Kuba | Nummer 440 - Februar 2011

Dinge ändern sich à la cubana

In Kuba wird die Wirtschaft liberalisiert, aber nicht kapitalistisch

Die Wirtschaftsreformen der Regierung unter Raúl Castro beginnen zu wirken. Doch vieles bleibt ungewiss. Der Entwurf zum VI. Parteikongress im April wird kontrovers diskutiert.

Rainer Schultz

„Der Unterschied zwischen der Außen- und Innenwahrnehmung bleibt groß. Es ist auch eine Frage der Perspektive“, sagt Maikel*, der als junger Historiker den geschichtlichen Wandel von Kapitalismus zu Sozialismus 1959-62 in Kuba erforscht und schon öfter ins Ausland reisen durfte. „Wenn Du heute auf die Insel kommst und eine Transition wie in Osteuropa erwartest, wirst Du dich wundern. Die Straßen Havannas sind nicht plötzlich wieder mit Leuchtreklamen gepflastert, es herrscht keine Goldgräberstimmung junger Kapitalisten. Aber die Dinge ändern sich, langsam und auf unsere Weise.“
In den Städten hat sich das gastronomische Angebot in Peso Cubano wieder sichtlich erweitert: Staatliche Restaurants und Verkaufsstände wurden aufgepäppelt oder neu eröffnet. Hot Dog für zehn Peso, den Café für einen, sogar Bier ist wieder ohne Devisen zu haben. 25 Peso entsprechen rund zwei Euro, gegen den Euro umtauschbar ist allerdings nach wie vor nur der Peso Cubano Convertible (CUC). Für 1,20 CUC gibt es derzeit einen Euro. Das für Peso Cubano erhältliche Essen bleibt einfach, ist aber besser geworden und das Angebot hat sich erweitert. Yusneidy, eine Französisch-Dolmetscherin aus dem staatlichen Übersetzungsinstitut ESTI analysiert die Entwicklung: „Mit dem Arbeitsreformprozess wurden nicht nur Angestellte freigesetzt, sondern auch Kosten der staatlichen Institutionen eingespart. Bei uns wurde deshalb die Betriebskantine im Oktober geschlossen.“
Mahlzeiten am Arbeitsplatz, der Weg dorthin und die Beschäftigung selbst ­– das waren Leistungen, die die Regierung bisher versuchte aufrecht zu erhalten. Selbst nach dem Zusammenbruch des Rats gegenseitiger Wirtschaftshilfe mit seinen für Kuba desaströsen Folgen Anfang der 90er Jahre. Für diese sozialen Leistungen zahlte Havanna einen hohen Preis, mehr als die Insel eigentlich konnte. Damit ist es nun vorbei. In Raúl Castros Worten: „Wir können nicht mehr länger mehr ausgeben, als wir einnehmen.“
Yusneidys arroz frito especial (Reis mit Schinken und gebratenem Gemüse) kostet 15 Peso. „So viel Geld bekommen wir jetzt täglich zusätzlich zum normalen Gehalt. Dafür muss der Staat ja auch irgendwie erschwingliche Alternativen anbieten“, meint die 35-Jährige.
Auch der Arbeitsplatz selbst und damit erstmals der staatlich garantierte Lohn sind jetzt nicht mehr selbstverständlich. „Dabei greifen drei Maßnahmen ineinander“, erklärt Juana Moya aus dem kubanischen Gewerkschaftsverband CTC: der Abbau von Überkapazitäten im Staatssektor, eine begrenzte Öffnung der Wirtschaft für Privatinitiativen und der Umbau des Sozialsystems: weg von der Libreta-Lebensmittelkarte für alle hin zu einem differenzierten und an der Bedürftigkeit orientierten Sozialsystem. Moya sieht in Kuba einen Aufwärtstrend: „Das nominale Gehalt wächst seit einiger Zeit wieder. Bald dürfte auch die reale Kaufkraft wieder ansteigen, wenn sich die Investitionen in die Infrastruktur in steigender Produktivität niederschlagen“, zeigt sich die 47-jährige Ingenieurin überzeugt. Sie war selber am Aufbau der neuen Erdölraffinerie in Cienfuegos, der Hafenstadt im Süden Kubas, beteiligt. In dem vor vier Jahren fertig gestellten kubanisch-venezolanischen Joint-Venture, das auf einer ehemaligen sowjetischen Anlage basiert, die modernisiert wurde, finden bis zu 15.000 Menschen Arbeit. Daneben ist die kleine Ortschaft Simón Bolívar entstanden, deren Häuser aus Erdölderivaten gebaut wurden und deshalb Petrocasas genannt werden. „In den rund 100 Petrocasas leben jetzt etwa ebenso viele Familien. Darunter sind einige Maler und Schriftsteller“, wie Orlando García, Direktor der Künstlervereinigung UNEAC in der Stadt, stolz berichtet.
