Film | Nummer 488 - Februar 2015

Die Verantwortung des ‚Ältesten Bruders‘

In Bankilal dokumentiert María Dolores Arias Martínez spirituelle Traditionen im Alltag einer Gemeinde im Hochland von Chiapas

Ina-Catrin Wehr

Der Dokumentarfilm Bankilal, wie der Titel in der indigenen Sprache Tsotsil heißt, porträtiert den ‚Ältesten Bruder‘ einer Gemeinde in Chenalhó im Hochland von Chiapas. Die erste Szene fokussiert einen älteren Mann in traditioneller Kleidung, der in das Haus seiner Nichte kommt und auf einem kleinen Hocker im Wohnraum Platz nimmt. Die Kameraführung ist statisch und lässt diese Szene unkommentiert wirken. Ohne weitere Moderation oder Einführungen baut sich die Thematik des Films rund um das Amt von Manuel Jiménez, dem Bankilal, langsam auf. Behutsam werden dabei auch andere Themen, wie die Mischung von Katholizismus und Animismus im Alltag der Menschen und die Veränderung der sozialen Strukturen, in den Vordergrund gerückt. Die Sprache der Gefilmten ist Tsotsil, der Film ist Englisch untertitelt. Die Zuschauer*innen müssen Manuel Jiménez aufmerksam zuhören, um seine Bedeutung und seinen Blick zu verstehen.

Im Verlauf der Dokumentation wird die soziale und religiöse Rolle des Bankilal deutlicher. Die Zuschauer*innen begleiten ihn in eine Kirche und hören ihn beten. Zusammen mit dem kleinen Sohn der Nichte bittet er Christus um die Gesundheit des Kindes und um die Gesundheit seines beschützenden Tieres. Der Boden der Kirche ist mit Kerzen bedeckt. Ein paar Limonadenflaschen und ein Huhn liegen als Opfergaben vor dem Altar. Durch die verschiedenen Symbole wird die synkretistische Mischung von alten spirituellen Traditionen und katholischem Glauben sichtbar.

Es ist ein ruhiger Film mit längeren Landschaftsaufnahmen, mit Aufnahmen der Leute vor Ort, auf dem Feld und im Wald bei der Arbeit. Dabei ist die Kamera stets ein starrer Beobachter, der sich nicht durch schnelle Schnitte in das Geschehen einmischt. Damit gelingt es der Regisseurin, den Blick unverstellt auf Alltagsmomente in der Gemeinde zu richten. Immer wieder ist darin eingebettet die religiöse Autorität des ‚Ältesten Bruders‘: Der Bankilal berät in einer Szene die neuen Dorfautoritäten, Paxonetik, über ihre Einweihungszeremonie. Er weiß, welche Gegenstände sie dafür benötigen, erklärt ihnen das Fastenritual und die Bedeutung der traditionellen Kleidung, die sie als Dorfautorität kenntlich macht. Dabei wird spürbar, wie wichtig es dem ‚Ältesten Bruder‘ ist, an den alten Bräuchen, Glaubensvorstellungen und Traditionen festzuhalten. Er kritisiert, dass viele ihre Traditionen bereits vergessen hätten und nicht mehr Tiere und Berge verehren, so wie er es tut und wie es Generationen vor ihm getan haben. Einhergehend mit neuen religiösen Prioritäten verändert sich auch das Amt des Bankilal: Seine Rolle scheint im Zuge des sozialen Wandels an Bedeutung zu verlieren. Der Schlusssatz von Manuel Jiménez verdeutlicht seine skeptische Haltung der Modernisierung gegenüber: „Es wird Zeichen geben, die das Ende unserer Tage ankündigen. Ich weiß nicht, ob wir in der Lage sein werden, sie zu sehen”.

Insbesondere kleine Details offenbaren in Bankilal die Vermischung von Tradition und Moderne und die kritische Haltung des ‚Ältesten Bruders‘. Diese Hinweise bleiben im Hintergrund und überlassen damit die Interpretation des Gezeigten den Zuschauer*innen. Wer sich mit der Region und den Menschen vor Ort beschäftigt hat, wird einen geschärften Blick haben und die Zusammenhänge klar erkennen können. Für Andere wird diese Dokumentation an manchen Stellen in ihrer zurückhaltenden Kameraführung unscharf bleiben. Der Regisseurin María Dolores Arias Martínez ist insgesamt ein unaufdringlich und sensibel erzähltes Porträt gelungen, das den Zuschauer*innen keine Intention aufzwingen möchte und den Porträtierten genug Raum für ihre eigene Stimme gibt.

Bankilal (Eldest Brother) // R: María Dolores Arias Martínez // 53 min // Mexiko 2014 // Sektion NATIVe

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