Mexiko | Nummer 238 - April 1994

Durchzug im Mief der Korruption

Nach der “Einigung” von San Cristóbal ist die Lage wieder gespannt

Die erste Runde der Verhandlungen zwischen der Zapati­stischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) und dem Unterhändler der Salinas-Regierung Manuel Camacho Solis ist abgeschlossen. Herausgekommen ist noch kein Ab­kommen, wie Subcomandante Marcos in den letzten Tagen immer wieder be­tonte, son­dern eine Antwort der Regierung auf die Forderungen der EZLN. Diese Ant­wort, ein Angebot zur Verbesserung der sozialen und politischen Situation, dis­kutieren die EZLN-Delegierten derzeit mit ihrer sozialen Basis in Chiapas. Par­allel dazu mobilisieren aber auch diejenigen, die durch eine derar­tige Lösung etwas zu verlieren hätten: die Landbesitzer, die lokalen PRI-Für­sten, die mesti­zische Herrschaftsclique.

Bernd Pickert

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

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