Nummer 477 - März 2014 | Sachbuch

Ein anderer Blick auf die Stadt

Ein gelungener Versuch, die Stadtforschung zu Lateinamerika von ihrer eurozentristischen Perspektive zu befreien

Der Sammelband „Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios“ vereint neue Persepktiven und Blicke lateinamerikanischer Forscher_innen auf ihre Städte. Ein wissenschaftlicher Beitrag zur Überwindung der euroamerikanischen Hegemonialität in der Stadtforschung.

Caroline Kim

Die brodelnden Megastädte Lateinamerikas sind in den letzten Jahrzehnten zu Objekten der Faszination für Stadtforscher_innen aus Europa und Nordamerika geworden. Betrachtet und untersucht wurden sie dabei oft als überbordende Moloche, Planeten der Slums, charakterisiert von Armut, Gewalt und Informalität. Die Theorien, die zur Erforschung städtischer Phänomene weltweit angewendet werden, stammen dabei oft aus der euroamerikanischen Wissenschaftswelt. Erschaffen und gedacht werden sie im globalen Norden. Die Städte des „Südens“ hingegen dienen lediglich als interessante, allenfalls exotische Beispiele, die im Gegensatz zum hegemonialen Modell der europäischen Stadt als anormal gelten. Wahrgenommen als Problemfälle, bedürfen sie aus dieser Perspektive einer Diagnose und Reform, so die eingangs zitierte kritische Stadtforscherin Ananya Roy.
Zwar war die beginnende Beschäftigung mit Städten außerhalb Europas und Amerikas in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ein Fortschritt. Sie blieb bisher jedoch oftmals auf der Ebene eines „benign differencemaking“, einem gutgemeinten, aber dennoch ignoranten Othering, das die zu erforschende Stadt im Raum des „Anderen“ zementierte und aufrechterhielt. Das Zentrum theoretischer Produktion muss daher laut Roy verlagert, bzw. erweitert werden und der vorliegende Sammelband „Stadtforschung aus Lateinamerika“ trägt dazu bei, den multiplen Formen metropolitaner Realitäten gerecht zu werden. Auf über 450 Seiten lässt der bei transcript erschienene Sammelband Forscher_innen aus Lateinamerika die Metropolen ihres Kontinents aus eigener Perspektive beleuchten und macht so erstmalig eine Vielzahl spanischsprachiger Autor_innen, die zu diesem Thema forschen einer deutschen Leserschaft zugänglich.
Den Herausgeberinnen Anne Hufschmid und Kathrin Wildner geht es um das Besondere der lateinamerikanischen Stadt und ihrer Erforschung. Dabei nehmen sie vor allem die Schnittstellen zwischen Alltagskultur und urbaner Struktur ins Blickfeld: Jenen öffentlichen Raum und Rahmen, in dem das Städtische sozial geschaffen und konzeptionell, imaginär und diskursiv ausgehandelt wird. Der Sammelband nähert sich Konzepten von Raum und Produktion des Städtischen auf interdisziplinäre Weise. In den verschiedenen Beiträgen wird darauf geachtet, räumliche und symbolische Dimensionen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Stadtforschung zu integrieren.
Die Autor_innen hinterfragen dazu vor allem klassische theoretische Ansätze und beantworten sie mit jeweils ganz eigenständigen Herangehensweisen an das Städtische: Es geht zum Beispiel um soziale und politische Organisation in territorialen Kategorien der barrios in Buenos Aires; urbane Szenarien, die über eine Analyse des Alltäglichen aus der Mikroperspektive erfasst werden können; die konfliktive Praxis der Ciudadanía – ein zentraler Begriff in der städtischen Gegenwart Lateinamerikas, der nur schwer übersetzbar ist und sowohl aktives zivilgesellschaftliches Engagement als auch institutionelle Bürgerrechte in sich vereint.
