Literatur | Nummer 443 - Mai 2011

Ein Meilenstein der argentinischen Literatur

Rodolfo Walshs “Operación Masacre” von 1957 ist in exzellenter Neuübersetzung erschienen

Aus dem Vorwort: “Ich weiß nicht, was mich an dieser obskuren, verworrenen, mit Unwahrscheinlichkeiten gespickten Geschichte reizt. Ich weiß nicht, weshalb ich mich darum bemühe, mit diesem Überlebenden sprechen zu können, weshalb ich gerade dabei bin, mit Juan Carlos Livraga zu sprechen. Aber dann weiß ich es. Ich sehe dieses Gesicht, das eine Loch in der Wange, das größere Loch in der Kehle, den eingefallenen Mund und den stumpfen Blick der Augen, auf denen seit damals ein Todesschatten liegt.”

Valentin Schönherr

Rodolfo Walsh könnte heute noch leben. Er wäre mit seinem Jahrgang 1927 fast genauso alt wie Gabriel García Márquez oder Carlos Fuentes, die unter uns sind, und 16 Jahre jünger als Ernesto Sabato, der soeben, am 30. April, im Alter von fast 100 Jahren gestorben ist. Walsh wurde nur fünfzig – am 25. März 1977 lauerte ihm mitten in Buenos Aires ein bewaffnetes Kommando der Militärdiktatur auf. Zeugen haben ausgesagt, sie hätten seine von Gewehrkugeln durchsiebte Leiche gesehen. Die lange Zeit behauptete Version vom Selbstmord im Angesicht der Militärs dürfte damit hinfällig sein.
Das Buch “Operación Masacre”, mit dem ihm 1957 der Durchbruch als Schriftsteller gelang, hat mit seiner Ermordung zumindest indirekt viel zu tun. Denn hier kam ein Autor zu seinem Stoff, hier konnte er seine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen. Fähigkeiten, die er bereits vorher zu erkennen gegeben hatte: als Verfasser knapper, poetischer Kriminalerzählungen (siehe die Besprechung eines kürzlich erschienenen Auswahlbandes in LN 435/36), aber auch investigativer Zeitungsbeiträge. Im “Massaker von San Martín”, wie es in der nun vorliegenden Neuübersetzung im Rotpunktverlag heißt, findet Walsh für seine penible Recherche über einen politischen Mordfall eine vollendete sprachliche Form: klar, rhythmisch, kraftvoll. Eine Sprache, die er in den zwanzig Jahren, die ihm verbleiben sollten, immer wieder gebraucht hat und mit der er dann die Militärjunta frontal angriff.
Der Fall im “Massaker von San Martín” ist heute eine kleinere Episode in der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und wäre nur noch SpezialistInnen bekannt, hätte Walsh nicht darüber geschrieben. Er gehört in die Zeit, nachdem Juan Domingo Perón 1955 unter Gewaltandrohungen der Armee ins Exil gegangen war. Die sogenannte “Befreiungsrevolution” unter Präsident Aramburu wurde zunächst von vielen positiv aufgenommen, gerade von vielen Intellektuellen, unter ihnen Rodolfo Walsh, die Gegner Peróns gewesen waren.
Eine peronistische Verschwörergruppe unter den Generälen Tanco und Valle rief allerdings für die Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1956 zum Umsturz auf. Der Putsch scheiterte. Polizei- und Militäreinheiten griffen überall rabiat durch, unter anderem auf einem Grundstück, auf dem General Tanco vermutet wurde. Ihn fand man nicht, nahm aber die Anwesenden, ein Dutzend Personen, kurzerhand fest. Sie wurden auf eine Polizeistation verbracht und in den frühen Morgenstunden des 10. Juni auf einem offenen Gelände außerhalb von Buenos Aires erschossen.
Im Vorwort zum “Massaker von San Martín” erzählt Walsh von seiner Beziehung zu diesen Ereignissen. Auch in La Plata hatte es gegen Mitternacht Schießereien gegeben, die ihn am Kaffeehaustisch überraschten, an dem er Schach zu spielen pflegte. Als alles vorbei war, schien sich für ihn nichts verändert zu haben, bis er ein halbes Jahr später an eben diesem Tisch erfuhr, dass ein Mann, Juan Carlos Livraga, die Erschießung überlebt habe. Was nun folgt, ist die Wandlung eines Autors im Prozess der Recherche und der Niederschrift. Er beginnt Livraga nachzuforschen, erfährt, dass es noch weitere Überlebende gegeben hat – am Ende werden es von den Zwölfen sogar sieben sein, die entkommen konnten -, und erkennt vor allem, dass der gesamte Vorgang geltendes Recht missachtet hatte. Zwar war in jener Nacht das Standrecht verkündet worden, wonach Erschießungen ohne Prozess möglich gewesen wären. Die Verhafteten waren jedoch vor Inkrafttreten des Standrechts aufgegriffen worden. Und die meisten von ihnen hatten mit dem Aufstand nicht das geringste zu tun. Ein Massaker an Zivilisten also.
