Kolumbien | Nummer 505/506 - Juli/August 2016

“EIN STREIK FÜR DEN FRIEDEN”

Anstoß für eine größere Debatte über ungleiche Verteilung trifft auf mehr staatliche Repressionen

„Streiken um etwas zu verändern“, „Streiken für das gute und würdige Leben“ oder „Hoffnung säen, um Land zu ernten“: Die Mottos des landesweites Streiks, der Kolumbien für zwei Wochen lang lahmlegte, waren so vielfältig wie die Proteste selbst. Auch wenn die Medien den Protesten hauptsächlich das Etikett Agrarstreik verleihen wollten, so war es doch ein „Streik für den Frieden“. Letzlich ging es um das grundlegende Verständnis von einem zukünftigen Frieden in Kolumbien – und hier liegen die Vorstellungen der Regierung Santos und der sozialen Bewegungen weit auseinander.

Von Frederic Schnatterer
Nicht nur ein Agrarstreik - Auch ein Streik für Frieden (Foto: Camilo Ara)
Nicht nur ein Agrarstreik – Auch ein Streik für Frieden (Foto: Camilo Ara)

„Der Frieden kann nicht einfach so verhandelt werden, er muss gestaltet und aufgebaut werden.“, so Sanguinio, ein Kleinbauer aus dem Norden des Verwaltungsbezirks Santander und Präsident von Asonalcam – der Asociación Nacional de Campesinos (Nationaler Beuernverband), die mit zum landesweiten Streik aufrief. Vom 30. Mai bis zum 12. Juni protestierten über 100.000 Menschen für die Einhaltung früher getroffener Abkommen und gegen die Auswirkungen des neoliberalen Entwicklungsmodells in Kolumbien. Kleinbäuer*innen und Kleinbauern, Afrokolumbianer*innen und Indigene blockierten wichtige Verkehrsstraßen sowie den wichtigsten Hafen in Buenaventura. Studierende, Lehrer*innen und Arbeiter*innen demonstrierten, lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei und besetzten symbolisch Orte wie die Zentrale des Erdölkonzerns Ecopetrol in Bogotá. Ab der zweiten Streikwoche schlossen sich rund 35.000 Transportarbeiter*innen dem Streik an.
Aufgerufen zu dem landesweiten Streik hatte die Basisorganisation verschiedener Agrar-, Land-, sozialer und indigener Bewegungen, die Cumbre Agraria, Campesina, Étnica y Popular, zu der auch Asonalcam gehört. Das Bündnis sozialer Basisorganisationen hatte sich nach dem großen Agrarstreik 2013 gegründet. Dieser Streik konnte der Nationalregierung nach 21 durch Blockaden und Demonstrationen geprägten Tagen verschiedene Zugeständnisse abringen. In den vergangenen Jahren ist die Cumbre zu einem der wichtigsten Vertreter der sozialen Bewegungen geworden und repräsentiert viele Sektoren der kolumbianischen Gesellschaft, wobei sich ein großer Teil der Basis aus Organisationen der ländlichen Bevölkerung zusammensetzt. Die Gründung der Cumbre war jedoch auch ein bewusster Versuch, städtische Schichten in die Kämpfe zu integrieren und so die soziale Bewegung allgemein zu stärken. Auch der diesjährige landesweite Streik zeigte wieder einmal, dass die Cumbre als Sammelbecken unterschiedlicher Organisationen extrem stark und mobilisierungsfähig ist. Die Gründe dafür liegen sowohl im inneren Zusammenhalt als auch in der Heterogenität der Akteur*innen. Schon 2014 brachte es José Santos, Sprecher der Bewegung Schwarzer Gemeinschaften, des Proceso de Comunidades Negras, auf den Punkt: „Es gibt Spannungen und diese Spannungen werden sicher weiterhin existieren. Das Gute ist, dass wir nun mit der Cumbre Agraria einen Raum haben, in dem wir diese Probleme vertrauensvoll diskutieren können.“
