Literatur | Nummer 272 - Februar 1997

“Die Unmöglichkeit des Unmöglichen”

“Das Fahrrad des Leonardo da Vinci” von Paco Ignacio Taibo II – Ein Muß für alle Krimi-Fans mit hohen literarischen Ansprüchen.

Nach “Vier Hände” ist jetzt ein weiterer Roman des Mexikaners auf deutsch erschienen. Wiederum gelingt es PIT II, dem Mitbegründer der Internationalen Assoziation der Kriminalromanautoren (AIEP), dem Krimigenre das Stigma der Trivialliteratur zu nehmen.

Markus Müller

Was haben ein verwahrloster Krimiautor aus Mexiko-Stadt und ein spanischer Anarchist aus dem Barcelona der 20er Jahre gemeinsam, mal abgesehen davon, daß es sich bei dem zweiten um den Großvater des ersten handelt? Sie glauben beide fest an die “Unmöglichkeit des Unmöglichen”. Diese Maxime leitet sich jedoch nicht aus Ché Guevaras Gebot ab, realistisch zu sein und das Unmögliche zu fordern, wie man annehmen könnte. Daß nichts unmöglich ist, hat nämlich bereits “der große Magier” Leonardo da Vinci bewiesen. Wie sonst konnte er die Skizze eines Fahrrades anfertigen, 400 Jahre bevor das Fahrrad überhaupt erfunden wurde? Also macht der Anarchoterrorist Angel del Hierro, auch Schwarzer Engel genannt, die Skizze von Leonardos Fahrrad zu seiner Visitenkarte und heftet sie jedem seiner Opfer auf die Stirn. Das Foto mit der Skizze fällt als dessen einzige Hinterlassenschaft in die Hände seines Enkels, José Daniel Fierro, und offenbart sich diesem als Wegbereiter des Prinzips Hoffnung.
Dieses wird er auch benötigen, denn sein neuester Roman will ihm einfach nicht aus der Feder. Statt dessen frönt er einem kleinen und einem großen Laster: Er hört gerne Santana aus vollen Rohren und verlustiert sich gerne vor dem Fernseher an “Ami-Basketballerinnen”. Vor allem Karen Turner, die langbeinige Sommersprossige von den Texas Long Horns bringt in die “gefährliche Nähe eines Orgasmus”. Während er, völlig in seiner doch leicht perversen Leidenschaft gefangen, nur noch vor der Glotze hängt, mutiert seine Wohnung indessen zur Kloake. Als eines Nachmittags zwei Spielerinnen, unter anderem seine Karen nicht auf dem Spielfeld erscheinen, wird er mißtrauisch. Das nächste Spiel beginnt mit einer Schweigeminute und die Spielerinnen tragen Trauerbinden. Wenn er den US-amerikanischen Kommentator richtig verstanden hat, ist eine der fehlenden Spielerinnen tot. Aber was ist mit Karen Turner passiert?

Auf der Suche nach Karen

José Daniel läßt das Inferno seiner Wohnung hinter sich und macht sich auf die Suche. Eine Spur führt ihn in ein Krankenhaus von Cidudad Juárez, an die Grenze zu den USA, wo Karen Turner im Koma liegt. Fierro stellt Untersuchungen an. Wie sich herausstellt, hat man Karen entführt, betäubt und über die Grenze nach Mexiko gebracht, wo sie um eine Niere erleichtert wurde. Wer da wohl seine Finger im Spiel hat? Während wir LeserInnen schon etwas ahnen – Taibo hat bereits zu Beginn des Romans einen ziemlich skrupellosen CIA-Agenten mit einer noch offenen Rechnung aus den letzten Tagen des Vietnamkrieges eingeführt – tappt Fierro noch völlig im Dunkeln. Da er ohne Karens Aussage keine Erleuchtung bekommt, wacht er entweder am Bett der Frau seiner Begierde, oder schreibt an dem Buch über seinen Großvater, das auch wir LeserInnen nach und nach präsentiert bekommen. Er beschreibt uns plastisch die klassenkämpferischen Wirren im Barcelona nach dem 1. Weltkrieg, vor allem die blutigen Auseinandersetzungen zwischen dem anarchistischen Gewerkschaftsdachverband CNT und den pistoleros der Unternehmerverbände und der Weißen Gewerkschaften.
Als Karen schließlich aus ihrem Koma erwacht, klebt Leonardos Fahrrad an ihrem Nachttisch. Das Prinzip Hoffnung hat sich durchgesetzt. José Daniel und Karen führen die Ermittlungen weiter. Wozu das alles führt, soll hier natürlich noch nicht verraten werden…