Die Wiedereröffnung des Privatsektors empfinden viele noch als unzureichend, gesteht Moya zu. Dort, wo der Staat eingesehen hat, dass er bestimmten Bedürfnissen einfach nicht entsprechen kann oder es privat oder genossenschaftlich besser funktioniert, ist nun wieder „Arbeit auf eigene Rechnung“ möglich. Dies betrifft vor allem die drei großen Problembereiche Transport, Ernährung und Wohnraum. Seit Oktober 2010 werden wieder neue Lizenzen in einem erweiterten rechtlichen Rahmen vergeben. Zum landesweiten privaten Transport von Personen und Gütern etwa, aber auch Wohnungen können wieder leichter vermietet werden, sogar für kommerzielle Zwecke und neuerdings auch von Familien, die sich im Ausland aufhalten. Damit wird das Betreiben kleiner Dienstleistungen möglich, so zum Beispiel Nachhilfeunterricht. In der Bildung gilt wie auch in anderen Bereichen: Der Staat betreibt eine Art nachholende Legalisierung. Was zuvor oft schon illegale Praxis war, wird nun reguliert und arbeitet dem Fiskus in die Hand. Diese zusätzlichen Staatseinnahmen stehen wiederum potenziell für andere Investitionen und Gehaltserhöhungen zur Verfügung.
Der größte Bereich neuer Privatinitiativen ist die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln. Hier wurden bisher die meisten Lizenzen beantragt und vergeben. Seit dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen Ende Oktober waren laut Angaben des Ministeriums für Arbeit und Soziale Sicherheit innerhalb einen Monats 81.000 Personen beraten worden. Von den in diesem Zeitraum knapp 30.000 vergebenen Lizenzen entfielen 20 Prozent auf den Lebensmittelbereich.
Die Zahlen verwundern nicht, ist doch die Nahrungsmittelsituation in Kuba noch immer prekär. Der Staat importiert derzeit noch mehr als die Hälfte der im Land konsumierten Lebensmittel, vor allem Reis, Bohnen und Soja – ein Drittel stammt dabei aus den USA. Staatsratspräsident Raúl Castro machte angesichts der steigenden Lebensmittelpreise und internationalen Wirtschaftskrise seit 2008 dieses Problem zur absoluten Priorität, ja sogar einer Frage der nationalen Sicherheit. Obwohl sie nur 20 Prozent der genutzten Fläche bearbeiten, produzieren nicht-staatliche Landwirte, also Privatbauern und Kooperativen rund 60 Prozent der Lebensmittel. Die 2008 mit Dekret 259 eingeleitete Landreform hat inzwischen mehr als 100.000 Personen Land zugänglich gemacht. Nach Angaben von Osmany Monzote, Agrarökonom und Berater der Kleinbauernorganisation ANAP, sei das Problem inzwischen nicht mehr so sehr die Produktion, sondern eher die Verarbeitung und Lagerung sowie der Transport und Verkauf bestimmter Gemüse- und Obstsorten. Auch hier setzen die Reformen an: mit der Freigabe des Transportwesens, der Verarbeitung und des Verkaufs von Lebensmitteln sind Verbesserungen zu erwarten – freilich ausgehend von einem niedrigen Niveau.
„Hauptproblem auch in der Landwirtschaft“, sagt Monzote, „sind oftmals die fehlenden Erfahrungen und der Zugang zu beziehungsweise die Finanzierung von Produktionsmitteln.“ Die Regierung versprach, Mikrokredite vergeben zu wollen. Der genaue Umfang und die Vergabekriterien sind aber noch unklar, angesichts der knappen Staatskasse sind ohnehin nur bescheidene Summen zu erwarten. Zwar vermochte es die Regierung, ihr Haushaltsdefizit 2009 auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukt leicht zu verringern – dies war aber nur mithilfe drastischer Sparmaßnahmen wie der Kürzung der Einfuhren um fast zehn Prozent und dem kurzfristigen Zugriff auf das Kapital von ausländischen Investitionen möglich.
