Nummer 430 - April 2010 | Uruguay

Ein kleines Land mit großen Visionen

Der neue Präsident José „Pepe“ Mujica hat nun die Chance, den Plan von einer solidarischen Gesellschaft umzusetzen

Am 1. März 2010 hat der uruguayische Präsident José „Pepe“ Mujica seine fünfjährige Amtszeit angetreten. Den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft, eine Reform des Staates, die Halbierung der Armut im Land sowie die Stärkung des Staatenbündnisses Mercosur hat er sich für seine Regierung vorgenommen. Alles das im Konsens mit den Oppositionsparteien: Mujica will der „gewählte“, das heißt für ihn das Volk vertretende, Präsident aller UruguayerInnen sein.

Stefan Thimmel

Der ehemalige Blumenzüchter und Stadtguerillero ist Präsident. In Anwesenheit von sieben lateinamerikanischen Staatschefs, darunter Hugo Chávez, Cristina Fernández de Kirchner, Luiz Inácio Lula da Silva, Rafael Correa, Evo Morales und Fernando Lugo, sowie der US-Außenministerin Hillary Clinton legte der 74-jährige José „Pepe“ Mujica vor dem uruguayischen Parlament, in dem in beiden Kammern das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio die Mehrheit stellt, den Amtseid für seine fünfjährige Präsidentschaft ab. Im Gegensatz zu Chile, wo die Mitte-Links-Regierung durch einen rechten Präsidenten abgelöst wurde, steht Uruguay insofern für linke Kontinuität. Dabei gibt es aber auch im 3,4 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land am Rio de la Plata auf den ersten Blick verwunderliche Widersprüche. In internationalen Wirtschaftskreisen wird das Investitionsklima in Uruguay gelobt und der Luxusreiseanbieter Art of Travel preist Uruguay als Jetset-Destination. Auf der anderen Seite wird ein ehemaliger Tupamaro-Guerillero und unkonventioneller, sich selbst als Anarchist bezeichnender Autodidakt zum Staatspräsidenten gewählt. Jetset und Pepe Mujica sind (und bleiben es mit Sicherheit auch) ein unauflösbarer Widerspruch, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich auch an. Dafür ist auch Guido Westerwelle ein Beispiel. Der liberale Bundesaußenminister, der sich im März 2010 für wenige Stunden auf Staatsbesuch in Montevideo aufhielt, zeigte sich beeindruckt vom ehemaligen Stadtguerillero, der in den 1960er Jahren Banken ausraubte, und will die bilateralen Beziehungen ausbauen. Ausländische Investoren haben vom neuen Staatspräsidenten jedenfalls nichts zu befürchten. Dafür sorgt auch Mujicas Vize Danilo Astori, der mächtige ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister unter der Regierung Tabaré Vázquez, der die ökonomischen Leitlinien des Landes bestimmt und durchgesetzt hat, dass die entsprechenden Schlüsselministerien mit seinen Getreuen besetzt wurden.
Der Präsident selbst will sich dagegen vor allem um die Außen-, die Innen- und die Sozialpolitik kümmern. Und in allen drei Bereichen hat er schon in seinen beiden Antrittsreden am 1. März klare Signale gesetzt. Einmal in seiner Rede vor beiden Kammern des Parlamentes, als er sichtlich bewegt von seiner Ehefrau Lucía Topolansky, der amtierenden Parlamentspräsidentin, ins Amt eingeführt wurde und danach bei der erstmals in der Geschichte des Landes unter freiem Himmel durchgeführten Übergabe der Präsidentenschärpe vor dem Denkmal für den Staatsgründer José Gervasio Artigas auf dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen von Montevideo.
In Bezug auf die Außenpolitik ist für ihn die Stärkung des Mercosur, des gemeinsamen Marktes von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay (und demnächst auch Venezuela) eine Herzensangelegenheit, für die er kämpfen will „bis dass der Tod uns scheidet“. Zudem will er im „Bicentenario“-Jahr, in dem 200 Jahre Unabhängigkeit in Lateinamerika gefeiert wird, den Traum von der „Patria Grande“, der Einheit Lateinamerikas wieder beleben.
In der Innenpolitik skizzierte er für seine Amtszeit vier Schlüsselbereiche: Bildung, Energie und Infrastruktur, Umweltschutz und Innere Sicherheit. Bei diesen Themen will er auch die Opposition einbeziehen und schon vor dem 1. März wurden vier parlamentarische Kommissionen eingerichtet, in denen Mitglieder aller vier im Parlament vertretenen Parteien und Bündnisse im Konsens Leitlinien erarbeiten sollten. Etwas, das bis auf den Komplex Innere Sicherheit auch schon im Vorfeld der Amtsübergabe gelungen ist.
