Ecuador | Nummer 439 - Januar 2011

„Eine Alternative zur Entwicklung“

Alberto Acosta über das Konzept “Buen Vivir”, den Putschversuch gegen Rafael Correa und den deutschen Rückzieher bei der ITT-Initiative

Alberto Acosta hält das klassische Verständnis von Sozialismus seit dem Mauerfall vor 20 Jahren für überholt. Zusammen mit Indigenen hat der Ecuadorianer das alternative Konzept des Buen Vivir, das Konzept des „Guten Lebens“, entwickelt, das weltweit für Aufsehen sorgt. Die LN sprachen mit Acosta über das Projekt, den Putschversuch und Niebels Rückzieher bei der ITT-Initiative.

Interview: Jonas Henze

Wie ist die Rücknahme der Zusagen zu Yasuní-ITT von Seiten Dirk Niebels einzuordnen?
Seit der öffentlichen Vorstellung der Initiative im Jahr 2008 erhielt sie viel Unterstützung – aber auch Widerspruch, gerade innerhalb der Regierung. Insbesondere Correa selbst zweifelt immer wieder. Der deutsche Bundestag hat indes sehr wohl und zwar mit Zustimmung aller Fraktionen seine Unterstützung eindeutig beschlossen, es wurde sogar eine Studie der GTZ zur Initiative finanziert. Die – definitiv zugesagte! – Unterstützung Deutschlands war sehr wichtig für die Unterstützer der Initiative.

Sehen Sie eine Chance, dass sich an der Haltung der Bundesregierung noch etwas ändert?
Ich bin ein optimistischer Mensch. Deshalb glaube ich, dass man einen Kampf nicht verloren geben sollte, bevor er zu Ende ist. Vielleicht können wir sie im nächsten Jahr dazu bewegen, die ITT-Initiative zu unterstützen.

Und was ist mit weiteren Geldgebern?
Es gibt natürlich andere Geldgeber, zum Beispiel sind ja die Verhandlungen mit Spanien erfolgreich gewesen. Weiter vorangeschritten sind auch die Verhandlungen mit Italien. Chile hat bereits Geld eingezahlt und wird seinen Beitrag noch erhöhen. Auch Peru hat Mittel angeboten und will die Initiative sogar auf eigene Gebiete ausweiten. Und es gibt weitere Geldgeber, zum Beispiel einige Staaten der OPEC. Verhandlungen gab es wohl auch mit den USA. Aber ich bin ja nicht mehr in der Regierung, also kenne ich nicht den letzten Stand.

Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung?
Ich habe selbstverständlich immer noch Kontakt zu Regierungsmitgliedern. Viele sind meine Freunde, oft seit Jahrzehnten. Nicht gesprochen und auch nie wieder getroffen habe ich Präsident Correa.

… der die Politik der Regierung zuweilen ziemlich deutlich bestimmt.
Correa ist Ecuadors Präsident. Vor allem aber erleben wir ein personalisiertes Regierungsprojekt mit ihm als zentraler Figur: Diese Rolle geht schon auf die Zeit zurück, als wir die Kandidatur vorbereiteten. Wir hatten keine Partei oder Organisation. Damals trafen wir uns im Esszimmer meines Hauses: Dort gibt es einen Tisch mit sechs Stühlen – wir brauchten am Anfang nicht alle. Und erst nach seinen 104 Tagen als Finanzminister unter der Vorgängerregierung war Correa ein im ganzen Land bekannter Politiker. Beides zusammen erklärt, weshalb einige Dinge so verliefen: Wir mussten Correa als Identifikationsfigur aufbauen, um mit ihm die Wahlen zu gewinnen, und wir mussten eine Regierung um den neuen Präsidenten organisieren. Seit den Auseinandersetzungen um eine neue Verfassung hat sich die Regierung konsolidiert, nicht aber die politische Bewegung. Alles bewegt sich um Präsident Correa. Das ist eine der Schwächen.

