Ecuador | Nummer 305 - November 1999

Ein Gespenst geht um in Lateinamerika…

Nach Ecuadors augenscheinlicher Zahlungsunfähigkeit sitzt das Gespenst der Schuldenkrise wieder mit am Verhandlungstisch – und zwar in der ersten Reihe

Ende September kündigte Ecuador als erstes Land die Zinszahlungen für Brady-Bonds auf, die am Ende der sogenannten „verlorenen Dekade“ der achtziger Jahre ein – vorübergehendes – Ende der lateinamerikanischen Schuldenkrise möglich gemacht hatten. Ist damit nach zehn Jahren oberflächlicher Ruhe ein erneutes Zuschnappen der Schuldenfalle in greifbare Nähe gerückt, wie es die weltweiten Erlaßinitiativen schon seit geraumer Zeit ankündigen?

Elisabeth Schumann-Braune

Er hatte wahrlich hoch gepokert: Am 26. August verkündete der ecuadorianische Präsident Jamil Mahuad, Ecuador werde die zum Ende des Monats fälligen Zinszahlungen der sogenannten Brady-Bonds vier Wochen aussetzen. Der Aufschub sei jedoch keinesfalls als einseitige Aufkündigung des Schuldendienstes mißzuverstehen, sondern stehe vielmehr im Kontext der laufenden Verhandlungen mit dem IWF, deren Abschluß unmittelbar bevorstehe. Auf Initiative des damaligen US-Außenministers Nicolas Brady war 1989 erstmals ein vordergründiger Abbau der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung durch beispielsweise einen Umtausch in neue Schuldtitel mit niedrigeren Zinsen oder längeren Laufzeiten erreicht worden.
Im Interesse von „Ecuadors nachhaltiger Entwicklung“ appellierte Mahuad an die internationale Gebergemeinschaft, für die stellvertretend der US-amerikanische Präsident Bill Clinton die Initiative für ein „handhabbares Schuldenniveau“ zunächst auch begrüßte und seine Unterstützung bei Umschuldungsverhandlungen mit dem Pariser Club, einem Zusammenschluß der Gläubigerländer, zusagte. Die bereits unterschriftsreifen Kreditvereinbarungen mit dem IWF jedoch scheiterten am ecuadorianischen Kongreß, der den Haushaltsentwurf der Regierung Mahuad für das nächste Jahr ablehnte, an die wiederum die Kredit-Zusagen aus Washington geknüpft waren. Mahuads Verzögerungstaktik ging deshalb voll nach hinten los: Nur vier Wochen später kaschierte der ecuadorianische Präsident unter dem Deckmantel einer „innovativen Lösung“ nur spärlich die Zahlungsunfähigkeit des Andenstaates.

Teilzahlung verweist auf „Teil“-Bankrott

Was genau war geschehen? Mahuad, der sich seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres um Neuverhandlungen mit dem Pariser Club bemüht, hatte auf massiven innenpolitischen Druck gegen seine rigorose Austeritätspolitik folgende Lösung des Schuldenproblems vorgeschlagen: Von den Ende August fälligen 98 Millionen US-Dollar an Zinszahlungen sollte Ecuador seiner Ansicht nach nur rund die Hälfte begleichen. Bedient werden sollten nur jene Titel, die nicht durch Nebensicherheiten der US-amerikanischen Regierung gedeckt seien. Die Besitzer der anderen Hälfte an Schuldtiteln sollten ihre Ansprüche gegenüber der US-amerikanischen Regierung geltend machen beziehungsweise diese mit ihr neu verhandeln, und mit den neuen Konditionen zu einer Reduzierung der ecuadorianischen Schuldenlast beitragen.
Dieser dramatische Appell an die internationale Finanzwelt, Ecuador angesichts der erdrückenden Auslandsschulden – sie überschreiten mit über 13 Milliarden US-Dollar inzwischen das jährliche Bruttoinlandsprodukt – ein wenig Spielraum zum Atmen zu verschaffen, bewirkte das genaue Gegenteil: Über ein Drittel der Brady-Bonds-Halter, unter denen sich neben Gläubigern aus den westlichen Industriestaaten auch nicht wenige ecuadorianische Prominente aus Politik und Wirtschaft befinden, sprach sich gegen Neuverhandlungen aus und votierte stattdessen sogar für eine sofortige beschleunigte Begleichung ihrer Schuldtitel. Nur ein Fünftel von ihnen kam dem Appell Mahuads nach und hatte eine Schuldendeckung durch Nebensicherheiten in Erwägung gezogen.
Insgesamt belaufen sich Ecuadors Brady-Anleihen auf rund sechs Milliarden US-Dollar; im Staatshaushalt der laufende Periode waren für ihre Zinszahlungen allein 278 Millionen US-Dollar veranschlagt, wobei der Schuldendienst insgesamt einen Anteil von 42 Prozent des Budgets einnimmt – der höchste Anteil in der Region.

