Nicaragua | Nummer 413 - November 2008

Eine Diktatur fällt nicht vom Himmel

Die Regierung Ortega hat Nicaragua bisher etwas soziale Politik gebracht und viel Repression

Soziale Bewegungen und die intellektuelle Mittelschicht Nicaraguas klagen lautstark über Repression von Seiten der sandinistischen Regierung und weisen auf die Gefahr einer drohenden Diktatur hin. Für die armen Bevölkerungsschichten auf dem Land hingegen stehen die Verbesserungen durch die Sozialprogramme seit 2006 im Vordergrund – nach Jahren der strikt neoliberalen Politik kümmert sich endlich jemand um ihre Belange. Anfang November stehen Kommunalwahlen an. Unabhängige WahlbeobachterInnen sind nicht zugelassen.

Raphael Kiczka, Andrés Schmidt

In Nicaragua scheinen die Menschen in verschiedenen Welten zu leben. Vor allem zwischen den Menschen in der Stadt und auf dem Land sind die Diskrepanzen in der Wahrnehmung der aktuellen Lage ihres Landes groß. In der Hauptstadt Managua sind Wände und Mauern übersät mit Slogans: „Nein zum Pakt Ortega-Alemán“, „Nein zur Diktatur“, „Nein zu den Bürgerräten“! Nicht alle können schnell im Rot-schwarz der regierenden Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) überpinselt werden. Und auch die übergroßen Plakate in Pink, auf denen Präsident Daniel Ortega mit erhobener Faust die Armen der Welt aufruft, sich zu erheben, sind Zielscheibe für Farbbomben.
Fährt man hingegen aufs Land, so heißt hier der Präsident bei nicht wenigen noch Comandante Daniel, wie zu alten Zeiten. Hier gibt es auch weiterhin viele FSLN-AnhängerInnen, die davon sprechen, dass eine „zweite Etappe der sandinistischen Revolution“ angebrochen sei. Sie stehen treu zu Daniel Ortegas FSLN – komme, was da wolle. Die Diskussionen und Proteste gegen Demokratieabbau, Autoritarismus und Intransparenz scheinen weit weg, werden hier gar nicht geführt. Vielmehr stehen die sozialen Programme der Regierung im Vordergrund, die für viele hier eine Verbesserung ihrer Lage gebracht haben. „In den 16 Jahren neoliberaler Regierung wurden wir auf dem Land vollkommen vergessen, jetzt passiert zwar auch viel zu wenig, aber es tut sich zumindest etwas.“ So und ähnlich klingen häufig Aussagen der Menschen auf dem Land.
Möglich machen diese Veränderungen Geldströme aus Venezuela. Die Wirtschaftshilfe des „Bruderstaats“ beläuft sich auf jährlich 520 Millionen US-Dollar in Form eines langfristigen Kredits. Dieses Geld investiert die Regierung unter anderem in Sozialprogramme: Straßenbau in entlegenen Gegenden des Landes, Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungssystem, Alphabetisierungsarbeit und ein Null-Hunger-Programm sind einige davon. Auch kleine und mittlere ProduzentInnen sollen bedacht werden. Geplant ist die Gründung einer Entwicklungsbank, die zinsgünstige Kleinkredite vergibt, um die bisherige Abhängigkeit von Kleinkredit-Organisationen und freien KreditgeberInnen mit zweifelhaftem Ruf zu verringern. Bei denen ist ein Kredit unter 20 Prozent Zinsen kaum zu bekommen, und bei Zahlungsunfähigkeit wird auch schnell mal das Land konfisziert.
Gleichzeitig gibt es auch im Bildungs- und Gesundheitsbereich für die arme Bevölkerung deutliche Fortschritte: Die Schulgebühren wurden abgeschafft, ebenso wie der Uniformzwang, was zu einem deutlichen Anstieg der Schülerzahlen führte. Mit Hilfe des Null-Hunger-Programms sollen zudem 75.000 arme Bauernfamilien Saatgut, Kleinvieh, eine Kuh und das notwendige (Bau-) Material bekommen. Das Paket im Wert von je 1.500 US-Dollar soll die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Familien ermöglichen. Im Gesundheitssystem wird nicht nur eine Verbesserung der Versorgung durch erhöhte Ausgaben angestrebt, sondern auch die Einbeziehung der Bevölkerung in Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Als wesentliche Fortschritte werden auf dem Land die verbesserte Versorgung mit Gratis-Medikamenten und der kostenlose Ambulanz-Transport bei Notfällen wahrgenommen.
Diese Veränderungen im Alltag sorgen bei vielen für eine Zustimmung zur Regierungspolitik: „Ja, es tut sich endlich etwas“. Dieses „etwas“ ist es jedoch, was beim genauen Hinsehen häufig eher symbolisch anmutet. Entweder hakt es bei der Realisierung der Programme oder es findet sich ein anderer bitterer Beigeschmack: Das Finanzvolumen der geplanten Entwicklungsbank beispielsweise ist mit drei Millionen US-Dollar verschwindend gering. Das gesamte Kapital aller Mikrofinanz-Organisationen in Nicaragua beträgt 400 Millionen US-Dollar. Eine strukturelle Änderung des Kreditmarktes wird also verfehlt werden.
