Kuba | Nummer 329 - November 2001

Die vergessenen Rocker

Eine Subkultur im Wandel der Zeiten

Die Rockmusik bietet vielen jugendlichen KubanerInnen eine Gelegenheit, ihr Lebensgefühl auszudrücken, das sich von dem der Älteren, vor der Revolution geborenen, stark unterscheidet. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern aus den 70er und 80er Jahren, die vor allem ausländische Musik kopierten, beziehen heutige rockeros traditionelle kubanische Musikelemente mit ein. In ihren Texten beschreiben sie kubanische Themen. Doch zur Verbreitung ihrer Musik fehlen den rockeros nicht nur die technischen und wirtschaftlichen Mittel, sondern auch der Zugang zu den Medien.

Andreas Knobloch

Ist von kubanischer Musik die Rede, werden damit im Allgemeinen afro-kubanische Rhythmen, wie Son, Salsa, Merengue, auch Trova, verbunden. Es überrascht, auf Kuba auch eine alternative Musikszene anzutreffen. Jugend- und Subkultur wurden bislang lediglich in Ansätzen untersucht; empirisches Material ist kaum vorhanden. Dabei lassen sich an dem scheinbaren Randphänomen Rockmusik nicht nur die Rolle von Kultur und Kunst im heutigen Kuba verdeutlichen, sondern auch die Veränderungen im politischen System und ein Wertewandel innerhalb der Jugend beschreiben.

Weg vom Recycling angelsächsischer Musik

Rockmusik in Kuba hat eine lange Tradition. Schon in den 60er Jahren gab es eine breite Rockbewegung auf Kuba, die sich aber vor allem durch das starke Recyceln angelsächsischer Musik und eine Antihaltung und Abgrenzung vom Staat kennzeichnete. Mit Zensur und Verboten belegt, war sie in den 70ern fast verschwunden und feierte erst in den 80ern ihre Wiederauferstehung, mit ersten Anzeichen der Konsolidierung zum Ende desselben Jahrzehnts. Die Bedingungen hatten sich aber nicht groß verändert. Bis in die späten 80er Jahre hinein bedeutete rockero (Rockmusiker) sein, lange Haare zu haben, auf englisch zu singen und sich mit der Entscheidung für Rockmusik seine künstlerische Zukunft verbaut zu haben. Bis auf wenige Ausnahmen gab es damals weder Rockproduktionen noch Konzerte, noch Radio- oder TV-Programme. Nichts schien dem Rock zu helfen, aus seiner Isolierung und Marginalisierung herauszukommen.
Doch spätestens seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Verbündeten in Osteuropa und der erzwungenen Öffnung für den Weltmarkt und den Tourismus änderte sich einiges. Im Jahr 1987 verband die Gruppe Síntesis erstmals Rockmusik mit kubanischer Perkussion und Gesang auf Yoruba, einer für die kubanische Kultur wichtigen westafrikanischen Sprache. Vielerorts wurde dies als die Geburtsstunde nationalen Rocks und wegweisend für den heutigen kubanischen Rock bezeichnet. Tatsächlich schälte sich als logische Folge der Öffnung in den folgenden Jahren eine große stilistische Bandbreite heraus. Über verschiedenste Kanäle gelangten nun Informationen über das, was außerhalb geschah, nach Kuba.
Ein weiteres einschneidendes Ereignis war 1994 – dem Jahr des Höhepunkts der ökonomischen Krise – das Rockkonzert Despertar Rockero im Teatro Carlos Marx in Havanna, einer der wichtigsten kulturellen Einrichtungen in Kuba. Erstmals war durch die Unterstützung staatlicher kultureller Institutionen Rockmusik einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Gleichzeitig wurde der Mythos vom mutmaßlich antisozialen Verhalten des Rockpublikums zerstört. Die Einstellung des Staates gegenüber der Rockmusik wandelte sich von Repression und Verteufelung in den 70ern und 80ern hin zu einer abwartenden Duldung oder gar vorsichtigen Unterstützung in den 90ern. In der Folge gab es nun auch eine Reihe von Konzerten, Festivals und Radiosendungen.