Der zweite Teil des Bandes widmet sich aktuellen Forschungsfeldern anhand konkreter empirischer Untersuchungen. Hier tauchen für lateinamerikanische Stadtforschung charakterisierende und interdependente Themen auf: Mobilität, Segregation und kulturelle Heterogenität, Gated Communities, das Imaginario der Angst, Informalität und Straßenhandel, soziale Ungleichheit und Teilhabe, politischer und öffentlicher Raum. Oder die „konflikthafte Gleichzeitigkeit“ vorkolonialer, kolonialer und moderner Architektur inklusive deren imaginärer und sichtbarer Konzepte und dem umstrittenen Entwurf des Kulturerbes. Diese zum Teil bekannten und prägenden Thematiken und Phänomene städtischer Realität in Lateinamerika werden aber aus einem anderen Blickwinkel angegangen und methodologisch neu und im spezifischen Kontext aufgearbeitet. Informalität zum Beispiel wird in den Beiträgen nicht als anomale, aus der Not geborene und jenseits aller Strukturen liegende Unrechtmäßigkeit konzipiert, sondern als alternatives Regulierungskonzept, das ebenso strukturprägend und sogar -schaffend ist. Oder die dynamische Perspektive auf Bewegungen innerhalb städtischen Raums, die nicht nur Mobilität, sondern eine erweiterte Kategorie der alltäglichen Mobilität und (politischen) Mobilisierung erfasst. Es werden statt der Erforschung des „Anderen“ interkulturelle Konstellationen thematisiert, die auch kulturelle Vermischung nicht außer Acht lassen und neben den in städtischen Geogra­phien repräsentierten ethnischen Grenzziehungen, auch soziale und ökonomische Kategorien sowie die Frage der Macht thematisieren. Auch die Verschränkung von subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen von Raum mit sozialer Organisation und Alltag – das urbane Imaginario – taucht immer wieder auf: soziale und kollektive Vorstellungen, die einerseits Ergebnis urbaner Realität sind, sie aber gleichzeitig schaffen und prägen.
Ein anderer Blick auf die Stadt – den Blick auf die Stadt zu dezentrieren und auch zu dekolonisieren, darum geht es den Herausgeberinnen des Bandes. Hufschmid versteht die Positionen im Buch als Beiträge, die Debatte um städtischen Raum und Urbanität in Deutschland zu transnationalisieren und von ihrer euro- oder anglozentristischen Verengung zu befreien. Es bleibt interessant zu sehen, ob einige der vorgestellten Konzepte und Herangehensweisen auf andere Regionen übertragen, angewendet, angepasst werden – ganz im Sinne der Umkehrung des im Forschungsfeld entstandenen Ungleichgewichts. Vielleicht lässt sich die eine oder der andere Stadforscher_in inspirieren, sich mit einer der vorgestellten Methoden einem sozialräumlichen Phänomen zu nähern – und das nicht zwingend in Lateinamerika. Genug gute Beispiele und einen produktiven theoretischen Rahmen findet er oder sie in diesem Buch.
Die eigentlich kritisierte Hierarchie der Städte spiegelt sich dann jedoch leider auch in diesem Buch auf anderer Ebene wider. Trotz eines Titels, der suggeriert, dass es sich um Stadtforschung aus Lateinamerika handelt, widmen sich alle 20 Beiträge fast ausschließlich den bereits etablierteren Forschungsgebieten Mexiko-Stadt, São Paulo und Buenos Aires. Was ist mit Städten wie Lima, Santiago und Bogotá, in denen sich in den letzten Jahrzehnten auch eine kritische Stadtforschung herausgebildet hat? Und was passiert in La Paz oder San Salvador? Scheinbar liegen sie so weit in der Peripherie, dass sie auch in einer kritischen Publikation zur Stadtforschung in Lateinamerika nur in einem Nebensatz Erwähnung finden.
Dennoch. Es braucht eine Stadtforschung, die ihre „asymmetrische Ignoranz“ überwinden kann, hat Ananya Roy gesagt. Anne Hufschmids und Kathrin Wildners Sammelband ist ein erster deutschsprachiger Schritt in diese Richtung.

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