Kolumbien | Nummer 499 - Januar 2016

„EINE REFORMIERUNG DER MILITÄRJUSTIZ IST ÜBERFÄLLIG“

Interview mit Reynaldo Villalba Vargas vom kolumbianischen Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (CAJAR)

2016 soll das Jahr des Friedens in Kolumbien werden. Doch die Zweifel an grundlegenden Veränderungen nach der Unterzeichnung des Abkommens mit den Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) wächst. Die LN sprach mit dem Anwalt Reynaldo Villaba Vargas über die Friedensverhandlungen und die Zeit dannach.

Interview: Daniela Rivas

Am vergangenen 23. September gab die kolumbianische Regierung die Frist für die Unterzeichnung des Friedensabkommens bekannt: März 2016. Am gleichen Tag veröffentlichten beide Parteien das Zwischenabkommen zur Übergangsjustiz (siehe LN 497). Wie haben Sie darauf reagiert?
Uns ist klar, dass wenn der Friedensvertrag unterzeichnet wird, damit nicht automatisch der Frieden ins Land kommt. Zum ersten Mal wurde aber in so einem Prozess über eine Übergangsjustiz geredet und wir begrüßen die Ankündigung des Verhandlungstisches, ein Tribunal für den Frieden gründen zu wollen, um die Rechte der Opfer in den Vordergrund zu stellen. Doch es gibt Hinweise, dass das Zwischenabkommen über die Übergangsjustiz aus weiteren 75 Punkten besteht, welche die zehn bekannten Punkte näher erläutern. Wir wissen also wenig darüber, wie die Regierung alles umsetzten möchte. Außerdem sind wir besorgt, dass schwerwiegende Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch die kolumbianische Regierung straflos bleiben könnten.

Das Anwaltskollektiv CAJAR machte einen Vorschlag für den Verhandlungstisch, wie das Tribunal für den Frieden konkret aussehen sollte. Worin bestand er?
Wir appellierten für eine Unterscheidung zwischen Kriegsverbrechen, die im Laufe des bewaffneten Konflikts mit der FARC begangen worden sind, und allen anderen. Dafür haben wir vorgeschlagen, zwei Kammern zu errichten. Die erste würde sich mit Verstößen gegen die Menschenrechte  beschäftigen, die sowohl Soldaten als auch Guerrilleros begingen. Und die zweite mit Menschenrechtsverletzungen, bei denen Bedienstete des Staates und Unternehmer zu den Profiteuren von Zwangsvertreibung, Morden und Massakern gehören. Dies trägt dazu bei, Verantwortliche zu identifizieren, was ein Recht der Opfer aber auch der gesamten Gesellschaft ist. Alle Beteiligten, der Staat eingeschlossen, müssen Garantien der Nicht-Wiederholung leisten.
Könnte das Tribunal, sowie es vereinbart wurde, nicht gegen hochrangige Politiker*innen oder Militärs, zum Beispiel in Fällen der willkürlichen Hinrichtungen (den sogenannten falsos positivos) ermitteln?
Meiner Meinung nach könnte das Tribunal die willkürlichen Hinrichtungen der kolumbianischen Armee nicht aufklären. Es wird sich auf die Verbrechen im bewaffneten Konflikt zwischen FARC und Regierung konzentrieren, wobei zu befürchten ist, dass die vielen zivilen Opfer und Menschenrechtsverletzungen, die von den Regierungstruppen begangen wurden, nicht gesondert berücksichtigt werden. Denn eigentlich hätten diese Verbrechen schon längst als vorsätzliche Tötung bestraft werden können.

Und warum wird das nicht umgesetzt?
Die kolumbianische Gesellschaft ist eine militarisierte Gesellschaft und die Justiz ist es ebenfalls. Eine demokratische Reform ist längst überfällig. Durch eine neue Verfassungsreform wurde aber die Macht der Militärgerichte sogar noch erweitert. Jetzt sollen Militärgerichte Menschenrechtsverletzungen anerkennen und in Fällen ermitteln, die Angelegenheit der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind. Man kann keine fairen Urteile von einer Institution erwarten, deren eigenes Personal schwere Verbrechen begeht.

