Mexiko | Nummer 487 - Januar 2015

Die Wut der Straße

Die anhaltenden Massendemonstrationen nach dem Verschwinden der 43 Studenten wenden sich gegen das gesamte politische System Mexikos

Auch knapp drei Monate nach der Verschleppung von 43 Studenten durch die Polizei bleibt deren Schicksal unaufgeklärt. Im ganzen Land kommt es weiterhin zu massiven Protesten gegen die Regierung und die staatlichen Institutionen. Präsident Peña Nietos 10-Punkte-Plan als Reaktion auf die tiefste Staatskrise seit Jahrzehnten stößt weithin auf Ablehnung.

Börries Nehe

„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17… ”. Die nicht enden wollende Zahlenreihe schallt über den abendlichen Zócalo in Mexiko-Stadt, mit jeder Nummer stimmen mehr Menschen in den Sprechchor ein. Zehntausende drängen sich auf dem riesigen Platz zwischen der Kathedrale, dem Nationalpalast und dem Rathaus, Hunderttausende in den umliegenden Straßen. „18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28. 29, 30, 31…“. Papierne Himmelslaternen steigen auf und erhellen für kurze Zeit die Umstehenden, vor dem Nationalpalast explodieren Böller und Raketen, zwischen improvisierten Konzerten, Theaterperformances, und spontanen Sit-ins ergießt der schier endlose Demonstrationszug sich weiter über den Platz. „32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43… ¡Justicia! ¡Justicia! ¡Justicia!“
Jede dieser Zahlen steht für einen der 43 von mexikanischen Polizisten und Mafiamitgliedern entführten Studenten der pädagogischen Fachhochschule Ayotzinapa, für den die Menge Gerechtigkeit fordert. Am 26. September wurde eine Gruppe von Lehramtsstudenten in der im Bundesstaat Guerrero gelegenen Stadt Iguala brutal attackiert. Bei dem Angriff und darauf folgenden Tötungsaktionen starben sechs Menschen, dem 22-jährigen Studenten und Familienvater Julio César Mondragón wurde vor seiner Hinrichtung die Gesichtshaut abgezogen (LN 485 und 486). Die Überlebenden wurden verschleppt, ihr Schicksal hat seitdem Woche für Woche mehr Menschen dazu bewegt, auf die Straße zu gehen. In den ersten Wochen waren diese Proteste zumindest in Mexiko-Stadt und anderen großen Städten noch stark studentisch geprägt. Den Eltern und Mitschülern der Verschwundenen sowie den Studierenden der großen Universitäten ist es zu verdanken, dass der mexikanische Staat dieses Verbrechen nicht, wie andere zuvor, hat vertuschen können. Auf den bisher größten Demonstrationen am 20. November, bei denen allein in der Hauptstadt etwa eine halbe Millionen Teilnehmer*innen marschierten, trat jedoch offen zu Tage, dass die Proteste mittlerweile von ganz verschiedenen Sektoren getragen werden.
Gewerkschafter*innen und LGBT-Aktivist*innen, progressive Katholik*innen neben Künstlerkollektiven und Studierenden, Unterstützungsgruppen der Zapatistas und eine nicht eben kleine Vereinigung von weißgekleideten Kundalini-Yoga-Anhänger*innen, dazwischen Tausende, die alleine, mit ihrer Familie oder anderen Menschen aus ihrem engsten Umfeld gekommen sind: Insbesondere in Mexiko, wo politische Mobilisierung traditionell zumeist über bestehende zivilgesellschaftliche oder parteipolitische Strukturen funktioniert, ist diese Zusammensetzung der Proteste ein Novum. Zum einen zeugt sie davon, dass sich eine häufig als sehr persönlich wahrgenommene Betroffenheit und Unzufriedenheit ihren Weg in den kollektiven öffentlichen Raum gebahnt hat: die Angst, die Wut, aber auch etwaige Lösungsansätze, die bislang systematisch individualisiert wurden, werden von mehr und mehr Menschen als gesellschaftliche, politische Probleme verstanden. Zum anderen stellt die Heterogenität der Bewegung, die bisher kein Akteur für sich in Beschlag nehmen konnte, sowohl ihre große Stärke dar, als auch eine ihrer größten Schwierigkeiten.