Ist es ein Resultat dieser Schwäche, dass es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gibt?
Unser Programm war nie eine persönliche Agenda. Wir griffen die zuvor von sozialen Bewegungen formulierten Alternativkonzepte auf und erarbeiteten daraus ein Regierungsprogramm. In der Verfassunggebenden Versammlung waren die Forderungen der Indigenen – wie der plurinationale Staat, kollektive Rechte, das Buen Vivir und die Rechte der Natur – maßgeblich vertreten. Die sozialen Bewegungen standen dann auch hinter der neuen Verfassung. Die Spannungen begannen, als es darum ging, die neue Verfassung anzuwenden und konkrete politische Projekte umzusetzen. Es gab dann Momente, in denen die Regierung Correa versuchte, den indigenen Dachverband CONAIE zu spalten. Ein großer Fehler!
Präsident Correa und seine Regierung sind oft nicht in der Lage, Räume für die Beteiligung breiter Teile der Gesellschaft zu schaffen. Nicht als Teil der Regierung, sondern als Teil des politischen Willensbildungsprozesses, in Debatte und Streit. Wir wollen dieses Land gemeinsam konstruieren, also: Lasst es uns auch gemeinsam machen!

Die Verfassung von Montecristi war das große gemeinsame Projekt von sozialen Bewegungen und Regierung. Welche Rolle spielt die neue Verfassung in der politischen Praxis?
Die Verfassung enthält einige sehr innovative Elemente. Sie dient als Referenzpunkt für das, was die Regierung tun muss und wie die Gesellschaft zu organisieren ist. In der politischen Praxis resultieren daraus aber Widersprüche, einige davon finde ich verständlich. Es ist nicht einfach, eine Verfassung über Nacht Realität werden zu lassen – erst recht bei einer wirklich neuen Verfassung, einer mit so revolutionären Punkten. Deshalb gibt es Widersprüche, tiefgreifende Widersprüche.

Trotzdem wecken einige dieser revolutionären Instrumente Hoffnungen, wie das Buen Vivir. Was ist der Hintergrund dieses Konzepts?
Auf der einen Seite steht der lange Prozess des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Ecuador wurde – wie der Rest der Region und viele Länder in der ganzen Welt – gezwungen, einer neoliberalen Agenda zu folgen. Die Folge waren soziale und ökonomische Zersetzungsprozesse. Auf der anderen Seite waren die früheren Alternativen in der Praxis am Ende: Spätestens der Mauerfall zerstörte den Glauben an den real existierenden Sozialismus. Auch deshalb begann die Suche nach neuen Alternativen.
In Ecuador führte diese Suche in die indigene Welt und zum Konzept des sumak kawsay, also des Buen Vivir. Die indigenen Weltanschauungen enthalten eine Reihe von sozialen und kulturellen Konzepten mit langer Tradition, die in unseren Gesellschaften immer noch präsent waren. Daran anknüpfend studierten wir – wie es übrigens im gesamten andin-amazonischen Kontext passierte – bereits in den 1990er Jahre gemeinsam mit indigenen Gemeinden die Chancen des Konzepts des Buen Vivir. Dabei wurde es zusammengeführt mit Elementen der okzidentalen Kultur: Zum „Guten Leben“ bei Aristoteles gibt es Anknüpfungspunkte oder auch zu Elementen des Konzepts von Entwicklung nach menschlichem Maß, insbesondere bei Manfred Max-Neef und Antonio Elizalde. Und die menschliche Entwicklung bei Amartya Sen hat unsere Debatten ebenfalls bereichert. Das Buen Vivir ist kein ausschließlich indigenes Konzept und ebenso wenig nur für „die Indigenen“: Es ist ein Alternativkonzept, das von den Marginalisierten der Geschichte formuliert wurde und mit globalen Debatten verbunden ist.

Was folgt daraus?
Das Buen Vivir ist eine Lebensauffassung und eine Möglichkeit der Organisation der Gesellschaft, befindet sich aber im Konstruktionsprozess. Dieser findet konkret in Bolivien und Ecuador statt, wird aber weltweit wahrgenommen, zum Beispiel in der Postdevelopment-Diskussion. Das Buen Vivir ist ja kein alternatives Konzept der Entwicklung, sondern eine Alternative zur Entwicklung. In Bezug auf die globalen Debatten um die Green Economy geht das Buen Vivir in eine gegenteilige Richtung: Es schließt eine weitere Vermarktwirtschaftlichung der Beziehung Mensch-Natur aus. Das ist also auch etwas, was die ecuadorianische Verfassung eigentlich einfordert.

