Film | Nummer 428 - Februar 2010

Die weiße Welt der Langeweile

Der Spielfilm Zona Sur porträtiert das Leben einer bolivianischen Oberschichtsfamilie

Olga Burkert

Andrés breitet seine Flügel aus und fliegt. Dabei verlässt er jedoch nie sein Viertel in La Paz‘ wohlhabendem Süden und auch nicht die Mauern des Grundstücks seiner Familie. Der große Garten, der das riesige Haus umgibt, bietet genügend Platz für die Tagträumereien eines kleinen Jungen. Andrés (Nicolás Fernández) bewegt sich wie auf Samtpfoten einer kleinen Katze durch diese Welt. Er beobachtet seine Umgebung aus großen Kulleraugen und ist der einzige, der – unbeeindruckt von all dem Luxus und Wohlstand um ihn herum – seinen Mitmenschen wirkliches Interesse entgegen bringt.
Zona Sur, der dritte Film des bolivianischen Filmemachers Juan Carlos Valdivia, der auf der diesjährigen 60. Berlinale in der Sektion Panorama zu sehen sein wird, spielt fast vollständig im Haus von Andrés‘ Familie. Genauso oft wie die ProtagonistInnen ist die luxuriöse Einrichtung zu sehen: Perfekt komponierte Badezimmer oder frisch geschnittene, blütenweiße Callas, die in jeder Ecke des Hauses stehen. Die Kamera führt die ZuschauerInnen fast ausschließlich in 360-Grad-Schwenks durch die einzelnen Räume. Dadurch wird das Gefühl verstärkt, man bewege sich beim Zugucken langsam durch das Haus. Schwindelig vor so vielen blütenweißen Details, hat man schlussendlich das Gefühl, das Haus selbst sei der Protagonist des Films. Andrés möchte am liebsten so sein wie Wilson (Pascual Loayza), der indigene Hausangestellte der Familie. Denn der kocht wie ein Chef und darf Andrés Mutter Carola (Ninon Del Castillo) beim Ankleiden und eincremen helfen. Wenn Wilson und Marcelina (Viviana Candoni), die andere Bedienstete im Haus, auf Aymara miteinander sprechen, will Andrés immer ganz genau wissen, was sie gesagt haben und mag es überhaupt nicht, wenn die beiden Indígenas ihn „den weißen Jungen“ nennen.
Der Rest der Familie begegnet den beiden Hausangestellten im typischen Habitus einer lateinamerikanischen Oberschichtsfamilie: Eine Mischung aus Selbstverständlichkeit, bedient zu werden, und herablassendem Vertrauen zu jemandem, der immer schon da war. Am deutlichsten wird dieses ambivalente Verhältnis bei Carola. Der feinfühlige Aymara Wilson ist für die allein erziehende Mutter einerseits so etwas wie der Ehemannersatz; nicht mal auf die Toilette geht sie allein. Im nächsten Moment besteht sie herrisch auf den für sie naturgegebenen Grenzen zwischen indigener Bevölkerung und weißer Oberschicht.
Die schlanke, fast immer in weiß gekleidete, alles und jeden kontrollierende Carola ist der Nabel der Familie, um den sich alles dreht. Ihr ältester Sohn Patricio (Juan Pablo Koria) vergöttert seine Mutter und hat sich passenderweise eine bildhübsche Freundin mit gleichem Namen gesucht. „Ich mag Frauen, die wie meine Mutter aussehen. Warum es verändern, wenn etwas gut ist?“, so seine Lebensphilosophie. Die meiste Zeit seines (Film)Lebens verbringt er mit Carolina (Luisa de Urioste) im Bett.
Nur die Tochter Bernarda, die von der Theaterschauspielerin Mariana Vargas gespielt wird, fällt etwas aus der Rolle. Die Jugendliche zieht gerne mit Hut und Krawatte um die Häuser, außerdem liebt sie ihre Freundin Erika mehr als nur schwesterlich. Carola treibt beides gleichermaßen zur Weißglut: der unweibliche Kleidungsstil ihrer Tochter und deren offensichtlich „unschickliche“ Beziehung zu Erika. Bernarda stellt die Engstirnigkeit und den Rassismus, die in ihrer Gesellschaftsschicht üblich sind, in Frage. Ihre Rebellion gegen die Mutter scheint aber eher aus Langeweile geboren zu sein. Fernab der Worte, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihr gemütliches Nest zu verlassen.
Außer den Besuchen von Bernardas und Patricios reichen OberschichtsfreundInnen hat die Außenwelt nur selten Eingang in das Haus. Das „andere Bolivien“ und der Rest der Gesellschaft kommen in ihrer weißen Welt des Wohlstands und der Langeweile schlicht nicht vor. Luxusproblem reiht sich hier an Luxusproblem. Die nicht sehr ausgefeilten, einander ähnelnden Dialoge und Streits machen den Film zusätzlich langweilig und langatmig.
Nach und nach jedoch werden einige Risse in der glatten Oberfläche deutlich. Es sind vor allem zwei Szenen, die vage den bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Wandel andeuten, den Bolivien in den letzten Jahren erlebt. In der einen bricht Wilson aus seinem servilen Verhältnis zu Carola aus. Es ist der einzige Teil des Films, der außerhalb des Hauses spielt. Bezeichnenderweise ist es Andrés, der sich in Wilsons Auto versteckt und ihn auf dem Ausflug in die „reale Welt“ begleitet.
In der anderen Szene droht Carola das Haus ausgerechnet an die Frau zu verlieren, der sie in ihrer rassistischen Gedankenwelt als einzige Indigene den Rang „einer Frau von Klasse“ zugesteht. Es sind diese Momente in Zona Sur, in denen deutlich wird, dass auch die traditionelle Elite Boliviens, die es seit jeher gewohnt war, alle Privilegien zu besitzen, die jüngsten Veränderungen und das erstarkte Selbstbewusstsein der indigenen Mehrheitsgesellschaft nicht mehr ignorieren kann.

Zona Sur // Spielfilm von Juan Carlos Valdivia // Bolivien 2009 // 109 min. // Spanisch & Aymara, engl. UT // Berlinale Sektion Panorama

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