Jahrzehnte neoliberaler Umstrukturierung und polizeilich-militärischer Repression haben die mexikanische Gesellschaft in vieler Hinsicht fragmentiert. Es ist kein Zufall, dass die Antworten auf die andauernde, vom mexikanischen Staat und den Kartellen ausgehende Gewalt stets lokaler oder regionaler Natur waren – von der „Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ um den Dichter Javier Sicilia einmal abgesehen. Die Forderung „Wir wollen sie lebend zurück!“ hat nun über Monate hinweg eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner hergestellt. Über diesen konnten sich sehr verschiedene politische Projekte zumindest punktuell artikulieren. An der Frage, wie es weiter gehen soll, entzweien sich jedoch schnell die Geister – und das nicht zuletzt, weil es im Allgemeinen ein klares Bekenntnis zur Pluralität der Bewegung und zur Notwendigkeit des Dialogs zwischen Verschiedenen gibt. Selten hat der zapatistische Traum einer „Welt, in die viele Welten passen“ einen so konkreten Ausdruck bis in die gesellschaftliche Mitte hinein gefunden.
Auch in anderer Hinsicht fühlt man sich an die Hochzeiten der zapatistischen Bewegung erinnert: die Institutionen und Repräsentant*innen des Staates nämlich werden von diesem Dialog bisher radikal ausgeschlossen. Das ist nicht nur eine Lehre aus dem Scheitern der Bewegung von Javier Sicilia, der sich völlig überstürzt auf Verhandlungen mit den Vertreter*innen des Staates einließ und so rasch seine Legitimität verspielte. Vielmehr leben die derzeitigen Mobilisierungen von der kollektiv erstellten Diagnose, dass Mexikos politisches System als solches von Grund auf verfault ist, weswegen Appelle an die Herrschenden oder Verhandlungen mit ihnen keine politische Option sind. Diese Einsicht kommt in den zentralen Slogans wie „Fue el Estado“ („Es war der Staat“, bezogen auf das Verbrechen an den Studenten) oder „Que se vayan todos“ („Sie – die Politiker*innen – sollen sich alle zum Teufel scheren“) überdeutlich zum Ausdruck.
Das Verbrechen an den Studenten aus Ayotzinapa wird nunmehr als ein weiterer, wenn auch besonders abscheulicher Moment in einer langen Serie von Staatsverbrechen, staatlichem Versagen und Korruption wahrgenommen. Immer wieder wird auf den Demonstrationen an die vom Staat oder parastaatlichen Akteuren verübten Massaker erinnert: am 2. Oktober 1968 erschoss das mexikanische Militär Hunderte Student*innen; im Juni 1995 ermordeten Polizisten in Guerrero 17 Bauern; 1997, zwei Tage vor Weihnachten, eröffneten Paramilitärs in Acteal das Feuer auf Mitglieder der indigenen Organisation Las Abejas und töteten 45 Menschen; und gerade einmal zweieinhalb Monate vor den Vorkommnissen in Iguala massakrierte das Militär 22 junge Menschen im Bundesstaat Mexiko, ohne dass dieses Ereignis nennenswerte Aufmerksamkeit erhalten hätte.
Auch die parallel zu den großen, zentralen Demonstrationen stattfindenden Kämpfe im Bundesstaat Guerrero stellen eine Antwort auf die Gewalt und die hermetische Abgeschlossenheit des mexikanischen Staates gegenüber der Bevölkerungsmehrheit dar. Die politische Analystin Raquel Gutiérrez erklärt, dass die dortigen, vor allem von Lehrergewerkschaften vorangetriebenen Mobilisierungen „gewisse Charakteristika der historischen Bauernkämpfe Mexikos aufweisen: In etwa 20 Munizipien rund um Ayotzinapa, im Bergland Guerreros, und bis zur Region der Costa Chica, die am Pazifik endet, wurden die politischen Autoritäten entmachtet und damit begonnen, andere Regierungsstrukturen aufzubauen. Es geht dabei darum, autonome politische Entscheidungen treffen zu können. Also um den Aufbau von politischen Mechanismen, die nicht der perversen Logik des Neoliberalismus mexikanischer Prägung unterworfen sind“. Für Aufsehen auf nationaler Ebene sorgten bisher aber vor allem die zentralen Proteste in Acapulco oder Chilpancingo, während derer die Demonstrant*innen unter anderem den Kongress von Guerrero, die Büros der Staatsanwaltschaft sowie diverser politischen Parteien attackierten und niederbrannten.
