Mexiko | Nummer 501 - März 2016

ERFOLGREICHER PROTEST VOR HISTORISCHEM BESUCH

Kurz vor der Ankunft des Papstes zeigt Chiapas erneut sein rebellisches Gesicht

Der südmexikanische Bundesstaat Chiapas bleibt unruhig, Anfang Februar musste eine lokale Bürgermeisterin nach massiven Protesten der indigenen Bevölkerung zurücktreten. Papst Franziskus stärkt den Kämpfer*innen für indigene Rechte bei seinem Besuch zumindest symbolisch den Rücken.

Von Phillip Gerber

Nach monatelangen intensiven Mobilisierungen hat die indigene Tzeltal-Bevölkerung des Bezirks Oxchuc im Bundesstaat Chiapas ihr Ziel erreicht: Am 5. Februar reichte die Bürgermeisterin María Gloria Sánchez Gómez von der Grünen Partei Mexikos (PVEM), die mit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) verbündet ist, ihren formellen Rücktritt ein. Dabei hatte sie das Amt nach ihrem umstrittenen Wahlsieg im Juli 2015 gar nicht erst ausüben können, eine breite Oppositionsbewegung hatte dies verhindert. Sánchez war von 2005 bis 2007 schon einmal Bürgermeisterin des 115 Gemeinden zählenden Bezirks Oxchuc gewesen, damals wurde sie von den Medien als erste Frau in diesem Amt in einer indigenen Gemeinde gefeiert. Vor ihrer ersten Amtszeit war ihr Ehemann Norberto Sántiz López Gemeindepräsident. Sántiz López war als Abgeordneter der PRI im Bundesparlament und regierte daraufhin die Gemeinde ein zweites Mal. 15 Jahre dauerte die Clanherrschaft von Oxchuc insgesamt, bis die Bevölkerung diese nicht mehr ertrug, erzürnt auf die Straße ging und den Bürgermeistersitz am Tag nach den Wahlen besetzte.
Monatelang verliefen die Proteste von Oxchuc friedlich, aber die Regierung des Bundesstaates Chiapas, die ebenfalls der PVEM angehört, ignorierte die Forderungen der Bewegung. Denn der Nepotismus in Oxchuc ist keineswegs ein Einzelfall, sondern vielmehr die Regel: „In Chiapas bleibt alle Macht in der Familie. Zumindest spiegeln dies die Netze der politischen Beziehungen wider, denn Brüder, Ehefrauen, Onkel, Schwiegersöhne und compadres vererben sich gegenseitig die politische Macht”, kommentierte Isain Mandujano die Wahlen von 2015 im Wochenmagazin Proceso. Insgesamt 92 der 122 Bezirke gewannen so die alliierten Parteien PVEM und PRI.
Am 8. Januar eskalierte die Situation, als das Innenministerium die Anführer des Protests zu Verhandlungen in das nahe gelegene San Cristóbal de Las Casas einlud. Die Einladung entpuppte sich als Falle, denn 37 Delegationsmitglieder wurden verhaftet. Als dies in Oxchuc bekannt wurde, schlugen die Kirchenglocken Alarm: Schnell besetzten daraufhin Protestierende die Bundesstraße nach Palenque, zündeten mehrere Häuser und Geschäfte der Politikerfamilie an und lieferten sich schwere Auseinandersetzungen mit einem Großaufgebot der Polizei, die trotz Tränengas und Helikoptereinsatz die Flucht ergreifen musste. Über 60 Polizist*innen wurden verletzt, 27 Uniformierte von der aufgebrachten Bevölkerung festgesetzt.
Auch viele internationale Tourist*innen, die sich auf der beliebten Busroute von San Cristóbal de Las Casas nach Palenque befanden, gerieten in die Konfrontation: „Die Unsicherheit im Bus war groß. Wir wussten nicht, was los ist, hörten jedoch die Helikopterflüge und gelangten letztlich nach vielen Stunden über einen großen Umweg an unser Ziel”, berichtete eine deutsche Reisende den LN. Andere hatten weniger Glück, wurden mitten im Chaos von den Busfahrern im Stich gelassen, ihre Busse mitsamt Gepäck angezündet. Diese Tourist*innen, die von der Dorfbevölkerung in Sicherheit gebracht wurden und letztlich mit dem Schrecken davonkamen, beklagen fehlende Entschädigungen der Busunternehmen und verdächtigen die Behörden des Touristenziels, den Vorfall aus Imagegründen vertuschen zu wollen.
Wenige Tage nach der Eskalation wurden die inhaftierten indigenen Anführer im Austausch gegen die festgesetzten Polizist*innen freigelassen. Die Protestbewegung von Oxchuc machte währenddessen mit weiteren großen und friedlichen Demonstrationen auf sich aufmerksam. Mitte Februar scheint der lokale Machtkampf entschieden. Nun sollen die 115 Dörfer von Oxchuc ihre neue Vertretung nach indigenen Bräuchen bestimmen, diese muss dann vom chiapanekischen Parlament bestätigt werden.