Welche Rolle spielen die Bandas Criminales (kriminellen Gruppen) in einem Postkonflikt-Szenario?
Die Bandas Criminales (BACRIM) sind Paramilitärs. Die kolumbianische Regierung lehnt es ab, sie als solche zu bezeichnen, weil sie unter anderem die Demobilisierung der AUC (Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) während der Präsidentschaft Alvaro Uribes als Erfolg verbuchen möchte. Doch durch unsere Arbeit sehen wir, wie die BACRIM die gleichen Bevölkerungsgruppen bedroht, vertreibt und ermordet, wie vorher die AUC. Sie funktionieren mit dem gleichen ultra-rechten Modus Operandi wie die Paramilitärs und zerstören mit ihren Verbrechen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Strukturen. Das Land von Kleinbauern, Afrogemeinden und Indigenen landet in den Händen multinationaler Konzerne, die  dann rigoros ihren Willen durchsetzen und selber Menschenrechtsverletzungen begehen.
Werden die Menschenrechtsverletzungen nach dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC also nicht aufhören?
Nach dem Ende des bewaffneten Konflikts sehen wir voraus, dass die sozialen Proteste im Land zunehmen werden. Gern wird in Kolumbien über mögliche Investitionen in ländlichen Gebieten geredet, also wie sich die Situation der ärmeren Bevölkerung dadurch verbessern könnte. Aber die Zwangsumsiedlungen werden nicht abnehmen. Darüber hinaus ist es besorgniserregend, wie die Großkonzerne, die Gold oder Kohle abbauen, die schon traumatisierte einheimische Bevölkerung verachten und dazu die Umwelt langfristig schädigen. Uns sind 500 Genehmigungen für Bergbau-Megaprojekte im Páramo-Gebiet bekannt, auf der Wasserquelle Kolumbiens! Aus dem Abbau von Rohstoffen wird sofort Profit geschlagen, aber das Geld kommt nicht bei den Kommunen an. Dabei werden der Zugang und die Versorgung mit sauberem Trinkwasser für diese und kommende Generationen gefährdet.

Wie gefährdet ist Kolumbien, in den alten Teufelskreis zurückzufallen?
Die Regierung redet über Frieden und verhandelt mit der FARC. Gleichzeitig preist sie eine Politik an, die dem Ziel einen andauernden Frieden zu etablieren, zuwider läuft. Die Friedensverhandlungen werden nicht durch Maßnahmen begleitet, um die strukturelle Ungleichheit im Land zu mindern. Die Haltung der kolumbianischen Regierung scheint uns inkonsequent und inkohärent. Es werden keine politischen Anstrengungen unternommen, um die Rechte der Mehrheit zu garantieren. Stattdessen nimmt der Staat die Interessen der Großinvestoren in Schutz.
Darum ist die Fähigkeit der Kolumbianer, sich zu organisieren, so entscheidend. Die Zivilgesellschaft muss grundlegende Veränderungen fordern und sich den Großkonzernen und ihrem Geiz entgegensetzten. Unterstützung aus dem Ausland wäre sehr hilfreich, besonders aus den Ländern, die im großen Stil Rohstoffe aus Kolumbien importieren, wie zum Beispiel Deutschland. Auch hier muss man Stellung beziehen.

Denken Sie, dass sich die Arbeitsbedingungen von Menschenrechtsorganisationen nach der Unterzeichnung des Abkommens verbessern werden?
Die Regierung und paramilitärische Gruppen werden uns nicht mehr als Sympathisanten oder Mitglieder der Guerilla bezeichnen können, aber andere Zuschreibungen wie „Fortschrittsgegner“ oder „Terroristen“ werden sicherlich ins Spiel kommen. Sehen Sie, die Menschenrechtsorganisationen, die auf juristischem Weg Gerechtigkeit einfordern, werden beschuldigt, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten und einen juristischen Krieg gegen die Regierung zu führen. Hochrangige Politiker und Befehlshaber der Armee werfen uns vor, wir würden die Macht der staatlichen Streitkräfte einschränken, weil deren „beste Männer“ oder „die Helden des Landes“ vom Kampf zurückgezogen werden, um an Strafprozessen teilzunehmen.
Wenn die jetzigen Gespräche nicht von effektiven demokratischen Reformen begleitet werden, ist es wahrscheinlich, dass die Arbeit der Institutionen, die genau das einfordern, weiterhin stigmatisiert wird. Ich denke nicht, dass sich unserere Arbeitsbedingungen verändern werden.

Im Jahr 2010 erfuhr CAJAR, dass das Kollektiv jahrelang massiv ausspioniert wurde, wie hat sich das weiter entwickelt?
Viele unsere Kolleginnen und Kollegen mussten ins Exil gehen. Andere erhielten Morddrohungen oder wurden in der Öffentlichkeit diskreditiert. Wir waren schon immer Ziel von staatlichen Überwachung. Bei Auslandsbesuchen, an unserem Arbeitsplatz, bei uns zu Hause… Sogar unsere Familienangehörigen wurden ausgespäht. Die Spionage durch den mittlerweile abgeschafften Geheimdienst DAS war ein Ausdruck der massiven Bedrohung unserer Arbeit durch den Staat. Tausende von Akten belegen die Einschüchterungsversuche und die Hetze gegen das Kollektiv. Allerdings hat sich seit 2010 wenig geändert. Wir haben konkrete Fälle von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von CAJAR, die zurzeit illegal ausspioniert werden. Unter Präsident Santos sind nun andere Geheimdienste für unseren Fall zuständig. Obwohl wir Beschwerde einlegten, wird einfach nicht untersucht und niemand bestraft. Es ist also kein Wunder, dass diese Arten von Angriffen auf die Zivilgesellschaft ungestört weiter geführt werden.

Reynaldo Villalba Vargas
ist seit 27 Jahren Anwalt und Menschenrechtsaktivist beim Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (CAJAR). Die Nicht-Regierungsorganisation verteidigt Opfer von gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien, auch bei den jetzigen Verhandlungen mit der FARC.

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