Im Zentrum der derzeitigen Krise stehen allerdings fraglos die Repräsentanten der Bundesregierung. Nachdem die Pressekonferenz, auf der der Bundesstaatsanwalt Murillo Karam die Ergebnisse seiner bisherigen Ermittlungsarbeit vorstellte, zu massiven Protesten geführt hatte (siehe LN 486), gewann seine Version in den letzten Tagen an Aufwind. Karam hatte behauptet, die Studenten seien von Polizisten an die Mafiagruppe „Guerreros Unidos“ übergeben worden, welche sie dann ermordet, verbrannt und ihre Asche schließlich in einen Fluss geschüttet hätte. Die mit der Untersuchung der im Fluss gefundenen Reste beauftragte Medizinische Universität Innsbruck hat nun bekannt gegeben, dass sie Knochenteile sowie einen Backenzahn eines der verschwundenen Studenten, Alexander Mora, identifizieren konnte. Allerdings stellten die argentinischen Forensiker*innen, welche das Vertrauen der Familien der Verschwundenen genießen, klar, dass sie beim Fund der Reste nicht anwesend waren. Die Familien unterstreichen außerdem, dass die Identifizierung von Alexander Mora nicht bedeutet, dass Murillos Version der Wahrheit entspricht.
Die Reaktionen auf die Verlautbarungen der Regierungsmitglieder sind, ebenso wie die Attacken auf öffentliche Gebäude, Anzeichen einer allgemeinen Diskreditierung der politischen Klasse die, zumindest unter den Protestierenden, total ist: Als sich Cuahtémoc Cárdenas, Gründervater, dreimaliger Präsidentschaftskandidat und „moralische Autorität“ der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) auf einer der ersten Demonstrationen blicken ließ wurde er von einer aufgebrachten Menge unsanft davon gejagt. Noch bis 2006, als sie erstmals mit Andrés Manuel López Obrador als Präsidentschaftskandidaten antrat, galt die als linksliberal gehandelte Partei vielen als Hoffnungsträger. Nach Jahren des Verfalls scheint die PRD, der sowohl der mittlerweile abgetretene Gouverneur von Guerrero als auch der als Hauptverantwortliche für das Verbrechen an den Studenten geltende Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau angehören, endgültig am Ende zu sein. Auf nationaler Ebene verspielte sie ihre Glaubwürdigkeit unter anderem damit, Teil des parteiübergreifenden „Paktes für Mexiko“ zu werden. Mit dessen Hilfe verwirklichte der Präsident Enrique Peña Nieto sein heftig kritisiertes Reformpaket, das auch die Teilprivatisierung der Erdölindustrie umfasst. Die Rolle der PRD in Guerrero zeigt zudem in aller Deutlichkeit, dass die Partei, genau so wie ihre Konkurrentinnen, auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene vor allem ein Instrument in der Hand von antidemokratischen Akteuren darstellt, mit dem diese Positionen im Staatsapparat besetzen – je näher sie den Drogenkartellen dabei stehen, desto besser. In den letzten Novembertagen zog Cárdenas die persönliche Notbremse und gab seinen Austritt aus der Partei bekannt. Selbst hochrangige PRD-Mitglieder erklärten die Partei daraufhin für moribund und dachten laut darüber nach, es ihm gleich zu tun.
Auf parteipolitischer Ebene könnte damit einzig die vom aus der PRD geschassten López Obrador gegründete Bewegung der Nationalen Erneuerung (MORENA) Kapital aus den Protesten schlagen. Doch entgegen den abenteuerlichen Beteuerungen aus dem Dunstkreis der regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), dass ihr Erzfeind López Obrador für die Demonstrationen verantwortlich sei, hält MORENA sich auf den großen Demonstrationen auffällig im Hintergrund – wohl nicht zuletzt, weil mit dem ehemaligen Gesundheitsminister von Guerrero auch einer der ihren aufgrund der Kontakte zu den Hauptverdächtigen zurücktreten musste. Eine Kanalisierung des kollektiven Unmuts in bestehenden Parteistrukturen ist zu diesem Zeitpunkt also nicht absehbar. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: bemüht, die Schuld an der allgemeinen Misere auf ihre jeweiligen politischen Gegner abzuwälzen, scheint es oft so, als ob Mexikos Politiker*innenkaste sich ihr eigenes Grab schaufele. Denn die andauernde Diskreditierung der anderen Parteien, die parteipolitisch betrachtet eventuell Sinn ergibt, höhlt gleichzeitig die Legitimität des Parteiensystems als solches zunehmend aus.
