Und die dritte Annahme ist, dass die Regierung Lebensstandard und politische Unterstützung der Mittelschichten und der Arbeiterklasse bewahren könnte, wenn sie mit dem internationalen Finanzsystem bricht, sagte er der Folha de Sao Paulo.
Mit anderen Worten: Für einen regierungsfähigen Pakt ist das Bündnis mit den Unternehmern und zumindest die nicht-Kollision mit dem internationalen Finanzsystem unabdingbare Voraussetzung. Damit ist eine der Grundfragen skizziert, deren Klärung die Basis für eine Einschätzung der Regierung Lula bildet. Wer die Option der Regierung für grundlegend falsch hält, tendiert heute zum Bruch mit dieser Regierung, und das ist auf Seiten der Linken und der sozialen Bewegungen eine fast verschwindende Minderheit. Der Ausschluss von vier Abgeordneten, die systematisch gegen die Regierungspolitik abstimmten und öffentlich auftraten, hat zwar viel Presseecho hervorgerufen, aber die eigentliche Meldung ist doch, dass die PT, inklusive ihres linken Flügels, das erste Jahr mit all seinen Schwierigkeiten ohne interne Spaltung überlebt hat.

Klassenkampf nun in der Regierung
Die Mehrheit auch der internen Kritiker reagiert mit einer anderen Haltung. Die Abwesenheit der Bedingungen für eine Politik des Bruchs zu diesem Moment wird anerkannt. Die Regierung selbst wird damit aber nun zum Kampffeld um die Hegemonie: „Dies ist eine Regierung im Disput“, ist eine der häufigsten Aussagen, die man heute hört. Während für die einen der „Nicht-Bruch“ (sprich die Unterordnung unter das Diktats des IWFs) alles determiniert, halten die anderen an der Existenz von Handlungsspielräumen fest, um die es sich zu ringen lohnt.
Noch ein anderer Aspekt ist wichtig, um die jetzige Regierung einzschätzen. João Pedro Stedile von der Bewegung der Landlosen (MST) weist immer auf ein Paradox des Wahlsiegs Lulas hin: Er war nicht begleitet von einem Aufschwung der sozialen Bewegungen und noch viel weniger Ausdruck einer sozialen Mobilsierung – obwohl sich die PT als Vertreterin gerade dieser Gruppen sieht. Die sozialen Bewegungen, einschließlich der Gewerkschaften, haben in den acht Jahren der Regierung Cardosos an Mobilisierungskraft verloren. Auch dies ist ein Argument dafür, dass weder objektiv noch subjektiv die Bedingungen für eine Option des Bruchs gegeben sind. Es macht deshalb keinen Sinn, die Regierung Lula für fehlende Radikalität zu kritisieren, sondern es geht darum, die Bedingungen für ein soziales Reformprogramm überhaupt erst zu schaffen. Die Präsidentschaft Lulas und die Beteiligung der PT an der Regierung sind damit nur Teil eines komplexen Kräftespiels. Die MST Vertreter betonen immer wieder, dass auch die Regierung in der Agrarreform nichts ohne Druck machen wird, dass aber die Bedingungen, Druck auszuüben, besser geworden sind: „Der Klassenkampf findet nun auch innerhalb der Regierung statt.“
Jenseits einer „Generaldebatte“ über die Grundlagen der Regierungspolitik ist nach einem Jahr nur eine eingeschränkte Beurteilung über bisherige konkrete Schritte möglich . Die wesentlichen Sozialprogramme (die Null-Hunger-Kampagne und die Agrarreform) kommen wegen Haushaltsengpässen und bürokratischen Schwierigkeiten nicht voran, sind aber keineswegs gescheitert. Hier ist es für eine Auswertung zu früh. Enttäuschend hingegen ist, dass sich in Bereichen der Umwelt- und Energiepoltik keine für NGOs und soziale Bewegungen anknüpfungsfähige, Reformagenda entwickelt.