Zunächst in einer Folge von Zeitungsartikeln, im Dezember 1957 dann als Buch, hat Walsh die Vorgänge akribisch an die Öffentlichkeit gebracht, einen Prozess gegen die Verantwortlichen begleitet und schließlich erschüttert feststellen müssen, dass nicht einmal nachträglich dem Recht zur Geltung verholfen wurde. Während das juristische Resultat gleich Null war, war das politische für die Person Walsh und das literarische immens groß. Walsh wurde schon 1959 Gründungsmitglied der revolutionären kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina – sogar die Entschlüsselung der CIA-Geheimcodes für den Angriff auf die Schweinebucht 1961 ging auf ihn zurück -, und Anfang der siebziger Jahre nahm er an der Montonero-Guerilla in Argentinien teil.
Literarisch besteht die Leistung von Walsh darin, ein neues Genre entwickelt zu haben: den Tatsachenbericht. Angesiedelt zwischen Sachbuch, Reportage und historischem Roman, “verzichtet er … auf die Fiktion als Mittel künstlerischer Wahrheitssuche”, wie der Übersetzer und Herausgeber Erich Hackl es im Nachwort definiert: “Der Fiktionalist haftet nicht für seine Fabel, er begreift die von ihm erfundene Welt als Versuchsanordnung, er spielt mit den Versatzstücken der Realität und bleibt mit seinem Spiel im Rahmen des Zulässigen. Der politische Dokumentarist hingegen lässt, was ernst ist, ernst sein. Er denunziert, er attackiert, er bringt was an den Tag. Aber er ist in den Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung stärker eingeschränkt – durch die Verantwortung gegenüber seinen Personen, die keine Figuren sind, und durch die Notwendigkeit, den überlieferten Tatsachen treu zu bleiben.”
Die Schwierigkeiten dieses Genres liegen auf der Hand. Die Geringschätzung von allen, nach deren Überzeugung Literatur fiktional sein muss, ist schon mal garantiert. Aber auch wer dokumentarisch schreiben will, braucht eben beides, das literarische Können und den analytischen Blick für den Gegenstand.
Gerade deswegen ist die Neuübersetzung dieses Buches von so herausragender Bedeutung. Das liegt vor allem an Erich Hackl, der Idealbesetzung für die Vermittlerrolle. Hackl ist davon überzeugt, dass ein übersetzter Text nur dann gut ist, wenn er so flüssig und stimmig gelesen werden kann, als sei er in dieser Sprache geschrieben. Diesen Anspruch löst er auf mitreißende Weise ein, schwer übersetzbare Gerichtsdokumente und Zeitungsauszüge inklusive. Denn nicht nur Walsh ist ein guter Schriftsteller, Hackl ist es auch, dazu noch einer, der sich selbst ebenfalls als Dokumentarist versteht und sich in Romanen wie “Abschied von Sidonie”, “Sara und Simón” oder “Als ob ein Engel” der Aufgabe gestellt hat, “Verantwortung gegenüber seinen Personen” zu übernehmen, “die keine Figuren sind”.
Schließlich ist es die sorgfältige Zusammenstellung einiger aufschlussreicher Vorworte und Anhänge, die Walsh für die diversen Ausgaben von “Operación Masacre” verfasst hat, sowie das pointierte Glossar, das dieses bedeutende Buch auch zu einem Meilenstein der argentinischen Literatur in deutscher Übersetzung werden lässt.

Rodolfo Walsh // Das Massaker von San Martín // Aus dem Spanischen von Erich Hackl // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 253 Seiten // 19,50 Euro // www.rotpunktverlag.ch

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