Literatur | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Divide et Impera: Die neue Welt ist zweigeteilt

Dr. Stefan Fuchs

Als ob die Gegenwart nicht schon düster genug wäre, prognostiziert J.-L. Rufin weitere 500 elende Jahre für den Süden. Schon die Rede von der “Neuen Weltordnung” muß in den Ohren von zwei Dritteln der Weltbevölkerung zynisch klingen.
Was ist denn aus den Versprechungen des Nordens geworden? Was haben die unzähligen internationalen Institutionen UNCTAD, UNDP, IDA, WIDER und ECOSOC, oder hinter welchen Abkürzungen sie sich sonst verbergen mögen, in gut 30 Jahren Entwicklungspolitik geschaffen? Zahlreiche Regierungen des Südens haben zum Teil unter heftigem Druck des internationalen Währungsfonds und der Weltbank ihre nationalen Märkte liberalisiert und staatliche Interventionen zurückgeführt. Kaum eines der reichen Länder, das sich nicht ein eigenes Ministerium leistet, dessen ausschließliche Aufgabe in der Bekämpfung der Unterentwicklung besteht. Dennoch wird sich auch nach der eher euphemistisch formulierten Prognose des Entwicklungsberichts der Vereinten Nationen von 1992 die heute bei nahezu einer Milliarde liegende Zahl der unter der absoluten Armutsgrenze Lebenden weiter im Takt “Bevölkerungsexplosion” erhöhen. Dabei wird das wahre Bild des Elends am Ende des 20. Jahrhunderts von makroökonomischen Index-Zahlen eher geschönt.
Das jetzt in deutscher Sprache erschienene Buch Rufins stellt sich konsequent quer zu allen Verlautbarungen der offiziellen Entwicklungspolitik. Es bringt die Kartenhäuser aus volkswirtschaftlichen Daten zum Einsturz, welche angestrengt den Fortschritt in Zehntel-Prozent-Punkten des Brutto-Inlandsprodukts pro Kopf nachzuweisen suchen. Es durchkreuzt sophistische Milchmännchenrechnungen, die mit statistischen Mittelwerten in Ländern hantieren, deren schmale Oligarchien meist über 90 Prozent der wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, und hinter denen sich nur der Quantifizierungswahn westlichen Denkens verbirgt. Der Autor weiß wovon er spricht. Lange Jahre hat er als Kulturattaché in Afrika und Lateinamerika gelebt und war in der Folge als Vizepräsident des Hilfswerks “Médecins sans frontières” tätig. Rufins Kenntnis der Lebenswirklichkeiten vor Ort vertreibt rasch den Spuk der abstrakten Zahlenwerke, wie sie alljährlich von Weltbank, Währungsfond, Vereinten Nationen und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgelegt werden.
Die extremen Unterschiede zwischen Stadt und Land, die völlig andere Strukturierung der Wirtschaft machen rein quantifizierende Vergleiche mit dem Norden sinnlos. Am Beispiel des einstmals als Schwellenland angesehenen Brasilien zeigt Rufin, daß es Wachstum ohne jede Entwicklung gibt. Die Militärjunta, die das Land seit den 60er Jahren beherrschte, huldigte einem doppelten Fetischismus von Produktionismus und Protektionsimus. Ohne Rücksicht auf Marktgegebenheiten und Finanzierung wurde eine exportorientierte Produktion vorangetrieben, wurden zweistellige Zuwachsraten erreicht. Die Lage der Bevölkerung aber verschlechterte sich ständig. Als dann in den 80er Jahren die Last der aufgelaufenen Schulden Brasilien in eine noch immer andauernde Krise stürzte, stellten die BrasilianerInnen fest, daß ihr Land mit dem Cadillac in das gelobte Land der sogenannten “Ersten Welt” unterwegs gewesen war, nur hatte man vergessen, die Bevölkerung wenigstens im Kofferraum mitzunehmen.
Wie reagiert nun der postindustrielle Norden auf dieses augenfällige Scheitern seiner Entwicklungspolitik? Rufin legt eine grausame Logik offen: In Anlehnung an das Beispiel des Römischen Imperiums, das sich mit einem Limes umgab und auf diese Weise von der “Welt der Barbaren” abschottete, sieht er eine weltweite “Apartheit”, eine streng in eine nördliche und eine südliche Hälfte geteilte Welt heraufkommen. Der neue “Limes” ist dabei keine strategische Front zwischen mehr oder weniger gleichgewichtigen Gegnern mehr, wie in den Tagen der West-Ost-Polarität.
Hinter ihm verwandelt sich der “tiefe Süden” in einen geschichtslosen Raum, in neue “Terrae Incognitae”. Die uralten Wahrnehmungsstereotypen der antiken Unterscheidung zwischen “Barbaren” und “Reich der Zivilisation” filtern jeden Fernsehbericht, so sehr er auch Authentizität beansprucht und machen die Wahrnehmung der anderen abstrakt. Der Norden wendet sich ab vom universalistischen Bild der Menschheit in der Tradition europäischer Aufklärung und kehrt zurück zum Kriterium der räumlichen Nähe.
Ethik erfährt eine geographische Teilung. Individuen finden sich nur noch im Norden. Die Gestalten, die man zwischen den Ruinen der zerstörten Länder umherirren sieht, erscheinen ohnehin nicht mehr als Menschen, sondern nur noch als Bilder. Zwar bleibt dem Norden das Schauspiel ihres Unglücks erhalten, denn er konsumiert Mengen Bilder, und die Wirbelstürme, Hungersnöte, Bürgerkriege haben ihren festen Platz unter den Schauspielen. Rufin demonstriert aber, daß auch groß angelegte staatliche Rettungsaktionen, wie in jüngster Zeit das militärische Einschreiten in Somalia, die altbekannte Funktion der milden Gabe besitzen, die man dem Bettler an der Kirchentür zu überreichen pflegte. Immer retten die Hilfsaktionen eher die “Seelen des Nordens” denn die “Körper des Südens”.
Das Buch läßt erkennen, wie der Norden den Süden nicht allein als Ressourcenlieferant, sondern genauso als psychologischen Widerpart braucht. Da in den letzten Jahren im Norden selbst Züge des Südens auftauchten, etwa durch die sich ausbreitende strukturelle Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Verelendung von Teilen der Bevölkerung in den industrialisierten Staaten, verstärken sich die Tendenzen, die Spannungen nach draußen zu verlagern. So dienen das Bild des “barbarischen Südens” und die Zweiteilung der Welt auch als Projektionsfläche der unvermindert fortdauernden Bedrohung des vermeintlich beherrschten, zivilisierten Lebens. Wenn es kein “Draußen” mehr gibt, wird es “Drinnen” vollends unerträglich.

Jean-Christophe Rufin: “Das Reich und die neuen Barbaren”, Verlag Volk & Welt, Berlin 1993, Übersetzung: Joachim Meinert.

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