Die Proteste waren von Beginn an einer extremen staatlichen Repression ausgesetzt. Die Bilanz des Streiks: drei Tote, 181 Verletzte sowie Dutzende Verhaftete. Straßenschlachten zwischen protestierenden Studierenden und der Aufstandsbekämpfungseinheit Esmad der Polizei. Die wichtigste Verkehrsader des Landes, die Panamericana, war eine Woche lang blockiert. Es kam zu Lebensmittelengpässen in einigen Verwaltungsbezirken, im Süden des Landes hatten Krankenhäuser Probleme, ihre Patient*innen zu versorgen. Das Innenministerium versuchte, die Proteste zu diffamieren, indem es behauptete, sie seien von der Guerrilla ELN infiltriert.
Diese über zwei Wochen die Schlagzeilen dominierenden Themen passen so gar nicht zu dem Image, das sich die Regierung von Santos dieser Tage verpassen möchte – nämlich das Bild eines Präsidenten, der das Land nach einem jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt auf den Weg des Friedens führt. Und doch stellen sie genau die andere Seite der Medaille der seit 2012 laufenden Friedensverhandlungen mit den FARC-EP dar. Der landesweite Streik zeigte mit aller Deutlichkeit: Heute geht es darum, welchen Weg Kolumbien nach einem höchstwahrscheinlich baldigen Friedensabkommen einschlagen wird und darum, wer darüber entscheiden darf.
Die sozialen Bewegungen sind der Ansicht, die Regierung sehe einen möglichen Frieden vor allem als Möglichkeit für mehr Wirtschaftswachstum und für eine Vertiefung des auf Extraktivismus basierenden Entwicklungsmodells. Heute leben 32 Prozent der Bevölkerung Kolumbiens, rund 15 Millionen Menschen, im ländlichen Raum. Diese historisch extrem diskriminierten und marginalisierten Kolumbianer*innen leben traditionell von der Landwirtschaft, was gerade in den vergangenen Jahren immer schwieriger wird. Der 2014 durchgeführte Agrarzensus stellte fest, dass 77 Prozent des Bodens im Besitz von nur 13 Prozent der Bevölkerung sind. Diese extrem ungerechte Verteilung des Landbesitzes existierte schon immer. Sie werde jedoch durch die neoliberale Politik der Regierung Santos noch weiter verschärft, so Marylen Serna, Sprecherin der Cumbre Agraria sowie des Verbands der Bäuerinnen und Bauern Congreso de los Pueblos. So zum Beispiel durch die in den vergangenen Jahren abgeschlossenen Freihandelsverträge, die „die Produktion von Lebensmitteln für den Export sowie Bergbaukonzessionen“ vorsehen. „Damit gibt es immer weniger freie Flächen, die laut Verfassung den Kleinproduzenten zustehen. Diese Flächen werden verscherbelt und damit auch unsere Zukunft“, konstatiert Serna. Diese Situation muss zudem vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts betrachtet werden, der im Zusammenhang mit Vertreibungen durch Paramilitärs und der Armee die Lage der ländlichen Bevölkerung noch verschlimmert.
Zudem monopolisieren neue Gesetze die Nutzung riesiger verfügbaren Agrarflächen oder vereinfachen den Abbau von Rohstoffen, wodurch die seit jeher extrem ungleiche Verteilung der Gebiete weiter verschärft wird. Dem stellt die Cumbre Agraria die Forderung nach einer integralen Landreform entgegen. Im acht Punkte umfassenden Forderungskatalog der Streikenden wird eine Reform gefordert, die „den Landbesitz umverteilt und demokratisiert, mit dem Großgrundbesitz als historischem Ausdruck der Ungleichheit bricht und sicheren Zugang zu Grund und Boden für diejenigen, welchen dieser verwehrt ist, garantiert.“ Ebenso soll die territoriale Autonomie für Kleinbäuer*innen, Indigene und Afrokolumbianer*innen beachtet werden. Angesichts des auf Ausbeutung und Export von Rohstoffen basierenden Entwicklungsmodells forderte der Streik einen sofortigen Stopp der Vergabe von Konzessionen an multinationale Unternehmen sowie ein Entscheidungsrecht für die betroffenen Gemeinden, auf deren Gebiete solche Projekte geplant sind. Dies ist nur ein weiteres Kapitel der unendlichen Geschichten des Widerstands in unzähligen Territorien Kolumbiens, in denen sich Menschen gegen Wasserkraft-, Bergbau- oder Infrastrukturprojekte wehren.
