Brasilien | Nummer 416 - Februar 2009

„Eine Versorgungsgarantie für alle besteht nicht“

Interview mit Harley Nascimento, Gründer von GAPA, Brasiliens größter Nichtregierungsorganisation zum Thema Aids

Weil Brasilien allen HIV-Infizierten eine Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten garantiert, gilt seine Aids-Politik in Lateinamerika als vorbildlich. Von einem Rückgang der Bedrohung durch HIV kann trotzdem nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Sie wird zum Armutsproblem.

Saskia Vogel

Herr Nascimento, Brasilien gilt neben Kuba hinsichtlich seiner Aids-Politik in Lateinamerika als vorbildlich. Ist das tatsächlich so?
Richtig ist, dass Brasilien allen Betroffenen eine Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten (ARV) garantiert. Die ARV werden zur Behandlung von Aids eingesetzt. Sie unterdrücken die Virusmengen und können das Auftreten von opportunistischen Krankheiten, wie etwa Lungenentzündung, verhindern. Aids ist durch ARV nicht heilbar, die Lebenserwartung der Infizierten steigt aber dadurch. Brasiliens Ruf, eine vorbildliche Aids-Politik zu betreiben, muss jedoch korrigiert werden.

Inwiefern? Immerhin initiierte die Regierung bereits 1985 ein nationales HIV-Präventionsprogramm.
Tatsächlich wurde seit der Erstentdeckung von HIV relativ schnell versucht, eine wirksame Antwort auf die Epidemie zu finden. Falsch ist aber, dass die Initiative zur Bekämpfung von HIV/Aids vom brasilianischen Staat ausging. Vielmehr war es das Engagement der Zivilgesellschaft, das die Regierung zum Handeln zwang – so lautet die These richtig. Bis heute gibt es in Brasilien viele aktive NGO zum Thema Aids. Die Präventionsgruppe GAPA ist die größte davon.

Können Sie das Engagement der Bevölkerung genauer erläutern?
Als HIV Anfang der 1980er Jahre das erste Mal auftrat, wurde diese Tatsache von offizieller Seite zunächst verleugnet. Die tödliche Gefahr, die von dem Virus ausging und die fehlenden Möglichkeiten, HIV zu diagnostizieren und zu behandeln, erzeugten ein Klima der Angst innerhalb der Bevölkerung. Schnell formierten sich Interessenvertretungen. Diese übten Druck auf staatliche Institutionen aus und forderten eine angemessene Lösung – ohne sie hätte die Regierung das Problem vermutlich weiter verdrängt.

Etwa zeitgleich zum Beginn der HIV-Epidemie, nämlich 1985, endete in Brasilien eine 20-jährige Militärdiktatur …
… wenn man so will, trat HIV zum „richtigen“ Zeitpunkt auf, nämlich exakt in der Phase der Redemokratisierung und damit der Erstarkung des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die medizinische Versorgung war damals sehr defizitär und hauptsächlich privat organisiert. 1988 wurde die Verfassung reformiert und – auch auf Druck der Zivilbevölkerung – die staatliche Gesundheitsversorgung, das Sistema Único de Sáude, eingeführt. Theoretisch sollen damit alle BrasilianerInnen adäquat medizinisch versorgt werden.

Gesundheitsversorgung wurde also zunehmend als Recht der BürgerInnen und Pflicht des Staates verstanden?
Genau. Und das Recht auf eine angemessene Behandlung HIV-Infizierter und Aids-Erkrankter schloss dieser Paradigmenwechsel mit ein. Anscheinend mit Erfolg. Immerhin konnte in Brasilien die Epidemie eingedämmt werden. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die HIV-Neuinfektionen konstant geblieben und die Zahl der Aids-Toten zurückgegangen. Trotzdem sind große Teile der brasilianischen Gesellschaft von einer adäquaten Behandlungsmöglichkeit weiterhin ausgeschlossen.
Warum? Immerhin garantiert Brasilien seit 1997 allen HIV-Infizierten den freien Zugang zu ARV-Medikamenten.
Die Garantie besteht und begründet Brasiliens Ruf, eine vorzeigbare Aids-Politik zu betreiben. Von einer „Garantie für alle“ zu sprechen, ist jedoch nicht haltbar. Denn nicht alle BrasilianerInnen sind gesundheitlich optimal versorgt. Brasilien ist ja riesig, allein Bahia, einer von 27 Bundesstaaten, ist schon größer als Frankreich. Das Land besteht aus äußerst heterogenen Großregionen. So gilt der wirtschaftlich schwache Norden und Nordosten als „Armenhaus“ Brasiliens, hier ist die Gesundheitsversorgung mitunter miserabel. Im hochindustrialisierten Südosten und Süden hat das Gesundheitssystem hingegen eine höhere Qualität.

Welche Konsequenzen hat das?
Die Konsequenz ist, dass sich die HIV/Aids-Epidemie vom Süden nach Norden ausbreitet. HIV war anfangs ein Problem der großen Metropolen wie Rio und São Paulo. Inzwischen tritt das Virus nun verstärkt im ländlichen Norden und Nordosten Brasiliens auf. Besonders erschreckend ist die rapide Zunahme des Virus unter Frauen, die meist unwissentlich durch ihre Ehemänner angesteckt werden. Von einem Rückgang der Bedrohung kann also nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Epidemie wird zum Armutsproblem. Obwohl die Verteilung der ARV-Medikamente auf Bundesebene geregelt ist, kommen diese in schwer zugänglichen Regionen nicht immer an. Zudem fehlt es in den wirtschaftlich schwachen Staaten häufig an medizinischem Know-how und Infrastruktur, um alle Nebenerkrankungen angemessen zu behandeln. Letztlich führt dieses defizitäre Therapieprogramm zu mehr Aids-Toten in den ländlichen Gebieten. Im ersten Jahr nach Ausbruch der Krankheit sterben im Norden über 20 Prozent der PatientInnen, im Süden sind es nur rund 13 Prozent.

Während sich die Aids-Epidemie im Norden ausbreitet, stagniert sie im Süden. Nun ist das Verhältnis der vornehmlich hellhäutigen SüdbrasilianerInnen zu den dunkelhäutigen NordostbrasilianerInnen mitunter von rassistischen Vorurteilen geprägt. Wird die Ausbreitung des HI-Virus diese Vorurteile noch verstärken?
Nein, das wäre zu einfach gedacht. Rassistische Vorurteile existieren zwar. Dass durch die Aids-Epidemie diese Vorurteile unterfüttert oder gar verstärkt werden, glaube ich jedoch nicht.

Und die katholische Kirche? Trägt sie in den ländlichen Gebieten zur Ausbreitung der Epidemie bei? Etwa, indem sie die Verwendung von Kondomen verbietet?
Auch das trifft nicht zu. Es wäre falsch, die Kirche als „Moralapostel“ zu sehen, die ihre AnhängerInnen bewusst dem HI-Virus ausliefert. Die Kirche nimmt keinen maßgeblichen Einfluss auf die Aids-Politik. Im Falle von GAPA wirkt sie sogar unterstützend, wir bekommen Gelder von der katholischen Organisation Misereor. In absoluten Zahlen ist Brasilien zwar nach wie vor das Land mit den weltweit meisten KatholikInnen. Der Katholizismus als Glaubens- und Hörigkeitsnorm hat jedoch an Relevanz verloren.

GAPA existiert seit über 20 Jahren – was sind die wichtigsten Errungenschaften aus zwei Jahrzehnten Engagement gegen Aids?
Die Arbeit von GAPA gliedert sich in drei Segmente: Aufklärungskampagnen, politische Arbeit und juristische und psychologische Beratung für Infizierte. Wir betreuen jährlich etwa 50.000 Personen. Eine medizinische Versorgung bieten wir bewusst nicht an – das ist die Verantwortung des Staates. Unsere wichtigste politische Errungenschaft ist die erfolgreiche Lobbyarbeit zur Patentbrechung. Brasilien war das erste der so genannten „Schwellenländer“, das von seinem Recht auf Zwangslizenzen Gebrauch machte.

Zwangslizenzen?
Sie wurden 2001 auf Druck der afrikanischen Staaten in das Welthandelsrecht integriert und ergänzen das TRIPS-Abkommen über Handelsrechte und geistiges Eigentum. Die WTO-Staaten verabschiedeten eine Erklärung, nach der eine Aufhebung des Patentschutzes aufgrund dringlicher Gesundheitsprobleme erlaubt ist. Konkret heißt das: Generika dürfen im eigenen Land produziert werden, auch wenn die Herstellerfirmen das Patent nicht freigegeben haben.

Generika sind …
Wirkstoffgleiche Kopien von Originalmedikamenten zur Behandlung von Aids. Generika sind wesentlich preisgünstiger als patentierte Medikamente mit Markennamen, die teuer von internationalen Pharmaunternehmen importiert werden müssen. Die Generika senken die Therapiekosten drastisch.

Und diese Generika werden in Brasilien hergestellt?
Bereits 1996 gab es einen Ministerbeschluss zur Produktion, heute werden sieben von 17 weltweit verfügbaren ARV in Brasilien produziert – und damit zu verträglichen Preisen verkauft. Die restlichen Medikamente müssen nach wie vor importiert werden. Auch weil Brasilien, anders als etwa Indien, bisher nicht intensiv in die medizinische Forschung investiert hat. GAPA ist nicht nur im eigenen Land aktiv, sondern berät andere NGO in elf Ländern Lateinamerikas und Afrikas zum Themas Aids. Auf der Welt-Aids-Konferenz 2002 in Barcelona bot Brasilien anderen Entwicklungsländern an, sie im Rahmen einer Süd-Süd-Kooperation zu unterstützen. GAPA bemüht sich konkret, dass NGO mit anderen Inhalten die Aidsaufklärung in ihre bisherige Arbeit wie selbstverständlich integrieren. In Haiti arbeiten wir mit Vereinigungen von LandarbeiterInnen zusammen und in Afrika pflegen wir Beratungs-Kooperationen mit NGO aus Angola und Mozambique. Die Länder gehören wie Brasilien zur Gemeinschaft portugiesischsprachiger Staaten CPLP.

Man könnte also von einer internationalen Entwicklungshilfe Brasiliens sprechen?
Falsch. Man könnte von einer Beratungshilfe der Zivilgesellschaft gemeinsam mit dem brasilianischen Staat sprechen – das ist ein Unterschied.

KASTEN

Nascimento, harley
Die HIV/Aids-Rate in Brasilien liegt laut den Vereinten Nationen bei 0.61 Prozent. Das sind 730.000 infizierte BrasilianerInnen zwischen 15 und 49 Jahren. Laut dem brasilianischen Gesundheitsministerium starben seit 1980 über 192.000 Brasilianer an Aids.

Harley Henriques do Nascimento (40) ist Chefkoordinator von GAPA-Bahia (Grupo de Apoio à Prevenção à Aids da Bahia). Der studierte Betriebswirt gründete die NGO 1988 im Alter von 20 Jahren. GAPA ist heute die größte NGO Brasiliens zum Thema Aids und hat ihren Sitz in Salvador da Bahia. Die NGO tritt für die Umsetzung einer effizienten Aids-Politik im Land ein. Dabei versucht sie, vor allem die Schichten der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung einzubeziehen.

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