Geht es nun der Regierung wirklich darum, die Probleme der Bevölkerung zu lösen oder haben die Maßnahmen eher den Charakter von Propaganda-Aktionen, um die eigene Macht zu festigen? Nicht überall fällt die Unterscheidung leicht: Oftmals liegen fortschrittliche Konzepte zu Grunde, die sich in ihrer Umsetzung jedoch ins Gegenteil verkehren. Baut das Null-Hunger-Programm beispielsweise auf einem Konzept für den „integrativen Kleinbauernhof“ auf, ist es im Ergebnis dennoch zweifelhaft. Zwar kommen die Bestandteile des Pakets größtenteils an, doch wer das Programm nutzen will, muss erst einmal genug Land besitzen, um die Tiere zu versorgen. Die wirklich Armen werden so von vornherein ausgeschlossen. Aufgrund begrenzter Ressourcen kommen zudem in einer Gemeinde von 270 Familien nur zehn in den Genuss des Paketes – die Privilegierung einzelner Familien dürfte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Und es gibt noch einen Haken. Denn die Auswahl der begünstigten Familien trifft der lokale Bürgermachtsrat (CPC). Und obwohl die CPCs zwar theoretisch offen für jede/n sind, werden sie de facto von FSLN-AnhängerInnen dominiert (siehe LN 407). Es wäre verwunderlich, wenn eine solche Möglichkeit, alte Freunde zu belohnen und neue Freunde zu gewinnen, nicht genutzt würde.
Aber auch andernorts besticht die Regierung durch Klientelismus. Denn mit den 520 Millionen US-Dollar Wirtschaftshilfe aus Venezuela werden nicht nur Sozial-Programme finanziert. Viel Geld kann ungestört in andere Taschen fließen. Abgewickelt über die private Organisation ALBANISA taucht die Hilfe aus Venezuela nicht im Staatshaushalt auf, obwohl die Hälfte nach 25 Jahren zurückbezahlt werden muss, also faktisch Staatsschulden entstehen. Die Regierung legt keinerlei Rechenschaft über die Verwendung des Geldes ab. Vizepräsident von ALBANISA ist der FSLN-Schatzmeister Francisco López.
Noch eindeutiger zeigt sich der Charakter der „Regierung für Einheit und Versöhnung“, wie sie sich selbst nennt, im Umgang mit der Opposition. Stück für Stück werden demokratische Gestaltungsspielräume beschnitten. So schloss der vom Pakt Ortega-Alemán [die beiden ehemaligen Konkurrenten Daniel Ortega und Arnoldo Alemán kontrollieren gemeinsam wichtige Staatsorgane, Anm. d. Red.] beherrschte Oberste Wahlrat im Mai sowohl die Konservative Partei (PC) als auch das Wahlbündnis Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS-Allianz) von der im November stattfindenden Kommunalwahl aus – ein weiterer Machtgewinn für die Pakt-Parteien, FSLN und die Liberal-Konstitutionalistische Partei (PLC), in der noch immer der wegen Korruption rechtmäßig verurteilte Ex-Präsident Arnoldo Alemán die Fäden zieht (siehe LN 409/410). Aber Überraschungen erwartet sowieso kaum jemand bei den Wahlen. Mónica Baltodano von der Bewegung zur Rettung des Sandinismus (MPRS), einem Teil der MRS-Allianz, vermutet wie viele andere BeobachterInnen, dass der Ausgang der Wahlen bereits jetzt zwischen Ortega und Alemán abgestimmt ist. Dafür spricht, dass der Oberste Wahlrat, anders als bei bisherigen Wahlen, sämtliche in- und ausländischen WahlbeobachterInnen abgewiesen hat. Begründung des Präsidenten: „Was für ein Beobachter könnte qualifizierter sein als der, der seine Partei verteidigt?“ Bereits jetzt gibt es laut Medienberichten zahlreiche Unregelmäßigkeiten beim Einschreibungsprozess.
Um ihre Macht zu sichern, nutzt die Regierung Ortega derzeit außer dem Wahlrat vor allem den Justizapparat, der der FSLN in weiten Teilen zu Diensten steht. Ende August wurde eine Anklage gegen den ehemaligen sandinistischen Kultusminister und heutigen Kritiker Ortegas, Ernesto Cardenal, wieder aus den Schubladen geholt. Die längst verjährte und damit juristisch eigentlich bestandslose Anklage bezieht sich auf einen Vorfall vor etwa drei Jahren, bei dem es um Grundstücksstreitigkeiten mit dem Deutschen Immanuel Zerger ging. Grund für das absurd anmutende juristische Schauspiel waren wohl jüngste kritische Äußerungen des Befreiungstheologen bei der Amtseinführung des paraguayischen Präsidenten Ferndando Lugo. Die Reise zu dieser hatte Ortega abgesagt – wegen des Protests zahlreicher Frauenorganisationen. Denn spätestens nach dem Verbot der therapeutischen Abtreibung ist Ortegas Frauenpolitik Anstoß internationalen Protests. In Honduras trat sogar die Frauenministerin aus Protest gegen einen Besuch des nicaraguanischen Präsidenten zurück.
