Nummer 502 - April 2016 | Sachbuch

EINSAMKEIT UND WAHNSINN

Die erschütternde Reportagensammlung von Óscar Martínez wirft einen Blick auf die Strukturen der Gewalt in Zentralamerika

Von Sebastian Huhn

Wie lebt man in einer Region mit den weltweit höchsten Mordraten? Wie lebt man unter Drogenmafias, korrupter Polizei und kriminellen Politiker*innen? Diesen Fragen geht der salvadorianische Journalist Óscar Martínez in seinem kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch nach. Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika sind vierzehn Reportagen, die Martínez zwischen 2011 und 2015 verfasst hat. Er analysiert darin die Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten. Die einzelnen Geschichten nehmen dabei immer wieder aufeinander Bezug und zeichnen ein lebhaftes, tiefgründiges und kritisches Bild der Misere, mit besonderem Fokus auf El Salvador, Guatemala und Honduras.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil,„Einsamkeit“, handelt von den „Regionen, aus denen sich die Regierungen verabschiedet oder in denen sie sich mit dem Organisierten Verbrechen arrangiert haben“, so Martínez in der Einleitung. Eine dieser Reportagen erzählt vom guatemaltekischen Departamento Petén. Hier haben sich Drogenbarone illegal und zum Teil in Naturschutzgebieten riesige Anwesen errichtet, während der Staat dies aus Angst toleriert oder aus Komplizenschaft schützt. Gleichzeitig werden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Verweis auf den Naturschutz vom selben Staat verjagt und so entweder in die Arme eben jener Drogenbanden getrieben. Oder in die Arme der Agroindustrie, die in diesen Naturschutzgebieten Palmöl anbaut. Trotz der unerträglichen Zustände gelingt es Martínez nicht zynisch zu werden, sondern so lange weiter zu recherchieren, bis die Geschichten mit all ihren Aspekten erzählt sind. Die Gewalt ist bei Martínez nie monokausal, nie ohne Kontext und immer ist mehr als ein Akteur involviert.
Der zweite Teil des Buchs heißt „Wahnsinn“. In diesem Teil möchte der Autor mit eigenen Worten „die Sinnlosigkeit, die extreme Gewalt, in der uns die Einsamkeit versinken lässt“ beschreiben. Eine der Reportagen handelt vom jahrelangen verzweifelten Kampf eines Gerichtsmediziners, der Leichen aus einem Brunnen bergen möchte. Er will damit Beweise gegen mareros, Mitglieder von Banden, sammeln um ihre Verurteilung zu erreichen. Der Protagonist erhält dabei von keiner staatlichen Stelle ernsthafte Unterstützung. Am Ende muss er aufgeben und die Mörder werden aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Dieser Wahnsinn sei symptomatisch für ein ganzes Land, schreibt Martínez über El Salvador.
Der dritte Teil des Buchs trägt den Titel „Flucht“ und „berichtet von denen, die dem Wahnsinn entfliehen wollen“, wie es in der Einleitung heißt. Die Reportagen handeln von Fluchtversuchen in die USA, von Menschenschmuggler*innen oder von dem Ex-marero namens El Niño, der Kronzeuge in vielen Prozessen gegen die Mara Salvatrucha und  gegen kriminelle Polizist*innen ist. Es ist die „Geschichte eines Mannes, von dem auch ich wusste, dass man ihn ermorden würde“. Martínez betont, dass El Niño selbst ein Mörder war. Er hätte als Kronzeuge aber auch unter dem Schutz des Staates stehen müssen, um im Kampf gegen Gewalt bei der Aufklärung zu helfen.
Martínez klagt auf vielfältige Weise an und gibt nur selten Grund zur Hoffnung. Vor allem versucht er aber die Komplexität zentralamerikanischer Gewalt zu verstehen und zu vermitteln. Die Empathie, die er seinen Gesprächspartner*innen und Protagonist*innen entgegenzubringen weiß, machen seine Erzählungen eindrucksvoll. Die Gewalt in Zentralamerika erhält in Martínez‘ Reportagen Gesichter, die man beim Lesen zwar nicht zu mögen, aber in ihrem Handeln zu verstehen beginnt. Zu einer eindrucksvollen Lektüre trägt schließlich auch die exzellente Übersetzung von Hans-Joachim Hartstein bei.

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