Kolumbien | Nummer 491 - Mai 2015

Ein Raum abseits der Gewalt

Interview mit José Luis Campo von der Organisation Benposta über Kinder im kolumbianischen Binnenkonflikt

In Kolumbien sind schätzungsweise 11.000 Kinder aktiv in den bewaffneten Konflikt involviert. Darüber hinaus sind mehrere Millionen Kinder und Jugendliche direkt oder indirekt von den Auswirkungen des Konfliktes betroffen, vor allem durch Vertreibungen und Perspektivlosigkeit. Die LN sprach mit José Luis Campo, Koordinator des sozialen Projektes Benposta, über Zukunftsaussichten der vom Konflikt betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie über den pädagogischen Ansatz in der „Kinderrepublik“.

Interview: Madlen Haarbach

In Benposta leben Kinder aus unterschiedlichen Regionen und sozialen Kontexten zusammen und organisieren sich größtenteils selbst. Welchen Ansatz verfolgt das Projekt, um die Kinder in die Gesellschaft zu integrieren?
Unser hauptsächliches Ziel ist es, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem die Mädchen und Jungen Subjekte des Prozesses sind. Das heißt, Benposta bricht mit der klassischen pädagogischen Ansicht, wonach die Kinder Empfänger bestimmter Aktivitäten und Lehren sind. Gleichzeitig versuchen wir, mit Stigmatisierungen zu brechen. Wenn man Kinder als verlassen, arm oder obdachlos betrachtet, behandelt man sie auch ausgehend von dieser Klassifizierung heraus. Benposta hingegen sieht die Kinder als soziale Subjekte, die Opfer bestimmter struktureller Situationen sind. Die sozialen Strukturen sind es, die die Kinder bestimmter Rechte berauben. Wir versuchen, den Kindern einen Raum zu bieten, in dem sie selber ihre Rechte rekonstruieren können.

Welche sozialen Strukturen sind das genau?
Kinder, die zum Beispiel in Städten wie Buenaventura (Anm. d. Red.: Buenaventura ist die wichtigste Hafenstadt Kolumbiens und Hauptaustragungsort verschiedener Gangkonflikte) aufwachsen, leben meist in einer ständigen Mischung aus Gewalt und Problematiken wie Drogenhandel und -konsum. In anderen Teilen des Landes leben Jungen und Mädchen auf abgelegenen Farmen, oft mehrere Stunden von der nächsten Ortschaft entfernt. Dort haben sie keine Schule, keine Gesundheitsversorgung, schlicht keine Möglichkeit, ihre Zukunft zu gestalten. Wenn diese Kinder 13, 14 Jahre alt werden, bieten ihnen die bewaffneten Akteure die einzigen Möglichkeiten, die ihnen noch bleiben. Also sind sie quasi gezwungen, Koka anzubauen oder sich den verschiedenen paramilitärischen oder Guerilla-Gruppen anzuschließen.

In Ihrer Einrichtung befinden sich Mädchen und Jungen aus vielen verschiedenen Regionen, sozialen und kulturellen Gruppen, auch mit unterschiedlichen Erfahrungen von Gewalt – wie wird damit umgegangen?
Die Vergangenheit und Lebenswirklichkeit von Kindern, die in den Städten aufgewachsen sind, ist natürlich ganz anders als zum Beispiel die von indigenen Jungen und Mädchen aus der Region Cauca oder von Kindern, die auf abgelegenen Farmen in der Region Catatumbo aufgewachsen sind. Hier leben außerdem sowohl Kinder, die auf Seiten der Guerilla gekämpft haben, als auch ehemalige Mitglieder paramilitärischer Gruppen. Dennoch gab es in dieser Hinsicht nie Probleme. Die Leitidee ist, die Mädchen und Jungen in der Gegenwart und bei der Konstruktion ihrer Zukunft zu unterstützen – deswegen spielt ihre Vergangenheit keine Rolle. Die Idee dahinter ist, dass nicht die Kinder das Problem sind, sondern der gesellschaftliche Kontext, der sie umgibt.

Was unternehmen Sie, um die Lage der Kinder in Kolumbien zu verbessern?
Die Resolution 1612 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sieht vor, dass die Situation der Kinder, die Opfer des bewaffneten Konfliktes sind, in Kolumbien überwacht werden soll. Benposta ist eine der Organisationen, die Daten über Verstöße gegen die Resolution, zum Beispiel Angriffe auf Schulen oder Fälle von Zwangsrekrutierung Minderjähriger, an die UNO weiterleiten. Außerdem haben wir erreicht, dass zwei ehemalige Mitglieder des Projektes, die mittlerweile erwachsen sind, nach Havanna zu den Erklärungen der Opfer im Rahmen des Friedensprozesses reisen konnten. Sie haben dort die Stimme der Kinder vertreten und eine Videobotschaft von über 60 Kindern überreicht.