Soziale Unruhen nach freiem Fall des Sucre

Das Zuschnappen der Schuldenfalle und in deren Folge heftige soziale Unruhen scheint angesichts dieser Zahlen in Ecuador nur eine Frage der Zeit: Während die Regierung Mahuad noch bis zur letzten Minute alles daran setzte, ihre Kreditwürdigkeit gegenüber der Weltöffentlichkeit auf Kosten der ecuadorianischen Bevölkerung zu verteidigen und auf diesem Wege die wirtschaftliche Konsolidierung des Landes zu erreichen, fordert die in der indigenen Bevölkerung fest verankerte Oppositionspartei Pachakutik immer vehementer den sofortigen Stop aller Schuldendienstzahlungen – und im übrigen auch den Rücktritt Mahuads. Bereits das zweite Jahr in Folge liegt Ecuador mit nunmehr fast 60 Prozent Inflation an trauriger erster Stelle unter den lateinamerikanischen Staaten. Anfang März hatte die ecuadorianische Zentralbank nach monatelangen Stützkäufen den Wechselkurs der Landeswährung Sucre freigegeben und ihn dem freien Fall überlassen. Nur ein über Nacht angeordneter „Bankfeiertag“, der alles in allem auf neun Tage ausgedehnt wurde, sowie das sofortige Einfrieren aller Dollar-Konten konnten einen Crash des Bankensystems abwenden; die Dollarisierung greift stetig um sich. Über sechzig Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung leben bereits jetzt unter der Armutsgrenze. Die verheerenden Unwetterschäden durch das Klimaphänomen El Niño im vergangenen Jahr haben die durch anhaltend niedrige Preise von Ecuadors wichtigstem Exportprodukt Erdöl ohnehin äußerst angespannte wirtschaftliche Situation noch verschärft: Für das Bruttosozialprodukt zeichnet sich in diesem Jahr immer deutlicher ein Negativwachstum von mindestens sieben Prozent ab, auch wenn sich der Trend anziehender Ölpreise in Folge der von der OPEC beschlossenen Förderdrosselungen fortsetzt.

Massiv ansteigende Armutskriminalität

Analog zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Indikatoren haben Kriminalität und Gewalttaten in dem lange Zeit neben den Nachbarstaaten Kolumbien und Peru als friedlich-verschlafen geltenden Andenstaat massiv zugenommen. In der Hafenstadt Guayaquil, seit jeher Ecuadors „heißestes Pflaster“, wurde seit Anfang des Jahres mehrfach der lokale Ausnahmezustand ausgerufen, der das Militär befugt, die örtliche Polizei bei der Bekämpfung der „Alltagskriminalität“ zu unterstützen. Die Anzahl der auf Privatpersonen zugelassenen Schußwaffen hat sich in den letzten Monaten vervielfacht, ein erschreckender Trend, zumal die registrierten Waffenbesitzer aller Wahrscheinlichkeit nach nur einen Bruchteil darstellen. Das Ausmaß des sozialen Elends manifestiert sich ebenfalls deutlich in den Zahlen ecuadorianischer illegaler ImmigrantInnen, die an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze aufgegriffen und zurückgeschickt werden: Seit Anfang des Jahres ist auch diese Zahl deutlich in die Höhe geschossen.
Mitte Juli kam es, wie auch schon Anfang des Jahres, nach der Verabschiedung eines Maßnahmenbündels im Parlament, das unter anderem eine 35prozentige Erhöhung der Strompreise und die Aufhebung der Benzinpreisbindung vorsah, zu landesweiten Massenprotestkundgebungen und Streiks, gegen die die Einsatzkräfte brutal vorgingen. Eine wichtige Rolle im Rahmen dieser Kundgebungen spielte dabei die Frente Popular, ein nationales Bündnis verschiedener Bürgerrechtsinitiativen, unter denen sich vor allem die studentischen Gruppen hervortun. Der einträchtige Protest u.a. zusammen mit Anhängern der Oppositionsparteien, Gewerkschaften und der indigenen Bewegung erinnerte nicht wenig an den Sturz des populistischen Präsidenten Abdalá Bucarám vor rund zwei Jahren, dem eine Konstellation aus vehementen Massenprotesten und einem Kongreß, der die Gunst der Stunde für eigene Interessen zu nutzen wußte, zum Verhängnis geworden war.
Doch auch das rechte Spektrum hat Präsident Mahuad, der Christdemokrat und ehemals beliebte Bürgermeister der Hauptstadt Quito, geschlossen gegen sich. Eine noch größere Gefahr politischer Destabilisierung geht ohne Zweifel von seinen in Guayaquil unter der Federführung von Ex-Präsident León Febres-Cordero und Ex-Präsidentschaftskandidat Jaime Nebot zusammengeschlossenen wohlhabenden Gegnern aus. Angesichts unterschwelliger Mutmaßungen über einen möglichen Staatsstreich Ende Juli nahm Mahuad die von dieser Gruppe am schärfsten kritisierten Maßnahmen zumindest zum Teil zurück, nämlich die Erhebung einer einprozentigen Steuer auf alle Finanztransfers und vor allem das Einfrieren aller Dollar-Konten. Der landesweite Transportstreik führte dazu, daß auch die Benzinpreiserhöhung von 13 Prozent zurückgenommen wurde und das Niveau bis Dezember konstant bleiben soll.

