Chile | Nummer 240 - Juni 1994

“Direkter Körperkontakt ist nicht möglich”

“Direkter Körperkontakt ist nicht möglich”

Daniel Sánchez San Juan ist einer der führenden Köpfe der Menschenrechts­organisation ODEP (Organización de Defensa Popular), die Angehörige der politischen Gefangenen vertritt. Die Organisation setzt sich für die Schließung des Hochsicherheitsgefängnisses ein und bringt ihre Forderungen durch ver­schiedene Aktionen, wie zum Beispiel einen Hungerstreik, an die Öffentlichkeit. Mit ihr sprach die LN über die Verlegung der Gefangenen und über ihre Haft­bedingungen.

Interview: Evangelia Wasdaris

LN: Die Wochen vor der Verlegung in das Hochsicherheitsgefängnis waren von extremen Spannungen und Angst auf Seiten der Gefangenen und ihrer Fami­lien gekennzeichnet. Es gab sogar Be­fürchtungen, daß es aufgrund des Wider­standes der Gefangenen zu einem ge­waltsamen Vorgehen der Polizei kommen könnte. Wie verlief nun die Verlegung wirklich?
Daniel: Die Gefangenen der Ex-Peniten­ciaría wurden völlig unvorbereitet am frü­hen Morgen, so etwa gegen fünf Uhr, aus den Betten geholt. Sie wurden brutal ge­schlagen und durch Tränengasbomben ru­higgestellt.
Die Situation in dem Gefängnis San Miguel war noch viel schlimmer. Diese Verlegung begann erst gegen neun Uhr morgens. Die Gefangenen wußten schon über den Verlauf der vorgegangenen Verlegung Bescheid und leisteten mit al­len ihnen verfügbaren Mitteln Widerstand. Dabei wurden zwei von ihnen, Mauricio Hernández und Jaime Pinto, durch Schüsse verletzt. Letztendlich gaben die Gefangenen den Widerstand auf. Viele von ihnen erlitten Quetschungen und Prellungen, die vor allem durch Schlagstöcke verursacht wurden. Ärzte, die die Gefangenen behandelten, bestä­tigten schwere körperliche Mißhandlun­gen.

Am dritten Tag nach der Verlegung tra­ten 40 Gefangene des Hochsicherheitsge­fängnisses, 20 Frauen des Gefängnisses San Miguel und vier Familien der Ge­fangenen in einen Hungerstreik, der nach 48 Tagen abgebrochen wurde. Wel­che Forderungen lagen dem Streik zu­grunde?
Zum einen fordern wir eine Neuregelung der Besuchszeiten. Im Moment sieht es so aus, daß der Besuch auf eine Stunde in der Woche reduziert ist. Vorher waren es zwei Tage pro Woche mit je vier Stunden. Bei einem dieser vier Besuche im Monat dür­fen die Gefangenen vier Personen, anson­sten nur zwei, empfangen. Diese müssen direkte Familienangehörige sein. Am Schlimmsten ist für uns, daß kein direkter Körperkontakt möglich ist. Die Besuchs­räume sind mit Trennscheiben versehen, bei denen man fast schreien muß, um sich zu verständigen. Außerdem ist auf den Besucher und den entsprechenden Gefan­genen eine Videokamera gerichtet, die das Gespräch aufnimmt. Meine Eltern zum Beispiel sind wegen Entführung zu le­benslänglicher Haft verurteilt worden. Ich bin 24 Jahre alt und kann mir nicht vor­stellen, meine Eltern in den nächsten Jah­ren nur durch diese Trennscheibe zu se­hen. Wir fordern also den direkten Kon­takt zu den Gefangenen. Bis jetzt konnten wir aber nur erreichen, daß dies Kindern unter 14 Jahren und den Ehefrauen einmal im Monat zusteht. Unsere Hauptforderung ist die Schließung des Gefängnisses. Noch nicht einmal während der Diktatur wurde ein Gefängnis mit solch extremen Sicher­heitsvorkehrungen konstruiert!

Der Besuch der Menschenrechtskommis­sion der Abgeordnetenkammer sollte der Polemik um den Hochsicherheitstrakt ein Ende bereiten. Wie verhielten sich die Abgeordneten gegenüber den Gefan­genen, und gibt es Hoffnung auf eine Veränderung der Situation?
Nun, die Abgeordneten haben sich gegen­über den Gefangenen und ihren Forderun­gen sehr offen gezeigt. Es wurde viel dis­kutiert, und es entstand der Eindruck, daß die Kommission die Situation der Gefan­genen und ihrer Angehörigen versteht. Damit ist jedoch der Streit nicht beendet, denn es gab seitens der Abgeordneten keine klare Stellungnahme. Die Kommis­sion wird Vorschläge und Empfehlungen unterbreiten, die jedoch die Gendarmería nicht dazu verpflichten, diese auch umzu­setzen.

