Brasilien | Nummer 483/484 - Sept./Okt. 2014

Elitenkonkurrenzen

Im Bestreben, Mehrheiten zu erlangen, werden Alternativen mit transformativem Potenzial im brasilianischen Wahlkampf geschleift

Es ist schon atemberaubend, wie schnell sich das Szenario vor den Präsidentschaftswahlen am 5. Oktober in Brasilien geändert hat. Die nach dem tragischen Unfalltod von Eduardo Campos zur Kandidatin beförderte Marina Silva käme nach den letzten Umfragen mühelos in den zweiten Wahlgang und läge demnach deutlich vor der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff. Plötzlich scheint es möglich, dass Marina Silva die Wahl gewinnt. Aus einer Außenseiter_innenkandidatur scheint eine reale Perspektive geworden zu sein. Damit wäre das seit 1994 die Wahlen dominierende Duell zwischen der Arbeiterpartei PT und der rechtssozialdemokratischen PSDB aufgebrochen. Der aktuelle Kandidat der PSDB, Aécio Neves, ist in dem neuen Szenario wohl chancenlos.

Thomas Fatheuer

Die politische Debatte hat sich grundlegend gewendet. Im Mittelpunkt steht nun plötzlich Marina, wie sie in Brasilien kurz genannt wird. Es geht in den Debatten und in den Wahlkampfreden aller um Marina Silva und um die Kritik an ihr. Als ehemalige Umweltministerin der Regierung Lula stand sie bisher eher für ökologische Themen, als Mitglied einer evangelikalen Kirche aber auch für eine moralisch konservative Weltsicht. Als ernsthafte Präsidentschaftskandidatin präsentiert sie sich nun als Vertreterin eines „neuen Brasiliens“, als Verkörperung einer Neuorientierung der Politik, die die alte Dichotomie zwischen PSDB und PT überwinden und mit den „besten Elementen“ des Landes regieren wolle. An diesem Punkt der Erneuerung setzt die Kritik von PT, PT-nahen Blogger_innen und auch sozialen Bewegungen an. Silva stehe nicht für eine neue Politik, sondern im Gegenteil für die Rückkehr zu alten neoliberalen Rezepten. Tatsächlich hat sie sich mit wirtschaftspolitischen Berater_innen umgeben, die schon zur Zeit von Fernando Henrique Cardoso aktiv waren. In ihrem Programm findet sich die Forderung nach der Autonomie der Zentralbank – ein Griff in die neoliberale Mottenkiste. Von Transformation oder gar mehr Gerechtigkeit findet sich dort nichts, betont wird die Notwendigkeit der Inflationsbekämpfung, die Beschränkung der Rolle des Staates und die Befürwortung von Freihandelsabkommen. Ausgeschlachtet wird von der PT auch die hervorgehobene Rolle von Neca Setubal als Leiterin der Wahlkampagne Silvas. Sie ist Erbin der Banco Itaú, der zweitgrößten Privatbank Brasiliens. Der zweite große Angriffspunkt ist die konservative Haltung Marina Silvas in Fragen von Abtreibung und Rechten von Frauen und LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans). Sie gehört der evangelikalen Kirche Assembléia de Deus an und hat ihre Ablehnung des Rechts auf Abtreibung deutlich geäußert. Und aus ihrem Wahlprogramm verschwanden plötzlich Passagen, die sich für weitergehende LGBT-Rechte einsetzten.
Für das PT-Lager ist die Schlussfolgerung klar: Die neue Konkurrentin repräsentiere eine „konservative Restauration, einen gigantischen Schritt zurück in der Ökonomie, der Politik und bei den Menschenrechten. Wenn Marina gewinnt, wird die Idee des Staates als Gegenpol zum Markt bei den Wahlen verlieren“, so der PT-nahe Blogger Rodrigo Vianna, dessen Blog O Escrevinhador in Brasilien zu den bekanntesten zählt.