Die Debatten zu den neuen Bestimmungen füllen die Medien. In morgendlichen Radiosendungen befragen AnruferInnen eingeladene MitarbeiterInnen verschiedener Ministerien: „Dürfen wir jetzt auch TouristInnen an die Flughäfen bringen?, Wie wird sich der Preis für die Privattaxis in Havanna regulieren?, Was sind die Qualitätsstandards für einen privaten Kleinbus?“ Auf die meisten Fragen folgen sehr allgemeine Antworten. Die Regulationen in Form von ministeriellen Resolutionen werden oftmals noch weiter verfeinert und überarbeitet. In den Acht-Uhr-Nachrichten wird regelmäßig ein erfolgreiches Kleinbauernprojekt vorgestellt, mit sichtlich beispielgebendem Charakter. In der Parteizeitung Granma rechnen JournalistInnen die neue Besteuerungspolitik vor, um interessierten LeserInnen zu zeigen, was eine progressive Einkommenssteuer bedeutet. Dass sie erst ab 5.000 Peso Jahreseinkommen Steuern zahlen müssen und danach der Prozentsatz sukzessive bis auf 50 Prozent ansteigt. Neu ist der Zwangsbeitrag zur Sozialversicherung auch Privatbeschäftigter.
Seit längerer Zeit veröffentlicht die Granma jeden Freitag auf zwei der acht Seiten Leserbriefe, die fast unisono bestimmte Missstände kritisieren: zu hohe Preise, schlechter Service, mangelnde Hygiene im Krankenhaus. Seit der Veröffentlichung der 291 Leitlinien zum VI. Parteitag, der im April 2011 stattfindet und auf dem über den weiteren wirtschaftlichen Kurs entschieden wird, werden in allen Arbeitszentren und Massenorganisationen zudem Diskussionen organisiert, über die in verschiedenen Medien berichtet wird. Wegen des großen Interesses wurden bereits mehrere hunderttausend Exemplare nachgedruckt. Auch wenn es paradox erscheint: Trotz des angekündigten Wegfalls oder der Umdisposition von bis zu einer Million Arbeitsplätze im Staatssektor überwiegt inzwischen die Hoffnung gegenüber der anfänglichen Skepsis. Dass es so nicht weitergehen konnte, haben alle gespürt. Die parallele Öffnung für private und genossenschaftliche Initiativen sowie die zunehmenden Investitionen in die Infrastruktur lassen hoffen.
Dass die Obama-Regierung jüngst die allgemeinen Bestimmungen des US-Embargos gegen Kuba verlängerte – trotz einiger Erleichterungen für US-KubanerInnen – und damit einen normalen Handel oder Zugang zu Krediten verunmöglicht, hilft dem Wandel à la cubana nicht. Der kubanische USA-Experte Esteban Morales spricht deshalb auch von einer Zweiteilung des Embargos: Aufweichen des Diskurses bei gleichzeitiger Beibehaltung, teilweise sogar Verschärfung der Embargopolitik. In Kuba ist gleichzeitig auch klar, wo die Grenzen des Reformprozesses verlaufen. Wie Regierungschef Raúl Castro nicht müde wird zu betonen, ist er zur Modernisierung, nicht zur Abschaffung des Sozialismus gewählt worden. In seiner kritischen und lesenswerten letzten Parlamentsrede sprach er vieles aus, was zuvor auf den Straßen zu hören war: Die Klassiker des Marxismus hätten nie davon gesprochen, dass alles dem Staat zu gehören habe, lediglich die zentralen Produktionsmittel. Vorerst kann der Historiker Maikel sich also weiter mit der Abschaffung des Kapitalismus beschäftigen und braucht sich nicht dem Gegenteil zu widmen.

*Die Namen der interviewten Personen wurden teilweise auf ihren Wunsch hin geändert.

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