In der Sozialpolitik ist der „Plan Habitacional“, ein Projekt zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation für die armen Bevölkerungsteile das Kernprojekt seiner Politik. Mit der „Operación Solidaridad“, wie das Vorhaben auch genannt wird, will Mujica ebenso einen Schwerpunkt setzen, wie es sein Vorgänger Tabaré Vázquez mit dem „Plan Ceibal“ getan hat, durch den 390.000 SchülerInnen an öffentlichen Schulen mit einen Laptop versorgt wurden. Ein Projekt, das auch international große Beachtung fand und in das die erste linke Regierung in der Geschichte des Landes 130 Millionen US-Dollar investierte. Mit dem Vorhaben will Mujica sein Versprechen einlösen, die Armut zu bekämpfen und den Anteil der UruguayerInnen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, binnen fünf Jahren zu halbieren. Dabei will er neue Wege gehen und die Gesundheitsversorgung, die Bildungschancen und die Arbeitsbedingungen verbessern – vor allem aber eine neue solidarische Bewegung initiieren, um die soziale Kluft zu verringern. Alle Sektoren der Gesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, StudentInnen, Gewerkschaften, Unternehmen, die Staatsbetriebe und das Militär sollen einbezogen werden. Für Lucía Topolansky, „Primera Dama“ im Staat und Senatorin für die Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP), dem politischen Sektor Mujicas innerhalb des Linksbündnisses Frente Amplio, geht es dabei um viel mehr als um einen Plan für die Verbesserung der Wohnungsversorgung: „Es ist eine große Schlacht für die soziale Integration“. Vor allem an die Solidarität aller UruguayerInnen soll dabei appelliert werden und alle sollen ihren Beitrag leisten, unter anderem durch Freiwilligen-Arbeit und Spenden. Mujica selbst ist dabei schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Über 80 Prozent seines Präsidentengehaltes will er auf das Konto einer Stiftung überweisen, die solidarische Projekte realisieren soll (mit den restlichen 20 Prozent unterstützt er bedürftige Verwandte). Durchgeführt wird das Programm vom Sozialministerium, an dessen Spitze mit der Kommunistin Ana Vignoli eine Sozialarbeiterin steht, die langjährige Arbeitserfahrungen in den Elendsvierteln gesammelt hat.
Ein weiteres Hauptanliegen Mujicas ist eine Staatsreform. Schon Tabaré Vázquez bezeichnete eine Reform des uruguayischen Staates als Mutter aller Reformen, grundlegend angegangen wurde der Umbau des sprichwörtlich bürokratischen Staatsapparates aber unter dem ehemaligen Präsidenten nicht. Bei diesem Thema hat Mujica jedoch schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit Gegenwind verspüren müssen. Vor allem die Gewerkschaften der Staatsangestellten haben Widerstand gegen den geplanten Personalabbau angekündigt und hier wird die auch von seinen politischen Gegnern anerkannte Dialogfähigkeit Mujicas („Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Wichtig ist, immer Brücken zu bauen und niemals Türen zuzuschlagen, sondern sie zu öffnen“, so sein Credo) vor ihre erste große Bewährungsprobe gestellt werden.
Auf Dialog setzt Mujica, der unter der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 als „Geisel des Staates“ fast zwölf Jahre eingekerkert war, auch beim Umgang mit den Streitkräften. Zusammen mit dem Verteidigungsminister Luis Rosadilla und dem Innenminister Eduardo Bonomi, beide als ehemalige Tupamaros ebenfalls viele Jahre unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, will er die Militärs (die er für „unentbehrlich“ hält), besser entlohnen und sie stärker in gesellschaftliche Aufgaben im Land einbeziehen. Von Personalabbau wie bei den Staatsangestellten ist bei der Armee keine Rede. Dabei halten KritikerInnen des Militärs die Personalstärke von 30.000 Armeeangehörigen für ein Land mit 3,4 Millionen EinwohnerInnen für völlig überdimensioniert. Dieser versöhnliche Umgang mit seinen ehemaligen Folterern (nicht wenige Armeeangehörige, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, begleiten auch 25 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur noch hohe Posten) sowie seine Aussage, dass er „keine Alten im Gefängnis“ sehen will, hat ihm heftigen Widerspruch von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Angehörigen der Ermordeten und der „Verschwundenen“ eingebracht.
Am 9. Mai 2010 wird in Uruguay wieder gewählt. In den 19 Provinzen des Landes stehen die Wahlen für die Lokalregierungen an. Erstmals werden dabei auch BezirksbürgermeisterInnen in den Städten des Landes gewählt. In Montevideo, das seit 1990 von der Frente Amplio regiert wird, gibt es dabei zwei Besonderheiten. Erstmals kandidiert für die Linke mit Ana Olivera eine Frau und ebenfalls erstmals mit der ehemaligen Vize-Sozialministerin ein Mitglied der Kommunistischen Partei als Oberbürgermeisterin. In der Hauptstadt des Landes, in der 1,5 Millionen Menschen leben und in den weiteren bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes kann die Frente Amplio ihren Triumph von 2005, als sie in acht Provinzen gewinnen und somit über 75 Prozent der Bevölkerung regieren konnte, wiederholen. Gerade im Hinterland, das von den traditionellen Parteien immer vernachlässigt wurde, spielt der Mujica-Faktor die entscheidende Rolle. Die Lebenssituation der Menschen auf dem Land in Uruguay, das lange auch als „eine Stadt mit Bauernhöfen im Hinterland“ bezeichnet wurde, hat sich in den letzten fünf Jahren ökonomisch deutlich verbessert. Nicht zuletzt von der „Operación Solidaridad“ ihres Präsidenten „Pepe“, der ihre Sprache spricht und der sich bei der Arbeit auf seinem Feld erholt, versprechen sich die LandarbeiterInnen sowie die Kleinbauern und -bäuerinnen eine bessere Zukunft.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren