Nummer 414 - Dezember 2008 | Peru

Erinnerung, die wie Wasser fließt

Ein Museum in der peruanischen Andenstadt Ayacucho erinnert an die grausamen Jahre des Bürgerkrieges

Ayacucho galt einst als Hochburg des Leuchtenden Pfades. In unmittelbarer Nähe der Stadt rief die maoistische Organisation im Jahre 1980 einen Volkskrieg aus, an dessen Ende eine gerechtere Gesellschaft stehen sollte. Es wurde ein Krieg, in dem die Bevölkerung blutete. An die 70.000 Tote und etwa eine halbe Million Vertriebene waren die traurige Bilanz. Heute sind auf den ersten Blick kaum noch Spuren des Krieges in Ayacucho zu sehen. Außer im Museum der Erinnerung.

Cordula Strocka

Schon vor dem Morgengrauen herrscht auf dem Großmarkt von Ayacucho reges Treiben. Eilig werden Lastwagen mit Bananen, Maiskolben und Brennholz entladen. Marktfrauen breiten frische Kräuter und Gemüse auf bunten Tüchern vor sich aus. Laut hupend bahnen sich unzählige Motorradtaxis einen Weg um die Markthallen herum, und Menschenmengen drängen sich durch das Labyrinth der Stände.
Vor zwei Jahrzehnten lag der Markt am Rande der Stadt noch in der Schusslinie der Guerilla Leuchtender Pfad, die sich auf den umliegenden Andenhängen verschanzt hatte. KäuferInnen und VerkäuferInnen riskierten damals ihr Leben. Heute ist der Markt Teil des Stadtzentrums: Seine BesucherInnen laufen höchstens Gefahr, Opfer von TaschendiebenInnen zu werden. Innerhalb weniger Jahre hat die Zuwanderung der durch Bürgerkrieg und Armut vertriebenen Landbevölkerung aus Ayacucho eine lebendige Großstadt gemacht.
Wenige hundert Meter vom Markt entfernt liegt das so genannte Museum der Erinnerung von der Vereinigung der Angehörigen von Verhaftet-Verschwundenen ANFASEP. Die Organisation wurde 1983 in Ayacucho gegründet und hat heute über 500 Mitglieder, fast ausschließlich indigene Frauen, deren Ehemänner und Kinder während des bewaffneten Konflikts ermordet wurden. Die große Mehrzahl wurde von der Armee verschleppt und blieb anschließend verschwunden. Ein deutlich kleinerer Teil waren Opfer des Leuchtenden Pfades, der jedoch landesweit zwischen 1980 und 2000 laut dem Bericht der peruanischen Wahrheitskommission für 54 Prozent der knapp 70.000 Toten verantwortlich war. Das Schicksal vieler verschwundener Angehöriger ist bis heute ungeklärt, die juristische Bearbeitung der Fälle verläuft schleppend. Während tausende mutmaßliche AnhängerInnen des Leuchtenden Pfads ins Gefängnis kamen, wurden verantwortliche Militärs bisher nur in wenigen Einzelfällen verurteilt. Die Witwen geben dennoch nicht auf und kämpfen trotz ihres bereits hohen Alters weiter für Wahrheit und Gerechtigkeit.
Angélica Mendoza, auch liebevoll Mamá Angélica genannt, ist die Gründerin und langjährige Vorsitzende von ANFASEP. Vor 25 Jahren wurde ihr damals 19-jähriger Sohn Arquímedes von Soldaten verschleppt. Sein letztes Lebenszeichen war ein beschriebener Papierfetzen: „Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Aber besorg mir einen Anwalt.“ Seitdem ist Arquímedes verschwunden. Doch seine heute 80-jährige Mutter sucht weiter. Der Papierschnipsel mit dem letzten Hilferuf ihres Sohnes ist im Obergeschoss des Museums ausgestellt, das man über eine steile Treppe erreicht, vorbei am Versammlungsraum und Büro der Organisation. Auch Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände anderer Verschwundener sind dort zu sehen.
Für die ANFASEP-Mitglieder sind diese Kleider und Gegenstände die einzigen sicht- und greifbaren Erinnerungen an ihre verschwundenen und getöteten Angehörigen. Sich von ihnen zu trennen und sie im Museum auszustellen, hat die Witwen teils große Überwindung gekostet. Aber stärker noch war das Bedürfnis, der Welt Zeugnis von dem Unrecht zu geben, das ihnen und ihren Familien widerfahren ist. „Niemals können wir die Gewalt vergessen, die wir selbst erfahren und mit eigenen Augen gesehen haben“, sagt Lidia Flores, die Vorsitzende von ANFASEP. „Aber unsere Kinder waren damals noch nicht geboren oder zu klein, um zu verstehen. Wir müssen ihnen zeigen und erklären, was damals passiert ist, damit auch sie es niemals vergessen. Wir dürfen nicht vergessen, damit sich diese Gewalt nicht wiederholt.“
Die Nachbildungen eines Massengrabes und einer Folterzelle sowie Miniaturplastiken, die bis ins kleinste Detail die brutalen Verbrechen des Militärs und des Leuchtenden Pfades darstellen, konfrontieren die MuseumsbesucherInnen schonungslos mit dem Schmerz und den Gewalterfahrungen der ANFASEP-Mitglieder. Eine derartig drastische, detailgetreue Darstellung von Gewalt in einem Museum mag für BesucherInnen irritierend, ja fast abstoßend wirken. Doch die Witwen und Waisen von ANFASEP, die selbst durch die Ausstellung führen, betonen immer wieder, wie wichtig es ihnen ist, sichtbar zu machen, was sie erlebt haben. Die bildliche Darstellung mit Hilfe traditioneller kunsthandwerklicher Techniken entspricht ihrer Tradition weit mehr als das geschriebene Wort, das die meisten der Frauen ohnehin nicht lesen können. Einige der ausgestellten Kunstwerke wurden von Kindern der ANFASEP-Mütter geschaffen und spiegeln die Auseinandersetzung der jüngeren Generation mit dem Leiden ihrer Eltern wider.
Beide Generationen beteiligten sich aktiv am Aufbau des Museums, messen diesem aber unterschiedliche Bedeutung bei: Für die Müttergeneration ist das Museum zuallererst ein privater Ort des Gedenkens an ihre verstorbenen Angehörigen. „Wenn ich hier im Museum bin, ist mir mein verstorbener Mann ganz nahe“, begründet Lidia Flores ihren engen Bezug zum Museum. „Es ist, als ob ich ihn vor mir sehe, manchmal unterhalte ich mich mit ihm in meinem Gedanken.“ Für die jugendlichen Waisen dagegen ist das Museum in erster Linie ein öffentlicher Ort, der nach außen wirken soll, über die Grenzen Ayacuchos und Perus hinweg. Das Museum eröffnet ihnen die Chance, ihrem von Armut und Ausgrenzung bestimmten Alltag für eine Weile zu entfliehen. Der Blick der jungen Generation geht nach vorn. Felimón Salvatierra beispielsweise, Vorsitzender der ANFASEP-Jugendlichen, möchte sich nicht sein Leben lang als Opfer sehen. Er sucht aktiv nach einer besseren Zukunft, studiert und arbeitet zugleich und führt in seiner Freizeit BesucherInnen durch das Museum.
Alejandro Mancilla, Leiter einer Tourismusagentur in Ayacucho, hielt zunächst wenig von der Idee, das Museum in sein Programm aufzunehmen. „Ich dachte, die Touristen sollen doch die schönen Seiten von Ayacucho kennenlernen. Wir wollen sie ja nicht verängstigen oder deprimieren. Aber dann habe ich gemerkt, dass viele Touristen unbedingt mehr über die Zeit der politischen Gewalt erfahren wollen.“ Mancilla ging dann mit seinen Angestellten mehrmals zu ANFASEP, um das Museum kennenzulernen. Die Jugendlichen und Frauen dort führten sie in die Inhalte der Ausstellung ein und erhielten im Gegenzug Tipps für den Umgang mit den TouristInnen. „ANFASEP hat mir die Augen geöffnet für einen Teil unserer Geschichte, den ich bisher nicht wahrhaben wollte“, sagt Mancilla jetzt.
Das dicke, eng beschriebene Gästebuch legt Zeugnis davon ab, welch tiefen Eindruck das Museum der Erinnerung bei seinen BesucherInnen aus aller Welt hinterlässt. Die EinwohnerInnen von Ayacucho hingegen zeigen bisher nur geringes Interesse. Schulklassen lassen sich trotz mehrfacher Einladung kaum blicken. Viele bezeichnen ANFASEP sogar als eine Organisation von „Terroristenmüttern“, weil die Organisation auch die Untaten der Armee im Bürgerkrieg beim Namen nennt. Schließlich reicht die Ignoranz dem schmutzigen Krieg der Streitkräfte gegenüber bis in höchste Regierungskreise. Der gegenwärtige Präsident Alan García war während seiner ersten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 sogar mitverantwortlich für Menschenrechtsverbrechen der Militärs. Und eine Mehrheit unter den Kongressabgeordneten findet bis heute, die Armee habe im Bürgerkrieg heldenhaft das Vaterland verteidigt. Zwei Jahrzehnte bewaffneter Konflikt haben soziale Netzwerke zerrüttet und die Grenzen zwischen Opfern und TäterInnen verwischt. In der Bevölkerung sitzt das gegenseitige Misstrauen tief, und viele ziehen es wie die meisten PolitikerInnen vor, das Vergangene zu verschweigen und zu verdrängen.
Deshalb ist die Arbeit von ANFASEP noch lange nicht abgeschlossen. „Wir werden weiterkämpfen bis zum Tod“, bekräftigt die für ihr Alter erstaunlich rüstige Mamá Angélica. Doch viele ihrer Mitstreiterinnen sind schon verstorben oder zu krank und schwach, um sich noch aktiv an Protestmärschen zu beteiligen. Noch sind die Frauen von ANFASEP nicht bereit, ihren Kindern Verantwortung innerhalb der Organisation zu übertragen. Den Witwen und alleinerziehenden Müttern, die über so viele Jahre hinweg allen Widerständen und Anfeindungen zum Trotz Stärke und Durchhaltevermögen zeigten, fällt es schwer, die Führungsrolle abzugeben. Sie fürchten, dass die jüngere Generation dem Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer der politischen Gewalt keinen so großen Stellenwert in ihrem Leben einräumen wird, wie sie selbst es ein Vierteljahrhundert hindurch getan haben.
Doch selbst wenn die meisten der Jugendlichen nicht in die Fußstapfen ihrer Mütter treten sollten, eines ist sicher: Sie werden das, was geschehen ist und wofür ihre Mütter gekämpft haben, nie vergessen. Alex Valenzuela, einer der ANFASEP-Waisen, zitiert bei seinen Museumsführungen gerne den Ausspruch einer alten Witwe, der ihn besonders beeindruckt hat: „Unsere Erinnerung an die Zeit der Gewalt ist wie das Wasser. Wohin es fließt, reinigt und heilt es und bringt die Knospen zum Blühen.“
// Cordula Strocka

Virtueller Rundgang durch das Museum der Erinnerung: http://de.youtube.com/watch?v=GHaI-vmwtxg

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