So wie im Fall Ernesto Cardenal schafft das parteiische Justizsystem die Möglichkeit, kritische und unabhängige Personen und Bewegungen in Schach zu halten. Denn die unabhängige soziale Bewegung des Landes ist dem Präsidenten ein ständiger Dorn im Auge – allen voran die Frauenorganisationen, die sich über die Jahre am wenigsten in den Parteiapparat haben einbinden lassen. Bereits im Dezember 2007 kam es zu einer äußerst fragwürdigen Anzeige gegen neun engagierte Feministinnen. Violeta Delgado von der Autonomen Frauenbewegung MAM ist eine von ihnen. Sie erklärt: „Die Anklage steht auf sehr wackeligen Füßen, wir haben wenig Angst vor einer Verurteilung. Ihr Zweck besteht wohl eher darin, uns einzuschüchtern und uns mit unserer Verteidigung beschäftigt zu halten.“
In den letzten Wochen wurde der Druck auf unabhängige Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) stark verschärft. Ende September warf die Regierung insgesamt 17 NRO Geldwäsche vor. Es handelt sich dabei um als juristische Personen eingetragene NRO, die anderen Gruppierungen die Annahme von Spendengeldern Dritter ermöglicht haben. So fungierte beispielsweise das Zentrum für Kommunikationsforschung CINCO als Mittler für Gelder, die von Oxfam Großbritannien an die Autonome Frauenbewegung MAM fließen sollten. Eine gängige Praxis, und doch ein guter Vorwand, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. Für Sofía Montenegro, Leiterin des CINCO und ehemalige Chefredakteurin der FSLN-Parteizeitung Barricada, ist klar: „Die FSLN strebt eine Verfassungsreform an, die Ortega eine dritte Amtszeit ermöglichen soll. Um die Opposition dagegen im Vorfeld auszuschalten, überziehen sie uns mit diesen Verfahren.“
Doch nicht mehr nur der juristische Knüppel wird geschwungen. Konnten in Managua Ende Juni noch 15.000 Menschen friedlich gegen die „Ortega-Diktatur“ demonstrieren, war dies Ende September beim Wahlkampfauftakt in León nicht mehr möglich. Die Demonstration wurde von einem sandinistischen Schlägertrupp unter Leitung des FSLN-Bürgermeisterkandidaten angegriffen und zerschlagen. Die Polizei schaute größtenteils zu, Verhaftungen gab es nicht. Vielleicht zeigen sich hier schon Folgen der Umstrukturierung der Polizei, bei der die Macht der unabhängigen und kritischen Polizeichefin Aminta Granera immer stärker begrenzt wird, indem ihr linientreuere Führungskräfte an die Seite gestellt werden.
Vorfälle wie der in León werfen nun Fragen nach der Unabhängigkeit von Polizei und Militär auf. „Eine Diktatur fällt nicht vom Himmel,“ gibt Monica Baltodano, die für die MRS-Allianz im Parlament sitzt, zu bedenken. „Auch die Somoza-Diktatur hat sich in den ersten Jahren durch soziale Maßnahmen eine breite Zustimmung geschaffen, etwa durch die Einführung einer Arbeitsgesetzgebung und der Sozialversicherung. Die massive Repression der Bevölkerung durch Polizei und Militär begann erst später.“ Ob sich Polizei und Militär der Vereinnahmung entziehen können, ist angesichts der jüngsten Entwicklung fraglich.
Die Regierung weiß, dass der politische Machterhalt nicht nur an der Urne oder mit dem Gesetzbuch, sondern auch auf der Straße erkämpft und verteidigt wird. Um der Opposition im Wahlkampf dort so wenig Platz wie möglich zu lassen, werden in Managua schon seit Wochen alle wichtigen Plätze wie Kreisverkehrsinseln und Straßenecken besetzt. Dort stehen FSLN-AnhängerInnen in weißem T-Shirt mit der pinken Aufschrift „El Amor es más fuerte que el odio“ (Liebe ist stärker als Hass). Die Handschrift von Präsidentengattin Rosario Murillo ist unverkennbar. Dabei schreckt die Dame der „Liebe und Versöhnung“ keinesfalls davor zurück, RegierungskritikerInnen aller Coleur sehr unliebevoll und hasserfüllt zu beschimpfen, als „rechte Bourgeoisie“ oder gar „vom CIA bezahlte Agenten des Imperiums“. Wie lange dem wachsenden Widerstand gegen diese autoritäre Politik der Regierung Ortegas noch mit solch alten antiimperialistischen Beleidigungen beizukommen ist, wird sich zeigen. Sofía Montenegro vom CINCO jedenfalls ruft die europäischen Nicaragua-Initiativen inzwischen auf, die Opposition im Sinne des (wahren) Sandinismus zu unterstützen.

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