Aufgefangene Krisen
Viele Entscheidungen der Regierung waren für die Umweltbewegung innerhalb und außerhalb der PT nicht akzeptabel. Insbesondere die Freigabe der nächsten Ernte von genetisch verändertem Soja – nach langem Ringen am 25.9.2003 – hat eine schwere Krise provoziert und fast zum Rücktritt der Umweltministerin Marina da Silva geführt. Schon vorher hatte der (nicht zur PT gehörende) Wissenschaftsminster den Ausbau des brasilianschen Nuklearprogramms angekündigt, einschließlich der Option, das Atomkraftwerk Angra 3 zu bauen.
Bemerkenswert ist, dass diese Entscheidungen eine große öffentliche Resonanz hatten, verstärkt durch den Austritt des bekannten , ehemals grünen, Abgeordneten Fernando Gabeira aus der PT. Der so genannte „harte Kern der Regierung um José Dirceu (eine Art Kanzleramtsminster) hat sich daraufhin bemüht, Marina da Silva in der Regierung zu halten, und Zugeständnisse in Aussicht gestellt. Eine endgültige Regelung der Freigabe von Gensoja bleibt einem Gesetz für Biosicherheit vorbehalten. Zumindestens beim Entwurf, der zur Zeit im Parlament beraten wird, konnte sich Marina da Silva mit ihren Positionen zum Genehmigungsverfahren durchsetzten.
Enttäuschend ist ebenfalls, dass die neue Regierung wieder auf Großstaudämme setzen will. Während der umstrittene Bau des Staudamms am Xingu Fluss (Belo Monte) nicht in den Vierjahresplan aufgenommen worden ist, finden sich dort zwei Staudämme am Rio Madeira im Amazonasstaat Rondonia. Auch andere Großprojekte, wie die durchgehende Schiffbarmachung des Rio Paraná, tauchen in Regierungsplänen auf. Diese Pläne zeigen, dass die Regierung in ihrer Mehrheit einem traditionellen Entwicklungsmodell anhängt, in dem Umweltpolitik oder alternative Energien zwar vorkommen, aber keinen zentralen Stellenwert einnehmen. Bei aller Enttäuschung sieht die Mehrzahl der NGOs und sozialen Bewegungen im Umweltministerium einen Verbündeten innerhalb der Regierung. Ähnliches gilt für die Beziehung zwischen den sozialen Bewegungen (Landlose und Kleinbauerngewerkschaften) und dem Agrarreforminsterium.

Das Verhältnis Brasiliens zur USA…
Während die innenpolitische Bilanz also problematisch bleibt, hat die Regierung eine fast einhellige Unterstützung in ihrer Außenpolitik erfahren. Die harsche Ablehnung der Irak-Intervention, die höhere Priorität auf südamerikanische Integrationsprozesse (Mercosul, Verhandlungen mit den Andenländern), die vorsichtige (aus USA-Sicht sabotierende) Verhandlungsführung im ALCA-Prozess und die Rolle Brasiliens bei der Artikulierung der G-21 (+) in Cancún – haben sowohl linke wie populäre Unterstützung. Auf NGO-Seite haben nach Cancun allerdings auch differenzierende Diskussionen eingesetzt.

…und zur ALCA
Die brasilianische Position, sowohl in Cancún wie bei den ALCA-Verhandlungen macht jeden Fortschritt von Zugeständnissen der USA (und im Falle der WTO auch der EU) im Agrarbereich abhängig. Zugeständnisse heißt hier Marktöffnung und Subventionsabbau.
Die brasiliansche Position ist gut geeignet, die Scheinheiligkeit der Liberalisierungsvorschläge der dominierenden Blöcke aufzuweisen – und wird in dieser Hinsicht allgemein unterstützt. Allerdings werden von NGOs auch zunehmend Grenzen und Gefahren der brasilianischen Position gesehen: sie stützt ein Modell der Agrarexporte, das auf dem industrialisierten Anbau in Monokulturen basiert und über die Koppelung hinaus wenig eigene Vorstellungen und Vorschläge in den anderen Verhandlungen entwickelt hat. Damit besteht die Gefahr, dass diese strategischen Themen (zum Beispiel Investitionen, TRIPS) lediglich als Verhandlungsmünze zu Gunsten von Zugeständnissen im Agrarbereich ins Spiel kommen. Bei allen Versuchen, die ersten Monate der Regierung Lula zu bewerten, sollte nicht vergessen werden, dass die Unterstützung der Bevölkerung nach wie vor überwältigend ist. Nur 15 Prozent der Bevölkerung bewertete die Regierung am 15.12. mit „schlecht“, 42 Prozent gaben ihr die Note „gut“ oder „sehr gut“ und 40 Prozent entschieden sich für „normal“ (regular). Bei der Bevölkerung ist Lula immer noch beliebt und gilt als Hoffnungsträger – anders als bei vielen Intelektuellen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren