Brasilien | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Eine Rückkehr zum alten Modell wäre Selbstmord“

Interview mit dem Soziologen Ignacio Cano über die aktuelle Lage und die Zukunft der Befriedungspolizei UPP in Rio de Janeiro

Ende 2008 als Experiment in der Favela Santa Marta eingeführt und bis heute auf insgesamt 38 Gebiete erweitert, war die sogenannte Befriedungspolizei UPP lange Zeit das Vorzeigeprojekt der Regierung des Bundesstaates Rio de Janeiro. Spätestens jedoch mit dem Fall Amarildo wandelte sich die öffentliche Meinung und das Projekt wird zunehmend kritisch betrachtet. Die LN sprachen mit dem Soziologen Ignacio Cano über die derzeitige Lage, die Defizite und die Zukunft des Projekts.

Interview: André Otávio Groth

Nachdem die UPPs jahrelang als Erfolgsgeschichte galten, steht das Projekt heute massiv in der Kritik. Warum ist das so?
Das Projekt hatte allgemein sehr positive Auswirkungen. Es wurde aber von den Medien und einigen gesellschaftlichen Gruppierungen als der große Heilsbringer und als Lösung für alle Sicherheitsprobleme der Stadt gepriesen. Nachdem zunehmend Probleme sichtbar wurden, rächt sich nun diese einseitige Berichterstattung und kehrt sich gegen das Projekt. Heute wird die Lage so dargestellt, als hätte nie etwas funktioniert. Ich denke, dass sich die jetzige Entwicklung zum einen durch eine geänderte Wahrnehmung des Projekts erklären lässt. Heute zeigen die Medien auch die Schattenseiten der UPPs. Es gibt aber gleichzeitig auch reale Veränderungen in einigen der befriedeten Gemeinden.

Was sind die Veränderungen?
Heute sind wir an einem sehr delikaten Moment angelangt, weil es bewaffnete Auseinandersetzungen in mehreren Gemeinden mit UPPs gegeben hat, in denen es in den letzten Jahren ruhig gewesen war. Es gibt darüber hinaus einige Fälle wie den Favelakomplex do Alemão und die Favela Rocinha, in denen die Polizei nie wirklich die Kontrolle übernehmen konnte. Infolge von Konfrontationen kam es zu Opfern auf Seiten der Polizei und von Zivilisten. Auch der berüchtigt gewordene Fall des Bauarbeiters Amarildo, der von UPP-Polizisten in der Favela Rocinha gefoltert, exekutiert und verscharrt wurde, hat dem Projekt viel Legitimität innerhalb der Gemeinden gekostet.

Ist dieses veränderte Szenario nur Teil einer größeren Entwicklung?
Das Szenario in der Sicherheit hat sich allgemein verschlechtert, nicht nur die Lage der UPPs. Bis 2012 gab es einen sehr markanten Rückgang der Mordraten in der Stadt. Aber ab 2012 begannen diese in einigen und ab 2013 in allen Bezirken von Rio de Janeiro wieder zu steigen. Dasselbe kann auch über Diebstähle gesagt werden. Die Fortschritte der letzten Jahre wurden komplett umgekehrt.

Woher kommt der Anstieg der Kriminalität?
Unserer Bewertung nach haben die anfangs sehr erfolgreichen Regierungsinitiativen ihr Potential erschöpft, weil sie nie evaluiert, abgestimmt und korrigiert worden sind. Hinzu kommt noch eine verschlechterte wirtschaftliche Lage, die Jugendliche aus den Favelas zunehmend zurück zu illegalen Beschäftigungen innerhalb der Drogenfraktionen treibt. Der wirtschaftliche Boom der vorhergehenden Jahre und die historisch niedrigen Arbeitslosenzahlen dieser Zeit haben sehr wahrscheinlich eine Rolle beim damaligen Rückgang der Kriminalität gespielt.

Was waren die konkreten Defizite der UPPs als Projekt?
Ein zentrales Problem des Projekts ist die selektive Auswahl der zu befriedenden Gebiete und damit der betroffenen Bevölkerungsgruppen, die sich mit wenigen Ausnahmen auf die wohlhabenden Gegenden der Zona Sul, Zentrum und Tijuca konzentrieren. Es war sicherlich unumgänglich, einflussreiche soziale Gruppierungen zu schützen, um dem Projekt die nötige politische Unterstützung zu sichern. Aber es muss ein Gleichgewicht herrschen. Das Projekt privilegierte solche Gebiete jedoch in einem Maße, dass andere Gegenden mit viel höheren Gewaltindizes vernachlässigt wurden.
Die Regierung hat hier eine große Chance verpasst. Hätte sie das Projekt auf letztere Gebiete fokussiert, wäre eine stärkere Reduzierung des Gewaltniveaus im Bundesstaat möglich gewesen. Außerdem hätte man gleichzeitig ein Signal an die kriminellen Gruppen gesendet, dass ein hohes Maß an Gewalt zwangsläufig zum Verlust ihres Territoriums führen würde, das als Basis für das Drogengeschäft in Rio dient. Diese Strategie hätte also zu einer Änderung der Gewaltindizes und der Kriminalität führen können.