Haushaltsentwurf trägt die Handschrift des IWF

Gleichzeitig bittet Mahuad jedoch die ecuadorianische Bevölkerung um Verständnis für noch einschneidendere Maßnahmen: Anfang September legte der inzwischen wie dieses Jahr schon mehrere seiner Amtsvorgänger zurückgetretene Wirtschaftsminister Guillermo Lasso dem Kongreß einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2000 vor, der die Senkung der Inflationsrate von derzeit rund 60 Prozent auf 25 bis 30 Prozent vorsieht, das Negativwachstum des Bruttoinlandsproduktes umkehren will und sogar ein Wachstum von 2,5 bis 3 Prozent anstrebt. Außerdem soll das Haushaltsdefizit von 7 auf 2,5 Prozent gesenkt werden. Tragende Säule dieses ehrgeizigen Entwurfes ist eine grundlegende Steuerreform, die vor allem leicht erhebbare Steuern, wie etwa die Mehrwertsteuer, ausweiten und die Erhebung anderer, wie etwa der Einkommenssteuer, rigoroser durchsetzen will. Experten schätzen, daß derzeit über 60 Prozent der zu zahlenden Einkommensteuern de facto nicht erhoben beziehungsweise ihre Zahlung nicht durchgesetzt wird.
Von diesen strengen Auflagen ist wiederum eine endgültige Einigung mit dem IWF abhängig, der einen Standby-Kredit in Höhe von 400 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt hat, dem eine weitere Milliarde US-Dollar von anderen Gläubigern folgen würde. Doch darin, daß sie diesem Vorschlag auf gar keinen Fall zustimmen werden, sind sich die drei großen Oppositionsparteien im Kongreß einig, so daß die Möglichkeit der Umschuldung noch in den Sternen steht. Die regierende christdemokratische DP verfügt über keine Mehrheit im Kongreß und ist somit seit jeher auf vorübergehende Bündnisse – vor allem mit der neoliberalen PSC – angewiesen. Die für das nächste Jahr anstehenden Parlamentswahlen werfen jedoch schon jetzt ihre Schatten voraus: Da Mahuads Vertrauensbonus seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres drastisch zusammengeschmolzen ist, distanzieren sich nun selbst Abgeordnete aus den eigenen Reihen, um ihre Wiederwahl nicht zu gefährden. Für die Bedienung der Auslandsschulden sind im derzeit diskutierten Haushaltsentwurf nunmehr 38 Prozent des Budgets vorgesehen.

Hartes Durchgreifen gegen einen Präzedenzfall

Obwohl die 98 Millionen US-Dollar, um die es derzeit geht, vergleichsweise gering sind, reagierte die internationale Finanzwelt mit äußerster Härte auf die Ankündigungen Ecuadors. Zum einen handelt es sich bei den Haltern der Brady-Bonds nicht, wie es Ende der achtziger Jahre der Fall war, in erster Linie um Geschäftsbanken, die säumige Kredite abschreiben können, zum anderen besteht vor allem die Sorge, daß andere größere Schuldner der Region sich auf einen Präzedenzfall berufen könnten. Schließlich hat von den drei größten lateinamerikanischen Schuldnern Argentinien, Brasilien und Mexiko nur letzterer seine Schuldenquote, das heißt das Verhältnis von Auslandsschulden zu den Exporterlösen, seit Ende der achtziger Jahre zumindest von 151 auf 119 Prozent senken können. Das für November angesetzte Gipfeltreffen der lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs in Havanna zur Finanzlage Lateinamerikas in einer globalisierten Wirtschaft hat in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen in Ecuador erheblich an Brisanz gewonnen.
Zynisch betrachtet hat Ecuadors wirtschaftlicher Kollaps, der sich immer deutlicher abzeichnet, ja auch einen handfesten Vorteil: Beim Wirtschaftsgipfel in Köln war Ecuador bei Erwägungen zum Schuldenerlaß ausgeklammert worden, da es den Indikatoren nach nicht zur Kategorie der ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder der Welt zählte. Diesem Ziel immerhin dürfte es in den letzten Monaten einen gewaltigen Schritt näher gekommen sein.

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