Nicaragua | Nummer 394 - April 2007

„Eine Wahl zwischen Leben, Gefängnis und Tod“

Abtreibung ist selbst dann strafbar, wenn das Leben der Frau gefährdet ist

Violeta Delgado ist Vertreterin der unabhängigen Frauenbewegung Movimiento Autónomo de Mujeres (Autonome Frauenbewegung) und war lange Zeit Leiterin des Red de Mujeres contra la Violencia (Frauennetzwerk gegen Gewalt). Während einer zweiwöchigen Rundreise durch Deutschland hat sie in mehreren Städten Veranstaltungen unter dem Motto „Yo decido mi vida“ (Ich entscheide über mein Leben) gehalten, um über die Situation in Nicaragua zu informieren. Besonders richtet sich der Protest der Frauenbewegung gegen das seit Ende 2006 bestehende Verbot der „therapeutischen Abtreibung“.

Anna Schulte

Durch die Abschaffung des Artikels 165 des Strafgesetzbuches ist in Nicaragua nun auch die so genannte therapeutische Abtreibung strafbar. Bei der Entscheidung sprach vieles dafür, dass es wahlstrategische Beweggründe waren, die vor allem die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) zu ihrer Zustimmung bewogen. Sehen Sie das auch so?

Das Thema war nicht neu und Wahlkampfthema war es unter anderem auch deshalb, weil derzeit ein neues Strafgesetzbuch erarbeitet wird. Die gesamte Wahlkampagne der FSLN war von der Nähe zum christlichen Glauben und zu dessen konservativen und fundamentalistischen Strömungen geprägt. Teil dessen war auch das Bekenntnis zum „Recht auf Leben“ ungeachtet einer Lebensgefahr für die Frauen. Das wurde selbstverständlich von Seiten der hohen Kirchenhierarchie sehr gern gesehen, weshalb sie Daniel Ortega bei seiner Präsidentschaftskandidatur unterstützten – eine Art Tauschgeschäft.
Es gibt bereits seit den 90er Jahren innerhalb Zentralamerikas eine starke fundamentalistische Strömung, die das Verbot jedweder Form der Abtreibung fordert. Vor fünf Jahren wurde die therapeutische Abtreibung in El Salvador verboten. Auch in Nicaragua haben sie das mehrfach versucht und nun letztes Jahr geschafft.

Wie kann es sein, dass eine solche Kehrtwende gegen historische Grundsätze der Partei von der Basis der FSLN toleriert wird?

Die Zustimmung zu dieser Gesetzesänderung wurde nicht mit der Parteibasis abgestimmt. Gerechtfertigt wurde das damit, dass dies nur eine temporäre Entscheidung sei. Es solle verhindert werden, dass die katholische Kirche eine Gegenkampagne zur FSLN fährt und deren Wahlchancen verringert. Nach einer gewonnenen Wahl würde man die Gesetzesänderung sofort wieder rückgängig machen. Vor kurzem hat nun Rosario Murillo (Ehefrau Daniel Ortegas, Anm. der Red.) die Entscheidung öffentlich als endgültig deklariert. Aber wie dem auch sei, ich finde es äußerst wichtig zu betonen, dass diese Entscheidung bereits mindestens zwei Frauen das Leben gekostet hat, weil sich die Ärzte aus Angst vor Strafe geweigert haben, sie zu behandeln. Mich erinnert das an die Rhetorik von Bush, wenn er von „Kollateralschäden“ spricht. Genau das ist doch die Philosophie, die die FSLN während des Wahlkampfes benutzt hat: „Um an die Macht zu kommen, müssen wir – zumindest für eine Zeit – das Leben einiger Frauen opfern.“

Wie reagiert die Gesellschaft auf das neue Gesetz?

Noch vor wenigen Jahren war es in Nicaragua nur sehr schwer möglich, überhaupt öffentlich über das Thema Abtreibung zu sprechen. Seit ungefähr vier Jahren ist nun ein gesellschaftlicher Wandel zu erkennen. Damals war die neunjährige Rosa vergewaltigt worden und ihre Eltern forderten, diese Schwangerschaft zu unterbrechen. Damals waren fast 70 Prozent der Bevölkerung für eine Abtreibung. Die Doppelmoral, die innerhalb der nicaraguanischen Gesellschaft vorherrscht, bekam Risse. Sehr langsam ändert sich die öffentliche Meinung und die Zustimmung zur Möglichkeit einer Abtreibung – unter bestimmten Voraussetzungen – nimmt zu. Seit der Abschaffung des Paragraphen 165 äußern sich zum ersten Mal in der nicaraguanischen Geschichte AkademikerInnen, Ärzteverbände, religiöse (weniger fundamentalistische) Gruppen und sogar andere Parteien öffentlich zu diesem Thema und fordern die Rücknahme der Gesetzesänderung.