Schwarze Kleidung, Tatoos und Piercings

Rock in Kuba ist heute sicher nicht mehr so offen gegen das System gerichtet wie in den 70ern und 80ern, als die Szene größer, und die Repression stärker war. Damals wurden viele rockeros verhaftet und eingesperrt, und auf dem Weg zu Festivals gab es regelmäßig Reibereien mit der Staatsgewalt. Es passierte nicht selten, dass bei Bandproben oder Konzerten die Polizei auftauchte und den Veranstaltungen ein Ende bereitete. Heute ist die Haltung des Staates toleranter, die Szene aber auch weniger subversiv.
Es ist vor allem das Erscheinungsbild (die oftmals langen Haare, die überwiegend schwarze Kleidung sowie Tätowierungen und zunehmend auch Piercings), welches die NormalbürgerInnen abschreckte und die rockeros als asozial, dreckig, antirevolutionär oder kriminell erscheinen ließ.
Die Szene an sich ist recht klein und überschaubar und konzentriert sich vor allem auf die Hauptstadt Havanna und die Provinzhauptstädte. Dabei ist kurioserweise Metal als einzige Stilrichtung in allen Provinzen vertreten. Wenn hier von Rockmusik oder rockeros die Rede ist, bezieht sich das also vor allem auf die Metal-Szene, die, sowohl was Anzahl aber auch Erscheinungsbild angeht, die dominierende Gruppe unter den rockeros in Kuba darstellt.

Ökonomische und technische Hindernisse

Die vielfältigen Gründe für die Diskriminierung der Rockmusik sind zum einen in der Szene und ihrer Musik selbst, zum anderen aber auch bei den staatlichen Kulturbehörden zu suchen. Für die Popularisierung von Musik sind technische und wirtschaftliche Faktoren entscheidend, wie etwa die Verbreitung von Kassettenrecordern, Walkmen und Tonträgern, die individuelles und unkontrolliertes Hören erlauben, sowie die Existenz einer entsprechenden Kaufkraft und auch ein freier Markt, auf dem diese Güter entsprechend ihrer Nachfrage angeboten werden. Diese Voraussetzungen werden in Kuba jedoch nicht oder nur teilweise erfüllt. Außerdem fehlen als Folge des allgemeinen Mangels während der período especial, der Periode nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Verbündeten, auch die technischen Voraussetzungen für Musikproduktionen und Konzerte; Instrumente, Verstärker und sonstiges Zubehör sind teuer und nur sehr schwer zu beschaffen. Hinzu kommen – wer schon mal in Kuba war, wird es wissen – Transportprobleme.
Die kubanische Kulturbehörde Associación Hermanos Saiz (AHS), in der fast alle MusikerInnen organisiert sind, versucht jedoch trotz aller Schwierigkeiten, Konzerte und Festivals auf die Beine zu stellen. So gibt es mit ihrer Unterstützung jedes Jahr eine Reihe von Rockveranstaltungen in den verschiedenen Provinzen, die aber immer wieder mit den erwähnten Problemen zu kämpfen haben und deshalb oft ausfallen.
Ebenso fehlt eine Werbeagentur, Musikläden oder Parallelmedien wie etwa Video-Clips. Staatliche Produktionen sind im Bereich Rock minimal und beschränken sich weitgehend auf Pop-Rock. Deshalb wird versucht, vor allem auf privater Ebene über Kontakte mit TouristInnen oder ausländischen MusikerInnen den internationalen Austausch zu fördern. Ausländische Bands wie zum Beispiel „Die Toten Hosen“ haben schon in Kuba gespielt, während andererseits verschiedene kubanische Rockbands bereits Auftritte im Ausland hatten.
Rock cubano ist zwar immer noch im Werden begriffen und auf der Suche nach eigenen Ausdrucksformen. Eine enge Verbundenheit unter den rockeros und eine große stilistische Bandbreite kennzeichnen ihn ebenso wie die Versuche sich zum internationalen Markt hin zu öffnen, und zunehmend auch Rock mit Elementen traditioneller kubanischer Musik zu verbinden.

Rockmusik und sozialer Wandel

Die mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten zusammenhängende Einführung der período especial hat neben dem ökonomischen auch einen sozialen Wandel in Gang gesetzt, der die Entstehung neuer Eliten und eine soziale Differenzierung hervorgerufen und begünstigt hat. Der musikalische Wandel mit dem Eindringen der Rockmusik in die kubanische Jugendkultur ist wichtiger Ausdruck dieses gesellschaftlichen Veränderungsprozesses. Einheitliche, Generationen- oder Schichten übergreifende Wertvorstellungen beginnen sich aufzulösen; für den Zusammenhalt der Gesellschaft positive Werte verlieren ihre Wirkung zugunsten individualistischer, wettbewerbsorientierter Wertvorstellungen. Dies betrifft insbesondere die Jugend sowie die städtische Bevölkerung. Eine wichtige Rolle spielen dabei die zur Zeit entstehende Privatwirtschaft und vor allem die Dollarisierung. Es ist zu beobachten, dass mit zunehmender Individualisierung und dem Aufkommen von Einkommens- und damit sozialen Unterschieden auch in der Metal-Szene der starke Zusammenhalt und die Solidarität untereinander zu bröckeln beginnen.