Eine Woche nach der Verlegung wurde den Angehörigen erlaubt, den Hochsi­cherheitstrakt zu betreten und die Ge­fangenen zu besuchen. Am ersten Be­suchstag kam es zu Auseinandersetzun­gen zwischen den Angehörigen und der Polizei. Aus welchem Grund?
Vor dem Hochsicherheitsgefängnis hatten sich Mitglieder verschiedener Organisa­tionen zusammengefunden, darunter auch Mitglieder der ODEP. Wir befestigten Transparente an den Außenwänden des Gefängnisses, auf denen wir auf den Hun­gerstreik hinwiesen und unser klares Nein zum Hochsicherheitsgefängnis ausdrück­ten. Außerdem verteilten wir Flugblätter. Schließlich kam eine Spezialeinheit der Polizei und versuchte, uns gewaltsam vom Platz zu schaffen. Dabei wurde ich mit zwei weiteren Mitliedern der ODEP ver­haftet. Wir wurden drei Tage lang verhört. Sie haben mich geschlagen, gefesselt, mir in der ganzen Zeit nichts zu essen und zu trinken gegeben. Aber das Schlimmste von allem war, daß sie mich nicht schlafen ließen.
Sie wollten Fotos von uns machen, doch wir verweigerten uns und erwiderten nur, daß die Presse doch genug Fotos von uns hätte. Das war ein weiterer Grund für sie, uns mit Prügeln zu strafen. Dann mar­kierten sie noch unsere Personalausweise mit vier kleinen Punkten am Bildrand, die nicht mehr zu entfernen sind.

Welche Eindrücke hattest Du später bei Deinem Be­such im Hoch­sicher­heits­trakt?
Das Gebäude ist sehr steril, ein reiner Ze­mentblock, ohne Pflanzen, ohne Bäume. Alles ist ganz sauber. Es gibt nur klimati­sierte Luft, und vor allem viel zu wenig natürliches Licht. Die Fenster sind so klein, daß kaum Tageslicht eindringen kann. Es wurden überall Neonlampen an­gebracht, die die Sterilität noch betonen. Die Wärter verhalten sich sehr ruhig und formell, so daß menschliche Regungen auf ein Minimum reduziert sind. Kein Ver­gleich zu den gewöhnlichen chilenischen Gefängnissen, in denen Lärm, tägliche Auseinandersetzungen, Schimpfwörter und Schlägereien vorherrschen. Es ist be­drückend, keine menschlichen Laute zu hören. Und an jeder Ecke sind auch noch Videokameras, die einen beobachten.

Kasten:

Begnadigung und Zwangsexil

Im März diesen Jahres, noch unter der Regierung Aylwins, wurden die vier politischen Gefangenen Héctor Maturana, Juan Narváez, Miguel Valdivia und Héctor Gómez begnadigt. Sie waren wegen ihres Attentats gegen Pinochet im Jahre 1986 zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Die Zeit im Gefängnis war geprägt von Folter und langer Isolation. Jetzt wurden sie nach Belgien ins Zwangsexil geschickt, und zwar für zwanzig Jahre .Sie haben gegen die Diktatur gekämpft und bekommen jetzt die Möglichkeit verwehrt, ihre Freiheit mit den Menschen, mit denen und für die sie gekämpft haben, zu genießen. Das zeigt deutlich den fehlenden politischen Willen der Regierung zur wirklichen Aufarbeitung der Diktaturzeit.
Fernando Zegers, Anwalt und führendes Mitglied der CODEPU (Comisión de Derechos del Pueblo), bezeichnete die Begnadigung der vier politischen Gefangenen als “elementares Zeichen der Gerechtigkeit”. Nachdrücklich erklärte er, daß diese Menschen, die gefoltert wurden – noch dazu ohne gerechtes Urteil – nicht mit denen gleichzusetzen sind, die für die Morde unter der Diktatur verantwortlich sind. Die staatlich geschützten Mörder genießen sogar noch Straffreiheit. Die rechten Parteien und das Militär sind grundsätzlich anderer Meinung. Jovino Novoa, Präsident der rechten UDI (Unión Democrática Independiente) betonte, daß die Begnadigung “alte Wunden im Land wieder aufreißt”. Er erläuterte, daß Aylwin damit terroristische Aktionen als Mittel politischer Auseinandersetzung gelten ließe. Jorge Lucar, Vizekommandant des Militärs, machte deutlich: “Die Begnadigung ist ein bedauerlicher Vorfall, um so mehr weil wir alle wissen, wie diese Leute handelten – mit Vorsatz und Heimtücke.

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