Brasilien | Nummer 449 - November 2011

Die Wahrheit wird offiziell

Interview mit dem brasilianischen Menschenrechtsaktivisten Carlos Zanetti

Im Gegensatz zu Argentinien oder Chile sind die brasilianische Militärdiktatur und das von 1964 bis 1985 begangene Unrecht, Hinrichtungen und Folter bisher staatlicherseits kaum aufgearbeitet worden (siehe auch LN 445/446). Dies könnte sich jetzt ändern: Nach monatelangen Verhandlungen beschloss die Abgeordnetenkammer des brasilianischen Parlaments am 21. September 2011 die Einrichtung einer Nationalen Wahrheitskommission. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter wird die Kommission jedoch nicht einleiten. Denn das Amnestiegesetz von 1979, das Militärs wie Oppositionellen gleichermaßen Straffreiheit garantierte, gilt bis heute. Warum die Wahrheitskommission trotzdem von der Menschenrechtsbewegung in Brasilien begrüßt wird, darüber sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit dem Menschenrechtsverteidiger José Carlos Zanetti.

Interview: Claudia Fix

Herr Zanetti, sind Sie als ehemaliger politischer Gefangener und Menschenrechtsaktivist mit der Entscheidung zufrieden, eine Nationale Wahrheitskommission einzurichten, die keine Möglichkeiten der Strafverfolgung besitzt?
Die beschränkten Möglichkeiten der Kommission sind mir bewusst, dennoch begrüße ich ihre Einsetzung. Auch das Amnestiegesetz von 1979 wurde als unvollständig kritisiert. Aber es erlaubte die Gründung von Parteien, die Rückkehr der Exilierten, und heute haben wir eine Mitte-Links- Regierung die demokratisch gewählt wurde. Wenn wir das Amnestiegesetz damals nicht gehabt hätten, wäre die Redemokratisierung nicht vorangekommen.
Ich sehe die Arbeit der Nationalen Wahrheitskommission als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses, als die vierte Etappe der Redemokratisierung Brasiliens. Die erste Etappe war das Amnestiegesetz von 1979, die zweite das Gesetz über die ermordeten und verschwundenen politischen Gefangenen von 1995 und die dritte das Gesetz, das 2001 die Amnestie-Kommission ins Leben rief. Und ich glaube, dass die vierte nicht die letzte Etappe sein wird.

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der Arbeit der Kommission?
Die Wahrheitskommission ist kein großes gesellschaftliches Thema. Es ist eine Minderheit, die sich dafür interessiert. Deshalb gibt es im Moment auch keine Mehrheit für das, was wir als Menschenrechtsaktivisten alle wollen, nämlich die Verbrechen der Vergangenheit endlich aufzuklären.
Aber vielleicht gewinnen wir über die Wahrheitskommission genug Kraft für die nächste Etappe, also die Bestrafung der Verantwortlichen für Unrecht, Mord und Folter. Deshalb ist es besser, die Kommission mit ihren beschränkten Möglichkeiten jetzt zu installieren, anstatt ein perfektes Gesetz zu schaffen, das keine Unterstützung im Parlament hat. Außerdem eröffnet die Kommission sehr wohl juristische Möglichkeiten.

Welche Möglichkeiten sind das? Das Amnestiegesetz von 1979 ist doch weiterhin gültig.
Die Kommission wird neue Dokumente und Berichte von Augenzeugen veröffentlichen, die mehr Licht in das bringen werden, was passiert ist. Die neuen Fakten ermöglichen es den Angehörigen der politischen Gefangenen, Zivilprozesse gegen die Verantwortlichen anzustrengen.