Eher Musiker als Rebellen

Die mit der Dollarisierung zunehmenden sozialen Ungleichheiten, die von den TouristInnen vorgelebte, scheinbar sorglose, bessere Welt, haben den Wunsch nach einem materiell besseren Leben geweckt, wie es viele zum Teil vor der Spezialperiode kannten. Aber viele wissen auch, mit Blick auf Russland, dass politische Veränderungen nicht automatisch eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bedeuten. Im Mittelpunkt des Interesses der rockeros steht deshalb die eigene ökonomische Situation. Im Gegensatz zu vielen westlichen Bands singen kubanische Metalbands jedoch nicht nur über Tod und Hölle, sondern beispielsweise über ihre Situation als BürgerInnen eines Landes der Dritten Welt, über die Perspektivlosigkeit oder soziale und mit der Dollarisierung zusammenhängende Probleme; aber auch kubanisches Selbstbewusstsein, das selbstherrliche Auftreten von TouristInnen, Prostitution und der Traum vom materiellen Wohlstand werden thematisiert. Der Anspruch ist kein politischer, die Wirkung aber durchaus, allein durch die Beschreibung von Realitäten ebenso wie durch die Ablehnung aller Konventionen und Normen, die von der Gesellschaft aufgedrückt werden. Es ist eine Protesthaltung gegen den Staat, nicht unbedingt gegen die Ideen, die er vertritt, sondern gegen deren Umsetzung. Viele rockeros sind Anhänger Che Guevaras, und im Gegensatz zu vielen Jugendlichen in Europa, die mit Che-T-Shirts herumlaufen, auch mit seinen Ideen vertraut. Dennoch sind sie heute weniger Rebellen denn Musiker. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern gibt es in Kuba beispielsweise auch keine explizit politische Hardcore- oder Punkszene.

Toleriertes Ventil und privater Freiraum

Allerdings ist die Öffentlichkeitswirkung von Rockmusik weiterhin eher gering, was an der fehlenden Medienpräsenz liegt. Der Staat gewährt jedoch den rockeros zunehmend einige Freiräume, da man erkannt hat, dass die Musik ein Ventil ist, an dem die Jugend ihre aufgestaute Wut, Aggression, aber zum Teil auch Perspektivlosigkeit herauslassen kann. Solange sie bestimmte, von der Partei gesetzte Grenzen und Sensibilitäten nicht verletzt, wird sie deshalb geduldet. Aber trotz der Tolerierung ist sie auch immer wieder der Gefahr von Verboten und Eingriffen der Zensur ausgesetzt, wenn auch nur zum Teil, da sie sich überwiegend im Untergrund abspielt und nur äußerst selten öffentlich in Erscheinung tritt. Der gesellschaftliche Einfluss dieser Musik beschränkt sich jedoch auf die Städte, wo das Lebensgefühl der Jugendlichen getroffen wird, sowie die Touristenzentren, wo gesellschaftliche Unterschiede, die Diskrepanz zwischen der Lebenswelt der KubanerInnen und derjenigen der AusländerInnen, am ehesten aufeinanderprallen. Der Einfluss beschränkt sich aber auch hier auf die Kreise, die Zugang zu Konzerten beziehungsweise den von Hand zu Hand verbreiteten Musikkassetten haben.
Als Subkultur stellt Rockmusik vor allem eine Nische in der sozialistischen Gesellschaft dar. Sie dient als Rückzugsgebiet und privater Freiraum, auf den der sonst in fast alle Lebensbereiche eindringende Staat keinen oder nur begrenzten Zugriff hat. Der Zusammenhalt innerhalb der Szene macht das (Über-)Leben in ökonomisch schwierigen Zeiten einfacher und wird entsprechend betont.

Implizite politische Botschaften

Die Szene ist in dreifacher Hinsicht implizit politisch. Zuerst einmal allein durch die Tatsache ihrer Präsenz, durch die Verkörperung eines alternativen Lebenskonzepts mit zum Teil neuen (westlichen) Wertvorstellungen; zum zweiten durch bewusste und unbewusste Normbrüche wie beispielsweise ihr äußeres Erscheinungsbild, sowie drittens durch die Beschreibung von Realitäten in den Liedtexten, die indirekt die derzeitige wirtschaftliche, aber auch politische Lage anprangern. Rockmusik ist in Kuba einerseits Ausdruck des durch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche stattfindenden Wertewandels, wirkt aber gleichzeitig auf die Gesellschaft zurück.
Leider gibt es bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu kubanischer Jugendkultur, weshalb die Analyse des Generationenkonflikts und die Rolle der Jugend für die Zukunft zu den Hauptaufgaben der kubanischen Sozialwissenschaften gehören wird. Dabei gilt es, nach neuen Partizipationsmöglichkeiten zu suchen, um es den Jugendlichen zu ermöglichen, ihr Lebensgefühl auszudrücken.

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