Erzählerische Quantensprünge

Taibo ist ein Meister des Erzählens. In atemberaubenden Manövern springt er zwischen den Handlungssträngen hin und her und verlangt von der Leserschaft unerbittlich, daß sie ihm folge: Vom apokalyptischen Saigon in die Genialität sekretierenden Synapsen Leornados; vom blutdurchtränkten Barcelona der zwanziger Jahre in die trockene Wüstenhitze des mexikanischen Nordens; vom Roman in den ‘Roman im Roman’. Die “Unmöglichkeit des Unmöglichen” überträgt sich als Motiv auch auf das Spannungsverhältnis zwischen Realität und Fiktion. Kann die Fiktion die Wirklichkeit durchdringen, ja sogar zur gelebten Wirklichkeit werden, oder muß sie in ihrer Welt gefangen bleiben? Ob die Romanze mit Karen der Welt der Realität oder der Fiktion zuzurechnen ist, wird bis zum Schluß nicht geklärt.
Trotz aller erzählerischer Quantensprünge bleibt der Roman aber jederzeit lesbar. Die Welten sind durch Zwischentitel und die ihnen eigenen Protagonisten mit deren typischer Sprache klar gekennzeichnet. Vor allem an dieser Stelle machen sich allerdings die Mängel von Übersetzungen fremdsprachlicher Texte bemerkbar: Im spanischen Orginal ist die Trennung der Welten durch den Einsatz regional verschiedener Sprechstile, vor allem des mexikanischen bzw. des spanischen Spanisch, viel eindeutiger markiert.

Schwarzer Humor

Am meisten besticht Taibo in dem Roman jedoch durch seinen Humor, der bisweilen so schwarz ist, daß er noch im Kohlenkeller Schatten wirft und einem das Lachen (oder Weinen) im Halse stecken bleiben läßt. So erfährt man in einer Szene ganz beiläufig, wie ein Zeuge von Karens Entführung beim Polizeiverhör gefoltert wird: “Wärt ihr vielleicht so nett, dieses Eisen von meinen Eiern wegzunehmen? Und vielleicht hättet ihr dann auch noch die Güte, das Fenster zu schließen? Sonst frier ich mir hier nämlich noch den Schwanz ab. Eigentlich ist das doch alles nicht ganz normal, wenn man aus eigenem Willen aussagt.” Offensichtlich sind “unlautere” Verhörmethoden ureigenster Instinkt der mexikanischen Polizei. Folter scheint ihre “Funktionalität” verloren zu haben und zum puren Selbstzweck geworden zu sein.
Obwohl sich Taibos Hiebe häufig konkret gegen den mexikanischen Staat richten, wirken sie nie platt und polemisch sondern sind immer äußerst spitz und subtil, und für die LeserInnen außerhalb der mexikanischen Realität manchmal nicht leicht identifizierbar. Aber keine Angst, das Buch beinhaltet derer so viele, daß selbst wer nur die Hälfte der Anspielungen kapiert, den Mund vor Lachen (oder Weinen) trotzdem nicht mehr zubekommt.
Sein Humor erschöpft sich jedoch nicht in politischer Satire. Ganz im Gegenteil. Seine schnoddrige aber dennoch wortgewaltige Sprache bildet einen krassen Gegensatz zur Ernsthaftigkeit der Thematik. Mit diesem, zwar nicht neuen, aber dennoch sehr wirksamen Kunstgriff, wirken eigentlich tragische Situationen in hohem Maße grotesk, fast sogar absurd. Herrlich sind auch die ironischen Beschreibungen des Chaos in und um den Protagonisten José Daniel Fierro: “Das Brot sah grün aus. Er warf es in den Müll. (…) Ein betagter Salat sah ihn fragend an…”
Auch wenn Taibo selbst nicht “Das Fahrrad des Leonardo da Vinci” sondern seinen Roman “Vier Hände” (rezensiert in LN 264/265) für seinen besten hält, sind auch hier alle Zutaten für einen Lektüreleckerbissen beisammen: Eine ansprechende Themenwahl. Eine Fülle von Figuren, die keineswegs irgendwelchen Klischees entsprechen und mindestens so rätselhaft sind, wie die Story selbst. Ein Geflecht von Handlungssträngen in verschiedenen Zeiten und Erzählebenen, die am Ende ein Ganzes bilden sowie eine mitreißende und gleichzeitig bissige Sprache. Kurzum: ein Meisterwerk des Kriminalromans.

Paco Ignacio Taibo II: “Das Fahrrad des Leonardo da Vinci”, Roman, 239 S., Eisbär Verlag Berlin 1996, 25.-DM (ca. 13 Euro).

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