Insgesamt liest sich der Forderungskatalog der Cumbre Agraria wie eine Generalabrechnung mit dem neoliberalen Entwicklungsmodell Kolumbiens. Und das aus gutem Grund, wie Marylen Serna betont: „Das wirtschaftliche und politische Modell des Landes hat den bewaffneten Konflikt erst erzeugt. Es basiert darauf, unsere natürlichen Ressourcen dem internationalen Kapital zu überlassen.“ Die Regierung ist keineswegs gewillt, Gespräche über dieses Entwicklungsmodell oder das Wirtschaftssystem zu führen. Santos erklärt: „Machen Sie sich keine Sorgen. Das wirtschaftliche Modell steht nicht zur Debatte.“ Die Cumbre Agraria versucht hingegen, eine Diskussion genau darüber anzustoßen,  was durch den zweiwöchigen landesweiten Streik vorangetrieben werden konnte.
Weitere zentrale Forderungen des Streiks betreffen soziale Rechte sowie Garantien und Schutz für soziale Aktivist*innen. Seit einiger Zeit steigt die Zahl der Übergriffe paramilitärischer Gruppen auf politisch Engagierte und Menschenrechts­aktivist*innen wieder an. Obwohl offiziell demobilisiert, zeigen Paramilitärs wieder vermehrt Präsenz in mehreren Verwaltungsbezirken Kolumbiens. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres gehen 30 Morde an sozialen Aktivist*innen auf das Konto dieser Gruppierungen. Und auch die staatlichen Autoritäten zögern nicht, mit Gewalt gegen Proteste vorzugehen. Dies machten sie beim diesjährigen Streik einmal mehr deutlich. Angesichts der anhaltenden Repression gegen soziale Bewegungen werfen die Streikenden der Regierung Doppelmoral vor. Während sie international darum bemüht sei, sich als Friedensbringerin zu profilieren, unterdrücke sie im Inland jegliche Kritik mit äußerster Brutalität. So glaubt auch Sanguino, dass der Weg hin zu einem wahren Frieden noch weit ist. „Was fehlt ist die Anerkennung der sozialen zivilgesellschaftlichen Bewegungen sowie eine Abkehr von den konstanten Menschenrechtsverletzungen“.
Insgesamt zwei Wochen lang hielten die Aktivitäten des Streiks mit unverminderter Intensität an. Schließlich war die Nationalregierung dazu gezwungen, mit den Streikenden in Verhandlungen zu treten. Am Sonntag den 12. Juni verkündeten die Sprecher*innen des Streikbündnisses das Ende der Mobilisierungen. Die Kleinbäuer*innen und Kleinbauern, die Indigenen, die Afrokolumbianer*innen sowie die städtischen Aktivist*innen hätten gewonnen, so die offizielle Stellungnahme der Cumbre Agraria. Das erzielte Abkommen sieht Verhandlungen auf nationaler Ebene vor, wobei der erste Verhandlungspunkt Garantien für soziale Proteste sowie die Einhaltung von Menschenrechten betrifft. Die weiteren Punkte, die am Verhandlungstisch zwischen der Cumbre Agraria und Vertreter*innen der Regierung diskutiert werden sollen, betreffen den Bergbau- und Energiesektor, das Verhältnis von Land und Stadt, die territoriale Ordnung sowie die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess.
Die sozialen Bewegungen in Kolumbien kritisieren die Verhandlungen zwischen Regierung und FARC als elitär. Deswegen fordern sie die Beteiligung der Zivilgesellschaft sowie die Aufnahme von Gesprächen über Themen, die in den bisherigen Verhandlungen keine Rolle spielen. Marylen Serna drückt die Stimmung eines großen Teils der kolumbianischen Gesellschaft so aus: „Wir befinden uns in einem historischen Moment in Kolumbien. Die Friedensverhandlungen betreffen ja auch uns als Gesellschaft. Aber der Friedensprozess muss auch Veränderungen für die Gesellschaft bringen. Es reicht nicht aus, nur den bewaffneten Konflikt zu beenden. Vielmehr ist es notwendig, den sozialen und den ökonomischen Konflikt um Land anzugehen.“

 

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