Präsident Enrique Peña Nieto sah sich ob der nicht abreißenden Proteste und Rücktrittsforderungen schließlich genötigt, eine politische Antwort auf den öffentlichen Druck zu geben. Mit einem Ende November vorgestellten 10-Punkte-Plan versucht die Regierung der PRI nun, wieder die Oberhand über die politische Agenda zu gewinnen. Der Plan sieht unter anderem vor, die lokalen und häufig von kriminellen Gruppen kontrollierten Polizeieinheiten aufzulösen und sie durch zentrale bundesstaatliche Einheiten zu ersetzen. Außerdem sollen die Autoritäten in vom Zentralstaat als korrumpiert geltende Munizipien entmachtet und die Institutionen der direkten Kontrolle des Staates unterstellt werden können. Hinzu kommt eine Klärung der häufig widersprüchlichen Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Ebenen in Fragen der öffentlichen Sicherheit, sowie die Schaffung von speziellen Entwicklungszonen in den Bundesstaaten Oaxaca, Guerrero und Chiapas. Schließlich kündigte der Präsident zudem die Entsendung von 10.000 Bundespolizisten in die als Tierra Caliente („Heißes Land“) bekannten Regionen in Michoacán und Guerrero an.
Wie so oft in den letzten Monaten reagierte die Öffentlichkeit, bis hinein ins rechtsliberale Spektrum, auch auf diese Regierungsinitiative ablehnend. Dem Präsidenten wird nicht nur vorgeworfen, an seiner bisherigen Politik festzuhalten und keine konkreten Schritte zur Verbesserung der Situation anzubieten; die Kritiker*innen bemängeln am Programm Peña Nietos vor allem, dass es nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass die Verstrickungen mit der organisierten Kriminalität bis weit in die bundes- und zentralstaatlichen Institutionen hinein reichen. Ein weiterer Vorstoß der PRI stieß jedoch auf noch stärkere Ablehnung: um wieder Herr der Lage auf den Straßen des Landes zu werden zauberten Abgeordnete der Regierungspartei gemeinsam mit ihren Kolleg*innen der Partei der Nationalen Aktion (PAN) ein Projekt zur Reformierung des Mobilitätsgesetzes aus der Schublade. Die Gesetzesvorlage, welche eine staatliche Durchsetzung des Rechts auf „freie Beweglichkeit“ vorsieht, stammt vom April 2014, und wurde schon damals für seine etwaigen Auswirkungen auf das Demonstrationsrecht gerügt (siehe Infokasten S. 12). Dass das Projekt nun inmitten der größten Proteste, die Mexiko seit Jahrzehnten erlebt hat, wieder aufgelegt wird, ist ein weiteres Anzeichen für die Fortsetzung der autoritären Politik des mexikanischen Staates.
Trotz der Versuche der staatlichen Akteure, die Proteste irgendwie in den bestehenden Strukturen zu kanalisieren: derzeit sind es die Protestierenden, welche die Zeiten und die Agenda der mexikanischen Politik bestimmen. Ob es ihnen gelingen wird, das derzeitige Aufbäumen in stabilere zivilgesellschaftliche Mechanismen und Organisationszusammenhänge zu übersetzen und so Mexikos kriminellem Staat das Wasser abzugraben, entscheidet sich aber höchstwahrscheinlich nicht in einem heroischen Moment gesellschaftlicher Katharsis, sondern in mühsamer politischer Arbeit an vielen verschiedenen Stellen. Die derzeitigen Proteste stellen damit eher einen Moment des Sich-Gewahr-Werdens der von staatlicher und parastaatlicher Gewalt durchzogenen mexikanischen Gesellschaft dar – und das ist, fraglos, die notwendige Basis für die tiefgreifenden Transformationen, die Mexiko nötig hat.

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