Hat es bereits Klagen von den Familien der aufgrund des Gesetzes verstorbenen Frauen gegeben?

Ja, beide Familien haben Klage eingereicht. Diese werden momentan vom Gesundheitsministerium geprüft. Die Klagen werden von zahlreichen Organisationen unterstützt. Vor dem Obersten Gerichtshof wird wegen Verfassungswidrigkeit geklagt. Wir haben zwar wenig Hoffnung, dass es dort eine Entscheidung zu unseren Gunsten geben wird, aber es ist wichtig, die Klage vor Gericht zu bringen, um später international Klage zu erheben.

Welche internationalen Proteste hat es gegen diese Gesetzesänderung gegeben?

Vor allem die nordischen Länder, besonders die schwedische Regierung, hat deutlich die Wiedereinführung des Gesetzes gefordert. Auch die deutsche Regierung hat darum gebeten, die Gesetzesänderung nochmals zu prüfen. Weiterhin hat das UN-Komitee zur Eliminierung der Diskriminierung der Frauen die Regierung um Erklärung gebeten. Und natürlich haben uns Frauenbewegungen aus aller Welt und zahlreiche andere Organsationen in unseren Protesten unterstützt.
Wie schätzen Sie die gesellschaftlichen Folgen der Gesetzesänderung ein?
Sie hat sehr weitreichende kulturelle Folgen. In Nicaragua liegt die Analphabetenquote bei mehr als 50 Prozent. In diesem sehr von großer Armut geprägten Land kommt besonders bei den Frauen in ländlichen Regionen die Botschaft an: „Wenn du bei Komplikationen in der Schwangerschaft ins Krankenhaus gehst, dann kannst du festgenommen werden.“ Aus Angst gehen sie erst gar nicht mehr dort hin. Auch gibt es Hebammen, die sich weigern, komplizierte Schwangerschaften zu betreuen, weil sie Angst vor rechtlichen Konsequenzen haben. So wird eine Schwangerschaft zur Gefahr. Es scheint eine Wahl zwischen Leben, Gefängnis und Tod. Zudem ist Nicaragua ein Land, in dem die Kirche die freie Ausgabe von Kondomen und die Verabreichung der Pille danach verweigert und sich gegen Verhütung generell ausspricht. Die Anerkennung der reproduktiven Rechte besteht da nur auf dem Papier internationaler Abkommen, aber hat sich nicht materialisiert. Und so sind die gesundheitlichen Folgen für die Frauen vermutlich deutlich
höher, als es bisher angegeben wird.

Welche Möglichkeiten haben Frauen überhaupt, zu verhüten?

Das Sexualleben der Frauen beginnt in Nicaragua sehr früh. Mit 18 Jahren haben ungefähr die Hälfte aller Frauen eine Schwangerschaft gehabt. In der Stadt haben rund 30 Prozent der Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln, auf dem Land sind es nur 25 Prozent. Auch ist es wichtig zu wissen, dass 30 Prozent aller nicaraguanischen Mädchen in der einen oder anderen Weise Opfer von sexuellem Missbrauch werden oder geworden sind. Oftmals sind gerade Schwangerschaften von jungen Mädchen darauf zurückzuführen. Weiterhin ist es wichtig zu sehen, dass diese Situation eine Klassenfrage ist. Die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes muss mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Diese Frauen werden Opfer der neuen Rechtssprechung werden. Frauen der oberen Gesellschaftsschichten hingegen werden auch in Zukunft ihr Leben retten können: Entweder indem sie im Ausland therapeutisch abtreiben oder in privaten Zentren.

Wie sehen Sie die Chance, das Verbot wieder rückgängig zu machen?