Ein großer Erfolg für die Bevölkerung von Oxchuc, der zu den ärmsten Bezirken in ganz Mexiko gehört. Laut dem nationalen Statistikinstitut INEGI leben von den circa 43.000 Bewohner*innen über 30.000 in extremer Armut. Doch umliegende Gemeinden sind von Armut und politischer Korruption ähnlich hart betroffen: Auch in Altamirano, Chanal und Ixtapa formiert sich Widerstand gegen die in feudalem Stil herrschenden Politikerfamilien, den sogenannten Kaziken. Der Journalist Isain Mandujano sieht den Fall Oxchuc als emblematisch für den Bundesstaat: „Was in Oxchuc begann, ist der Kampf gegen die politischen Kaziken, die in der Mehrheit der 122 Bezirke in Chiapas regieren. Oxchuc ist nur die Spitze des Eisbergs aller Konflikte, die vor sich hinschwelen und noch nicht explodiert sind”. Oxchuc könnte somit der Beginn eines neuen Aufstands der Würde sein gegen eine Politik, die von vielen Beobachter*innen schlicht als „pervers” beschrieben wird. Kurz vor dem Papst-Besuch wurde nso die ungelösten soziale Konflike in Chiapas erneut in die Öffentlichkeit gerückt. Andersherum hatte die politische Klasse das Interesse, die Wogen einigermaßen zu glätten, bevor die Weltöffentlichkeit nach (Süd-Mexiko blickt.
Bei seinem Besuch in San Cristóbal de Las Casas am 15. Februar wurde deutlich, dass Papst Franziskus den symbolischen Ort ausgewählt hatte, um die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas seit der spanischen Eroberung zu verurteilen. Die Stadt ist nach dem Bischof Bartolomé de Las Casas benannt, der sich im 16. Jahrhundert für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzte und als „Apostel der Indianer” bekannt wurde. „Eure Völker wurden missverstanden und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Einige haben eure Werte, eure Kultur und Traditionen als minderwertig beurteilt. Andere, schwindlig von Macht, Geld und den Gesetzen des Marktes, haben euch von euren Territorien vertrieben oder Aktionen realisiert, welche sie verschmutzten”, urteilte der Chefkatholik in seiner Messe, die in mehreren indigenen Sprachen abgehalten wurde. Franziskus bat die Indigenen um Verzeihung für diese Politik, wenn er auch nicht spezifisch auf die Mitverantwortung der katholischen Kirche einging. Auf die Forderung indigener Organisationen ganz Lateinamerikas, die damalige päpstliche Bulle (Legitimierung) der Eroberung Amerikas rückgängig zu machen, ging Franziskus nicht ein.
Von eminenter symbolischer Bedeutung für Gläubige ist die Anerkennung der indigenen Theologie durch den Papst, die während der Bischofszeit (1959 bis 1999) von Samuel Ruiz García gedeihen konnte. Am Grab von Ruiz, der sich in der Nachfolge von Bartolomé de Las Casas sah, verneigte sich Franziskus und sprach ein stilles Gebet. Auch dass die Messe in verschiedenen indigenen Sprachen und mit indigenen Ritualen zelebriert wurde, ist ein Paradigmenwechsel. Nach der Pensionierung von Ruiz hatte die Kirche weitere Ernennungen von indigenen Katecheten unterbunden und das Lesen der Messe in indigenen Sprachen verboten.
Dessen ungeachtet setzte die basiskirchliche Bewegung Pueblo Creyente (“Wachsendes Volk”) das Erbe von Samuel Ruiz fort und machte mit großen Pilgermärschen zu politisch brisanten Themen auf sich aufmerksam. Die Bewegung hat insbesondere die „Bewahrung der Schöpfung“ zum Ziel und kritisiert vehement Wasserkraftprojekte und Bergbaufirmen, welche indigene Territorien für ihre Zwecke vereinnahmen wollen. Zumindest theologisch-theoretische Unterstützung erhält sie dabei in Ansätzen durch die Enzyklika “Laudatio Sí”, die Franziskus 2015 veröffentlichte (siehe LN 493/494). Andererseits dürfte der päpstliche Besuch von Chiapas auch ein Versuch sein, verlorenes Terrain für seinen Verein zurückzugewinnen. In keinem anderen Bundesstaat Mexikos hat die katholische Kirche in den letzten Jahren so viele Anhänger*innen an die diversen evangelikalen Bewegungen verloren.

Erfüllte und enttäuschte Erwartungen – Kommentar zum Papstbesuch

Volles Programm: Fünf Stationen in fünf Tagen. Das war der Reiseplan von Papst Franziskus bei seiner ersten Reise nach Mexiko. Neben Mexiko-Stadt besuchte Jorge Mario Bergoglio, der oberste Hirte der katholischen Kirche, Ecatepec im Bundesstaat Mexiko, San Cristóbal de Las Casas und Tuxtla Gutiérrez in Chiapas, Morelia in Michoacán und Ciudad Juárez in Chihuahua, von wo es wieder zurück nach Rom ging. Fünf Tage, an denen er verschiedene Botschaften verbreitete in einem von Gewalt geschundenen Land, dessen mehrheitlich katholische Bevölkerung Zeichen der Hoffnung und Ermutigung vom Papst erwartete. Manche Erwartungen wurden erfüllt, andere allerdings nicht.
So äußerte Franziskus Kritik an Privilegien, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit, teilweise deutlich und direkt, aber mitunter auch nur durch Passagen der Bibel. Weder die mexikanische Regierung noch die mehrheitlich eher konservative mexikanische Bischofskonferenz wollten darin Kritik an sich selbst erkennen, wenngleich Analyst*innen dies anders kommentierten. Auch die mit dem Organisierten Verbrechen verbundene Gewalt prangerte er mehrmals an, was jedoch als Konsens im offiziellen Diskurs in Mexiko üblich ist. Soweit gab es nicht viel Neues, wenn man frühere Erklärungen Bergoglios als Maßstab nimmt.
Enttäuschung rief in Teilen der Bevölkerung hervor, dass sich Franziskus nicht auf ein Treffen mit den Eltern der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa einlassen wollte. Die Begründung des Vatikans, der Papst wolle kein Unterschied zwischen den 43 und den restlichen Verschwundenen machen, klang eher nach einer halbherzigen Rechtfertigung. Wahrscheinlicher ist, dass die mexikanische Regierung Druck auf den Vatikan ausgeübt hat, um dieses Treffen zu verhindern, und dieser sich aus Gründen der Staatsräson dem Druck gebeugt hat. Ein solches Treffen, wenn es zustande gekommen wäre, hätte nicht nur den Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten, sondern auch vielen Angehörigen anderer Verschwundener den Rücken gestärkt und Kraft für die andauernde Suche gegeben Zudem wäre es auch ein Zeichen gewesen, dass sich die katholische Kirche hinter die Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung gestellt hätte. So bleibt der Eindruck, dass Franziskus wohl nicht ganz so fortschrittlich und unabhängig von Machtinteressen ist, wie es viele seiner Erklärungen erhoffen ließen.

// Thomas Zapf

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