Literatur | Nummer 341 - November 2002

Dschungeltrip

Eine Reise in die Welt des Amazonas

Juan Madrid, spanischer Schriftsteller des Jahrgangs ‘47 und Schöpfer des Romandetektivs Toni Romano, versucht einmal etwas anderes – den Bericht einer Reise stromaufwärts. Statt der fiktiven Figur des Ex-Boxers Romano, der sich durch die Madrider Unterwelt schlägt, kämpft sich nun Madrid höchstselbst durch den Dschungel Amazoniens.

Alexander Jachnow

Selten verdanken wir einem Verleger, dass ein Buch erst noch geschrieben wird. Im Falle des „Reiseberichts“ Mein Amazonas des spanischen Krimiautors Juan Madrid war es so. Statt das bereits abgelieferte Manuskript zu einem neuen Roman zu drucken, zog der Verlagsleiter von Espasa, Rafael González, ein altes Projekt aus der Schublade – die Idee eines Reiseberichts vom Amazonas – und schickte den Autor in die Ferne. Eindrucksvolle Beschreibungen aus der Region rund um den wasserreichsten Fluss der Welt machen diesen Bericht, der im Jahr 2000 entstanden ist, zu einem fast greifbaren Miterleben seiner Reise. Dabei wechseln sich Schilderungen von der Schönheit der Natur mit Beschreibungen von deren Zerstörung, vom Alltag und vom Elend der Bevölkerung, ab.
Leicht missglückt scheint der Versuch, schulbuchartige Zahlen und Daten in hölzern geratene Dialoge zu verpacken. Wenn Madrid den Biologen und Aktivisten, die er beschreibt, tatsächlich begegnet ist – und über den Anteil der Fiktion an seinem Reisebericht spricht er erst im Schlusswort – muss man sich über deren Eloquenz jedoch wundern. So regnet es beim nächtlichen Plausch auf einer Flussfähre einen Sturzbach an Fakten, die bei der Zahl der Vogelarten beginnen und bei der Gewichtsangabe von Pilzen pro Hektar Urwaldboden enden. Manche dieser Zahlen sind jedoch ebenso einprägsam wie erschreckend. Für die Herstellung des Rindfleischs eines Hamburgers etwa, erzählt ein Florían aus Belém, werden 75 Kilo pflanzliches Material zerstört. An anderer Stelle wird akribisch die Ausrottung verschiedener Indianerstämme festgehalten. Vielleicht braucht es die Zahlen, um schwer fassbares begreiflich zu machen.
Denn heute ähneln weite Teile des ehemaligen Regenwaldgebiets den Hügeln Schottlands: weit und menschenleer. Doch hat der Mensch seine Spuren hinterlassen und eben von diesen handelt das Buch. Vom Mensch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in dieser Region: von den Armen, den Banditen und einem Gringo.

Zwischen Realität und Phantasie

In eingestreuten Rückblicken auf die Geschichte des Gebietes wird seine wechselvolle Vergangenheit lebendig. Die legendengleiche Erzählung der nur wenige Tage unabhängigen Republik Acre ebenso wie die erfolglosen ersten Versuche der Portugiesen und Spanier, den Fluss zu erkunden, deren Chronisten Madrid erneut zu Wort kommen lässt. Diese berichteten auf ihrer glücklosen Suche nach dem El Dorado immer wieder von den Amazonen, den namensstiftenden indianischen Frauen, die ohne Männer lebten. Madrid will nun mit seinem Freund Diodoro statt nach dem El Dorado die Amazonen suchen, deren Legende noch heute fortbesteht. Doch die kämpferischen Frauen, denen viele Stämme tributpflichtig gewesen sein sollen und die sich nur mit Pfeil und Bogen unbekleidet und gerüstet den Konquistadoren entgegen stellten, sind schwer zu finden. Wenige Stämme haben den Genozid unbeschadet überstanden, der durch den Kautschukboom ausgelöst wurde. Kautschuk, das frühe Grundmaterial aller Gummiprodukte wie beispielsweise Autoreifen, verwandelte Ende des 19. Jahrhunderts Teile des Regenwalds in Arbeitslager, deren barbarische Zustände lange Zeit der Welt ebenso verborgen geblieben sind wie der sagenhafte Reichtum der Kautschukbarone. Erst durch einen gewagten Samenraub, der es den Engländern möglich machte, in ihren pazifischen Kolonien die ersten Kautschukbäume außerhalb Lateinamerikas zu pflanzen, wurde das brasilianische Monopol gebrochen. Die mondänen Stadtviertel der Reichen verschwanden. Die Armut blieb. Madrids Anliegen ist nicht der Reisebericht als beschreibende Dokumentation des Landes, sondern die engagierte Wiedergabe seiner Eindrücke.
Das Buch ist letztendlich schwer einzuordnen. Juan Madrid schreibt in der abschließenden Danksagung: „Offenbar bin ich nicht in der Lage, mich in der Weise an die Realität zu halten[…]aber ebenso wenig an die reine Phantasie…“ Mit Sicherheit ist es ein Buch, das bildet: den Leser und den Mythos Amazonas. Der Originaltitel, Amazonas: un viaje imposible (Eine unmögliche Reise), sagt es besser als der Titel der deutschen Übersetzung. Dies ist nicht der Amazonas des spanischen Schriftstellers, sondern der unserer Welt, eine unbekannte Größe, deren Bedeutung uns verschlossen war. Um von Gegenden, wo man noch nie war, einen so nachhaltigen Eindruck zu bekommen, braucht es solche Bücher.

Juan Madrid: Mein Amazonas. Europa Verlag, Wien 2002. 303 Seiten, 22,90 Euro.

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