Wann wird die Kommission eingesetzt und wie wird sie arbeiten?
Ich erwarte, dass das verabschiedete Gesetz ohne große Veränderungen schnell durch den Senat geht. Anschließend beruft Präsidentin Dilma Rousseff sieben Persönlichkeiten mit viel Erfahrung in die Kommission.
Die Wahrheitskommission wird Zugang zu allen Archiven und Quellen erhalten. Erst kürzlich wurden tausende von Dokumenten, die die Opposition gesammelt und im Ausland in Sicherheit gebracht hatte, nach Brasilien zurückgeführt. Brasil Nunca Mais Digital wird ein neues beeindruckendes Archiv werden.
Vor allem wird die Wahrheitskommission mit allen anderen Kommissionen zusammenarbeiten und Zugang zu offiziellen und privaten Dokumenten des Militärs, zu den Archiven der einzelnen Bundesstaaten und der Forschungszentren haben.

In der brasilianischen Öffentlichkeit wird die Kommission bereits als „Halbwahrheits-Kommission“ kritisiert – wie beurteilen Sie das?
In der Tat, schon jetzt haben sich zahlreiche Mythen um die Kommissionsarbeit gebildet, bevor sie überhaupt begonnen hat: sie habe zu wenige Mitglieder, zu wenig Zeit, könne keine Zeugen vernehmen, habe kein Geld und so weiter. Dazu ist zu sagen, dass die Zahl der Kommissionsmitglieder nicht sehr von der anderer lateinamerikanischer Länder abweicht. Alle sieben werden persönliche Assistenten haben, so dass sich die Arbeit auf 14 voll bezahlte Mitarbeiter verteilt. In Chile waren es acht Kommissionsmitglieder, in Argentinien 13. Die Kommission wird über ein eigenes Budget aus dem Präsidialamt verfügen. Die Wahrheitskommission kann auch Zeugen vorladen, sie muss sich nicht auf Einladungen beschränken. Und wenn zwei Jahre nicht ausreichen, kann das Parlament das Mandat auch verlängern.

Welche Auswirkungen erwarten Sie auf die Geschichtsschreibung und die öffentliche Meinung?
Die Wahrheitskommission wird eine andere Version der brasilianischen Geschichte zur offiziellen Version machen. Bis heute lehren militärische Institutionen und Militärakademien eine sehr verdrehte Version der Geschichte, in der der Militärputsch wie eine demokratische Revolution erscheint. Jetzt wird die Wahrheit endlich offiziell anerkannt werden.

Verknüpfen Sie auch persönliche Hoffnungen nach Aufklärung mit der Arbeit der Wahrheitskommission?
Ich habe meine Folterer nie zu Gesicht bekommen, sie haben meine Sicht auf sie immer blockiert. Ich kenne nur die ranghöheren Verantwortlichen. Ich suche aber keine Rache oder hege revanchistische Gefühle.
Was mir am Herzen liegt, sind die vielen Familien, die immer noch nicht wissen, was mit ihren Söhnen, Brüdern, Angehörigen passiert ist. Die Wahrheitskommission ist eine Chance, dass ihre Wunden endlich heilen können.
Außerdem ist es so, dass die Folter immer noch bei „normalen“ Strafgefangenen angewendet wird, sie ist Teil unserer Strafkultur und auch dies wollen wir über die Kommission verändern.„Esclareça, para nunca mais aconteça“ – „Aufklären, damit es niemals wieder geschieht“, das ist unser Motto.

José Carlos Zanetti
war während der Militärdiktatur Aktivist der Ação Popular und wurde 1971 verhaftet. In der Militärkaserne Barbalho in Bahia wurde er mehrere Tage lang gefoltert und verbrachte anschließend fünf Monate in Einzelhaft. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt und verlor alle politischen Rechte für zehn Jahre.
Zanetti ist in der brasilanischen Menschenrechtsbewegung aktiv und Mitglied des Komittees zur Einrichtung der Wahrheitskommission in Bahia. Als Projektreferent der CESE, einem brasilianischen Fonds zur Förderung von Kleinprojekten, ist er für Menschenrechts- und Umweltprojekte zuständig.

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