Diese Verfassung war am 30.9.2010 in Gefahr. Wie sind die Ereignisse dieses Tages einzuordnen?
Der 30.9. war ohne jeden Zweifel ein Schlag gegen die Demokratie, ein Schlag gegen den Staat. Einige Fakten sind ziemlich eindeutig: Der Protest von Militär- und Polizeiangehörigen war das Ergebnis einer Verschwörung, der es immerhin gelungen ist, den ecuadorianischen Staat lahm zu legen. Deshalb rede ich von einem golpe al estado. Der Präsident wurde als Geisel festgehalten, misshandelt, geschlagen und gegen Ende des Tages versuchten sie, ihn zu ermorden. Das ist wirklich barbarisch. Die Geschehnisse dieses Tages waren das gewalttätigste politische Ereignis der letzten Jahrzehnte in Ecuador.

Und welche politischen Konsequenzen hat das?
Weitreichende. Es ist klar, dass es eine Regierungskrise gab und dass die demokratischen Institutionen instabil sind. Auch, dass Polizei und Militär anscheinend immer noch im Stande sind, die Verfassung zu verletzen. Die Wiedereinsetzung des Militärs als „Garant der Demokratie“ kommt hinzu – etwas, dass der Verfassung klar widerspricht. Gleichzeitig ist die Regierung politisch schwach: Sie hat die große Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen – nicht aber zu politischer Aktion. Am 30.9. hat es keine, und ich meine damit, nicht eine große Demonstration gegeben. Und die Regierung hat mehr als einen Monat danach immer noch keine politische Antwort!
Der 30.9. war vor allem auch ein Schlag gegen die Linke. Die ecuadorianische Linke ist gespalten und uneinig, mehr als je zuvor seit dem Amtsantritt Correas. Ohne zu merken, was sie damit riskierten, beteiligten sich Teile der Linken am Polizeiaufstand. Diesen Gruppen war aber nicht klar, dass sie die neue Verfassung, das mit ihr Erreichte sowie das gesamte politische Projekt der Linken in Gefahr gebracht haben. Jetzt ist die Rechte gestärkt, auch wenn sie nicht unmittelbar Wahlen gewinnen könnte. Akteure der Rechten haben hier und da den Aufstand unterstützt – und sollten sie eine zentralere Rolle gehabt haben, dann kann ihnen das zumindest derzeit niemand nachweisen. Sie haben sich am Rand gehalten, abgewartet. Das ist sehr beunruhigend und wirkt wie ein Testlauf.

Was heißt das für die Regierung?
Die Regierung Correa muss darüber reflektieren, wo es Fortschritte, aber auch, wo es Irrtümer, ja sogar Rückschritte gegeben hat.
Erstens gibt es in Bolivien, Ecuador und Venezuela keinen neuen Weg des Wirtschaftens, keinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, sondern einen Extraktivismus des 21. Jahrhunderts. Und die exzessive Konzentration des Reichtums wurde in Ecuador nicht beendet, die Armutsrate ist nicht gesunken.
Zweitens ist besorgniserregend, dass es wenig Raum für Partizipations- und Diskussionsprozesse gibt. Vor vier bis fünf Jahren haben wir zusammen mit Correa unser Projekt als Bürgerrevolution umschrieben: Den Staat als einen Staat seiner BürgerInnen zurückzugewinnen. Aber es gibt in dieser Bürgerrevolution einen Mangel an Bürgerschaft, es gibt diesen Raum der Beteiligung nicht. Das ist sehr beunruhigend. Wir haben den personalisierten Charakter der Regierung bereits diskutiert und das ist nicht einfach die Schuld Correas. Aber es sollte anders sein.

Sie bezeichneten sich vorhin als optimistischen Menschen. Was sagt der Optimist? Und: Was wird heute bei ihnen zuhause am Esstisch diskutiert?
An diesen Tisch kommen natürlich Freunde, auch von damals, aber wir haben kein solches politisches Projekt mehr.
Als Optimist würde ich sagen, dass diese Regierung immer noch viel Potential hat. Correa ist sehr beliebt – das ist aber bei weitem nicht genug. Correa muss jetzt die Tür für einen großen Dialog mit den sozialen Bewegungen öffnen. Nicht, um sie direkt an der Regierung zu beteiligen, das ist nicht der Weg. Sondern um Diskussionen zu führen, mit dem Ziel, gemeinsame Vorstellungen für die Zukunft dieses Landes zu entwickeln.

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