Was steckte hinter der getroffenen Auswahl der UPP-Gebiete?
Die Wahl fiel auf wohlhabende, touristische und zentral liegende Gebiete mit der Begründung, dass sich dort das Bruttoinlandsprodukt Rios und das Personenaufkommen konzentriere. Außerdem wurden Gebiete befriedet, in denen militärstrategisch gesehen der größtmögliche Schlag gegen den Drogenhandel ausgeführt werden konnte. Das war die Logik hinter der Megaoperation im Favelakomplex do Alemão, der als Hauptquartier des Comando Vermelho, des ältesten und mächtigsten Drogenkartells Rios, galt. Diese Logik steht jedoch im Widerspruch zur offiziellen Linie des Projekts. Die große Revolution der UPPs soll nämlich in der Veränderung des strategischen Ziels liegen, das nicht mehr darin besteht, den Drogenkrieg zu gewinnen und dem Drogenhandel zu schaden, sondern zu akzeptieren, dass es den Handel mit Drogen immer geben wird. Worin liegt also unser neues strategisches Ziel? In der Verringerung der Gewalt! Blickt man auf die Argumentation des Programms, hat diese Transformation angeblich stattgefunden. Aber in der Praxis sind viele Entscheidungen von der Bekämpfung des Drogenhandels geleitet.

Bringt die Auswahl der UPPs nach wirtschaftlichen Kriterien auch längerfristige Folgen für die Struktur der Stadt mit sich?
Das Projekt, das hinter den UPPs und anderen Initiativen in Rio steckt, verfolgt das Ziel, die Stadt in ein internationales Zentrum für Tourismus, Handel und Dienstleistungen zu verwandeln. Dieser Logik zufolge interessiert, was in den Ballungsgebieten passiert und nicht in den Peripherien. Das Problem der UPPs besteht darin, dass eine räumliche Trennung nach sozialen und ethnischen Zugehörigkeiten inmitten der Stadt in Form der Favelas durch ein anderes traditionelles Zentrum-Peripherie-Modell ersetzt wird – hin zu einem befriedeten Zentrum mit mehr Investitionen und einer armen und von Gewalt geprägten Peripherie.

Gibt es weitere Probleme mit dem Projekt, die nicht korrigiert worden sind?
Das Projekt ist nach wie vor nur sehr schwach institutionalisiert, wurde nie einem Evaluierungsprozess unterzogen und basiert auf wenig Planung. Es ist im Grunde weiterhin ein Polizeiprojekt, wohingegen der soziale Teil eine große Enttäuschung geblieben ist. Selbst der Sicherheitssekretär José Mariano Beltrame kritisiert die fehlenden sozialen Investitionen. Die Ergebnisse, die das Projekt erreichen konnte, sind ohne eine kontinuierliche Polizeipräsenz nicht tragfähig. Sollte die Polizei morgen abziehen, würden in einem großen Teil der Gemeinden alle Fortschritte innerhalb von drei Wochen wieder rückgängig gemacht werden. Das Projekt ist somit unvollständig geblieben. Es ist praktisch im ersten Stadium einer Polizeiokkupation verblieben und hat es nicht geschafft, die Beziehungen zwischen den Gemeinden und der Polizei grundlegend zu verändern. Auch das angestrebte Projekt einer Polizeireform konnte nur wenige Fortschritte verzeichnen. Außerhalb der UPPs hat das alte Polizeimodell weiterhin Bestand.

Wie geht es weiter mit den UPPs?
Heute geht es erst einmal nirgendwo hin, weil wir uns in einem Wahljahr befinden, in dem keine wichtigen und riskanten Entscheidungen getroffen werden. Alle Regierungsbeamten sind dabei, ihre Schubladen zu leeren und in Gedanken bereits bei ihrem nächsten Job. Die Politiker sind derzeit schon im Wahlkampf.
Vor vier Jahren hatte sich kein relevanter politischer Akteur dafür ausgesprochen, das Projekt zu beenden. Selbst die Opposition wollte die UPPs weiter gestärkt wissen. Die Sicherheitspolitik – traditionell ein politisch delikater Bereich – wurde für die Regierung zu einem politischen Kapital. Gouverneur Cabral ließ sich maßgeblich über das Thema Sicherheit wiederwählen, bei dem er vor allem auf den Erfolg der UPPs zurückgriff – auch weil nach der damaligen Auffassung alle Fortschritte auf das Projekt zurückgingen.
Heute ist die Situation viel komplexer. Die UPPs stellen zwar immer noch zum Teil ein politisches Kapital dar, sind aber gleichzeitig auch ein Risikofaktor. Sie werden Teil der politischen Kampagne sein und es wird viel Kritik über die Form geben, wie sie eingesetzt worden sind.
Grundsätzlich gibt es aber keine alternative Politik. Auch die Kreise, die heute das Ende der UPPs fordern, können keinerlei Gegenentwürfe vorlegen. Und wenn die Alternative eine Rückkehr zum alten Modell sein sollte, das heute noch in vielen Gebieten Bestand hat, dann wäre das aus sicherheitspolitischer Sicht gesehen Selbstmord.

Wie sehen Sie im Kontext der Olympischen Spiele, die 2016 in Rio de Janeiro ausgetragen werden, die Zukunft der UPPs?
Bis 2016 werden zumindest die UPPs der Zona Sul und einiger strategischer Gebiete nicht verschwinden, weil niemand das Risiko eingehen wird, diese während einer solchen Großveranstaltung dem alten Modell der periodischen bewaffneten Auseinandersetzungen zu überlassen. Das Risiko, das wir für 2017 sehen, besteht im Versiegen der finanziellen Mittel und im Rückgang der internationalen Sichtbarkeit der Stadt. Aber der zentrale Punkt ist der Fortschritt, den wir im Zusammenspiel der Sicherheitspolitik erreichen können. Und dieser hängt gerade vollkommen in der Luft. Alles wird von der Politik der neuen Regierung ab Januar 2015 abhängen.

Infokasten

Ignacio Cano arbeitet als Professor für Soziologie an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro und ist dort Leiter des Forschungszentrums für die Analyse von Gewalt (LAV). Er gilt als einer der profiliertesten Experten in der Sicherheitspolitik Rio de Janeiros und speziell für die Befriedungspolizei UPP. Seine Themen sind unter anderen Polizeigewalt, Milizen und Favelas.

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