Wie sehen Sie die Rolle der Kinder bei den derzeitigen Friedensverhandlungen zwischen den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung?
Rein aus logistischen Gründen ist die Teilnahme von Kindern an den Friedensverhandlungen nicht vorgesehen, da alle Entsandten mindestens 18 Jahre alt sein müssen. Anhand der erwähnten Videobotschaft und einiger Kampagnen, die verschiedene Kinderrechtsorganisationen zeitgleich in Kolumbien durchgeführt haben, haben wir allerdings ein paar Zugeständnisse erreicht. So haben die FARC beispielsweise öffentlich erklärt, keine Kinder unter 17 Jahren mehr zwangsrekrutieren zu wollen und alle von ihnen rekrutierten Kinder auszuhändigen. Inwiefern diese und andere Erklärungen umgesetzt werden, bleibt allerdings abzuwarten.

Werden in diesen Erklärungen der Guerilla oder auch der Regierung die Jungen und Mädchen als Opfer des Konfliktes anerkannt?
In diesem Punkt gibt es noch viele Unsicherheiten. Historisch wurden Kinder in allen bisherigen kolumbianischen Friedensverhandlungen unsichtbar gemacht. Dadurch wurde ihnen das grundlegende Recht auf Reparation verweigert. Sollten tatsächlich alle Jungen und Mädchen, die von dem Konflikt betroffen sind, als Opfer anerkannt und entschädigt werden, wären die Kosten un-überschaubar. Allerdings würden sich diese Kinder andererseits später nur anderen bewaffneten Gruppen anschließen. Denn dass mit einer Guerilla über den Frieden verhandelt wird, heißt nicht automatisch, dass sich die generelle Situation im Land verbessert.

Welche Hoffnungen haben Sie für den sogenannten Postkonflikt – jene Zeit nach der Überwindung der Gewalt durch einen geachteten Friedensvertrag?
Natürlich sehen wir den Friedensprozess als einen entscheidenden Schritt. Allerdings reden wir nicht, wie die Regierung es tut, vom möglichen Postkonflikt – sondern von Postvereinbarungen. Denn genau darum handelt es sich. Dass die Regierung gerade mit einer der vielen bewaffneten Gruppen verhandelt und es bestimmte Fortschritte gibt, bedeutet nicht, dass der Konflikt in den Regionen beendet wäre. Die Rekrutierungsraten von Kindern und Jugendlichen sind gleichgeblieben und es tauchen ständig neue bewaffnete Gruppierungen auf, die es vorher nicht gab.

Welche Perspektive haben die Kinder also für die Zeit nach den Friedensverhandlungen?
Was nach den Verhandlungen kommt, wenn der Prozess der Konstruktion des Friedens beginnt, bleibt abzuwarten. Wenn man die Realität der Regionen kennt, in denen es keine Schulen, keine Gesundheitsversorgung, einfach gar nichts gibt, fragt man sich: Was passiert mit den Kindern, die heute in den Konflikt involviert sind? Wohin kehren sie zurück? Wird es ihnen nach dem Konflikt vielleicht sogar schlechter gehen als vorher? Solange diese Kinder Teil der bewaffneten Gruppierungen sind, ist zumindest ein gewisser Standard abgesichert. Hier ist noch kein Kind, das vorher in den Konflikt involviert war, mit gesundheitlichen Problemen oder Mangelernährung angekommen – eher im Gegenteil. Das heißt, das wirkliche Problem ist nicht der Konflikt, sondern die völlige Abwesenheit des Staates in großen Teilen des Landes. Das ist der Punkt, an dem nach Ende der Verhandlungen zuerst angesetzt werden muss.

José Luis Campo
ist Philosoph und Theologe. Der Spanier lebt seit über 40 Jahren in Kolumbien, wo er die Kinderhilfsorganisation Benposta gegründet hat. Die Organisation betreut seit 1974 ein Wohnprojekt in den Bergen über der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. In der „Kinderrepublik Benposta“ leben aktuell etwa 100 Kinder und Jugendliche zwischen drei und 18 Jahren aus allen Teilen Kolumbiens, die auf verschiedene Arten und Weisen vom bewaffneten Konflikt direkt betroffen sind. Darunter befinden sich sowohl Ex-Kämpfer*innen der Guerilla und paramilitärischer Gruppen als auch Indigene, die akute Todesdrohungen erhalten haben. Innerhalb des Projektes organisieren sich die Kinder fast ausschließlich selbst und werden nur geringfügig von Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die größtenteils selbst im Projekt aufgewachsen sind, betreut.

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