Ich sehe da schon eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Aber ich denke, dass es keine Entscheidung aus Überzeugung gegenüber den Frauenrechten oder der öffentlichen Meinung sein wird. Wenn die therapeutische Abtreibung wieder legalisiert wird, dann werden sie der katholischen Kirche auf einer anderen Seite entgegenkommen. Vielleicht klingt das Tauschgeschäft: „Ok, die therapeutische Abtreibung wird wieder legalisiert, aber gebt uns die Kontrolle über das Bildungswesen“ oder „Ok, die therapeutische Abtreibung wird wieder legalisiert, aber Homosexualität bleibt weiter strafbar“. Ich denke, es wird auch mit den – vor allem internationalen – Protesten zusammenhängen. Denn unsere Meinung hat bisher Niemanden interessiert. Gegenüber der Frauenbewegung haben die Regierenden keinerlei Respekt gezeigt. Wir wurden ja nicht einmal angehört, bevor die Entscheidung getroffen wurde.

An vielen Stellen erwähnen Sie den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik. Meinen Sie, dass der „neue Glaube“ Ortegas ein temporäres Phänomen ist?

Selbst wenn es nur eine temporäre Annäherung an die katholische Kirche gewesen wäre, so ist das dennoch nicht zu tolerieren. Man kann nicht die Prinzipien ein paar Monate unter den Tisch fallen lassen, nur um Wahlerfolge zu erlangen. Man erkennt zudem an öffentlichen Stellungnahmen und offiziellen Dokumenten der letzten Monate, dass es keine temporäre Position der FSLN ist. Beispielsweise wird jeder öffentliche Auftritt der derzeitigen Regierung von einem Repräsentanten der katholischen Kirche eröffnet.
In der FSLN hat es in den letzten Jahren große Veränderungen gegeben. Die Möglichkeiten innerhalb der Partei demokratische Entscheidungen zu treffen, haben sich extrem verringert. Für mich zeigt dies besonders deutlich eine Losung, die die FSLN kürzlich verlautbaren ließ: „Daniel ist der Präsident, das Volk ist Präsident“. Das bedeutet doch im Umkehrschluss: „Daniel ist das Volk – er weiß, was das Volk will“. Zudem erklärt Daniel Ortega öffentlich, dass Gott Nicaragua und die FSLN-Regierung segnet. Das alles führt zu einem Prozess der Idealisierung von Daniel Ortega. Ihm wird etwas „Göttliches“ verliehen. Ähnlich einem Religionsführer scheint er unfehlbar, seine Worte sind nicht zu hinterfragen. Das ist Teil des neuen Gedankenguts einer Partei, die vor kurzem noch als links galt. Auch wenn sie diese Entscheidung wieder rückgängig machen – es ist nicht entschuldbar. Es ist doch deutlich, dass die FSLN keine emanzipatorische Partei mehr ist, nicht mehr revolutionär. Es gibt uns noch deutlichere Argumente, um mitzuteilen, was wir seit Jahren beobachten.

Kasten: Einige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr verabschiedete das nicaraguanische Parlament (mit Zustimmung der FSLN-Abgeordneten) trotz zahlreicher Proteste eine Gesetzesänderung, die in Nicaragua die so genannte therapeutische Abtreibung unter Strafe stellt. Trotz eines grundsätzlichen Abtreibungsverbots war es seit 1893 möglich gewesen, eine Schwangerschaft dann zu unterbrechen, wenn das Leben der Frau gefährdet war. Auch bei einer vorausgegangenen Vergewaltigung war eine Abtreibung möglich. Dazu hatte die Frau immer sowohl die Zustimmung des Mannes als auch ein medizinisches Gutachten von drei verschiedenen ÄrztInnen benötigt. Nach der Gesetzesänderung müssen nun nicht nur die betroffenen Frauen, sondern auch ÄrztInnen, die eine therapeutische Abtreibung vornehmen, mit vier bis acht Jahren Haft rechnen. Zahlreiche (inter)nationale Organisationen und viele Regierungen haben öffentlich gegen die Änderung des Gesetzes protestiert. Bereits zwei Frauen sind nach verhinderter therapeutischer Abtreibung an den Folgen von Schwangerschaftskomplikationen gestorben. Zur Zeit wird eine Klage vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte vorbereitet. Dort wird die nicaraguanische Regierung wegen Verstößen gegen die Frauenrechte angeklagt.

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