Der im Netz omnipräsente Anti-Marina-Diskurs sieht in ihr nicht einfach eine widersprüchliche Kandidatin, sondern ein „Projekt der Rechten“. Diese Kritik macht Schwachstellen und eine konservative wirtschaftspolitische Orientierung der Präsidentschaftskandidatin (und ihres Lagers) deutlich, sie macht sich aber wenig Mühe, das „Phänomen Marina“ und den Niedergang Dilma Rousseffs zu verstehen. Warum sind Beliebtheit und Umfragewerte Rousseffs seit März 2013 so drastisch gesunken, warum sind im Juni desselben Jahres die Massen auf die Straßen gegangen, was treibt die Meschen weg von PT / PSDB hin zu einer Person wie Marina Silva? Deren Diskurs der „Neuen Politik“ ist tatsächlich unscharf und vage. Er markiert die Abkehr von der bisherigen Politik – ohne dabei das „Neue“ klar zu definieren. Das ist wohl Schwäche und Stärke Silvas zugleich: Sie kann sich so als Projektionsfläche ganz verschiedener Wünsche und Erwartungen anbieten. Sie betont, dass sie das positive Erbe von Fernando Henrique Cardoso (die Überwindung der Inflation) und das der PT (die Sozialpolitik) fortführen und vertiefen wolle. Als Person verkörpert sie glaubwürdig eine Alternative zum etablierten Parteien- und Politiksystem, auch wenn sie selbst von diesem für ihre Kandidatur abhängt. Sie bedient damit die zum Teil sehr heftige Ablehnung gegen die herrschende Politik wie auch den Wunsch nach etwas Neuem, das aber nicht „zu radikal“ sein sollte. Ein entscheidendes Element ist, dass Silva nicht mit Korruptionsvorwürfen in Verbindung gebracht wird, sie wirkt wie ein Engel in den Niederungen der Politik, die durch endlose Skandalserien erschüttert ist.
Bleibt in dieser wolkigen „Neuen Politik“ noch das Profil von Silva als „Ökoaktivistin“ greifbar? Anscheinend nicht. Um jeglichen Verdacht von Radikalität zu zerstreuen, bemüht sie sich um Ausgleich zu allen Seiten. João Paulo Capobianco, einer ihrer wichtigsten Berater, ist gerade in der Sondermission unterwegs, das Agrobusiness zu beruhigen. Denn als Umweltministerin (2003-2008) hat sich Marina Silva durchaus Feinde gemacht und Profil gezeigt, zum Beispiel im Kampf gegen die Legalisierung transgenen Saatgutes in Brasilien. Nun sagt sie Sätze wie: „Ich bin weder gegen noch für transgenes Saatgut“. Auch in Umweltfragen weist sich das Programm durch Unbestimmtheit und Allgemeinplätze aus. Immerhin: Atomenergie verschwand als Option für den Ausbau der Energieerzeugung.
Ob das aggressive Denunzieren Silvas als „Projekt der Rechten“ Dilma Rousseff und die PT retten kann, ist fraglich. Die amtierende Präsidentin als Vorkämpferin der LGBT-Rechte und linke Gegnerin der Banken gegen eine reaktionäre Marina Silva – wer mag dies wirklich glauben? In Wahlkampfzeiten wird plötzlich ein linker Avatar der PT hergeholt und auf die Bühne gezerrt, es erscheint eine PT, die gegen den Finanzsektor (und den Imperialismus überhaupt) kämpft. Es geht dabei aber wohl weniger um politische Identität als um Marketing.
Die linke Kritik an Silva trifft oft richtige Punkte, ist aber wenig glaubwürdig, weil sie nicht denselben kritischen Blick auf Rousseff und ihren Vorgänger Lula wirft. Erinnern wir uns nur, wen Lula zum Präsidenten der Zentralbank ernannt hatte: Henrique Meirelles, einen Direktor der BankBoston und damals Mitglied der PSDB. Lula wollte damit ein klares Zeichen für seine bankenfreundliche Orientierung geben. Inflationsbekämpfung und Erzielung von Haushaltsüberschüssen wurden zu den zentralen Leitlinien der Wirtschaftspolitik, die sich damit durchaus im orthodoxen Mainstream bewegte. Und das Regierungsprojekt der PT fußte auf einem strategischen Bündnis mit reaktionären Sektoren des politischen Systems (insbesondere der Gruppe um den Ex-Präsidenten José Sarney, die den Energie- und Bergbausektor beherrscht) sowie dem Agrobusiness. Roberto Rodrigues, ehemaliger Agrarminister in der Regierung Lulas, hat jüngst die Jahre der PT als die besten für das Agrobusiness in Brasilien bezeichnet. Und zu den aktuellen Verbündeten Dilmas gehört Kátia Abreu, die aggressive Sprecherin des Agrobusiness im brasilianischen Senat und preisgekrönt mit dem ehrwürdigen Titel „Goldene Kettensäge“ (siehe LN 451).
Im Duell Dilma gegen Marina stehen wohl kaum gegensätzliche Politikprojekte zu Wahl, eher eine Elitenkonkurrenz um den Zugang zur Macht. Alternativen mit transformativen Potential werden im Wahlkampf eher geschleift im Bestreben, Mehrheiten zu erlangen. Sie müssen woanders gesucht werden, in den noch zersplitterten sozialen Kämpfen und Widerstandsaktionen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren