Mexiko | Nummer 406 - April 2008

Erinnerungen im leeren Raum

Das Memorial del 68 ist eine späte Würdigung der Bewegung – ihre Darstellung bleibt dennoch ambivalent

2007 wurde das Memorial del 68 eröffnet – in Tlatelolco, wo vor 40 Jahren die mexikanische Regierung auf die protestierenden StudentInnen schießen ließ. Ein Gang durch das erste Museum zu 68 der Welt.

Juliane Schumacher, Sherin Abu Chouka

Die Treppe hinunter. Im Ohr noch das Schlagen der Glocken, das über den Zócalo hallt, den großen Platz im Zentrum von Mexiko-Stadt, dessen Bild hier im Museum eine Leinwand füllt. Dunkel ist es unten, nur die wandgroßen Bildschirme, versteckt in Nischen, werfen bläuliches Licht. Die Treppe als Wendepunkt zwischen den spontanen, größenwahnsinnigen Aktionen, wie der Besetzung des Zócalo am 28. August, der Leichtigkeit, Spontanität und Gewissheit die Welt verändern zu können, die der Studierendenbewegung von 1968 in den ersten Wochen eigen war. Und der Anspannung, der Repression, die ab dem 1. September der Bewegung drohend näher rückte, die Angst in Erwartung dessen, was geschehen würde – und was hier, im Museum, jedeR BesucherIn schon zu Beginn des Rundgangs weiß. Die Regierung unter Präsident Diaz Ordáz schlug zurück, ließ auf die DemonstrantInnen schießen, die sich am 2. Oktober auf dem Platz der drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco versammelt hatten. Tausende Verletzte und Verhaftete; die Anzahl der Toten ist bis heute unbekannt.
Das Massaker von Tlatelolco jährt sich 2008 zum 40. Mal, und schon ein Jahr zuvor, am 22. Oktober 2007, hat die Nationale Autonome Universität (UNAM) an genau diesem Ort ein universitäres Kulturzentrum eröffnet. Mit Räumlichkeiten für Tagungen und Seminare, einer Kunstgalerie – und dem Memorial del 68, dem ersten Museum zu 68 der Welt. Zwei Jahre zuvor, im Juli 2005, hatte die UNAM einen Vertrag mit der Regierung von Mexiko-Stadt geschlossen, unter dem damaligen Bürgermeister und späteren Präsidentschaftskandidaten Álvaro Manuel López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Gut ein Jahr später, im November 2006, übergab die Stadtverwaltung der Universität offiziell die Räume in dem Gebäude am Rand des Platzes der drei Kulturen, ein hoher, moderner Bau aus den 1960er Jahren, in dem über vier Jahrzehnte das Außenministerium saß.
Gleich am Eingang eine riesige Fotomontage: Hunderte kleine Fotos von 68ern aus aller Welt bilden schemenhaft eine Hand, die sich zur Faust ballt. Das Memorial del 68 beschränkt sich nicht auf die Darstellung des Massakers, es widmet sich der gesamten Bewegung, dem heißen Sommer der Rebellion. Man kann den KünstlerInnen und HistorikerInnen, die das Museum gestaltet haben, nicht vorwerfen, sie hätten keinen Aufwand betrieben, die Stimmen von damals einzufangen. Kern des Konzepts sind über 100 Stunden Filmmaterial. Die Erlebnisse, Einschätzungen und Erinnerungen von 57 AktivistInnen und Intellektuellen jener Zeit wurden in Interviews festgehalten und dokumentiert. Hinzu kommt Material aus Archiven, wie Flugblätter, Plakate, Fotos, Filmsequenzen, die die zwei Etagen der Ausstellung mit Klängen, Bildern, Eindrücken füllen. Alles ist multimedial aufbereitet, lesen müssen BesucherInnen kaum, um über die Geschehnisse zwischen Juli und Dezember 1968 etwas zu erfahren, um den „Geist der Epoche“ zu spüren.
Auf diesen „Geist“ haben die MuseumsmacherInnen viel Wert gelegt und er erwartet einen, noch bevor man den ersten Raum betritt. In einer Nische, auf gepolsterten Bänken, lässt sich eine Installation des Künstlers Óscar Gúzman verfolgen: Auf zwei Bildschirmen strömen zur Musik von John Lennon, Rolling Stones und vielen anderen die Bilder der 1960er Jahre vorüber, überblenden und vermischen sich, lösen sich aus ihrem Kontext, vermischen sich in einem Potpourri aus Tragik, Kitsch und Emotionen: Kennedy, Che und Martin Luther King, die Landung auf dem Mond und flüchtende vietnamesische Kinder, die Revolution in Kuba, Panzer in Prag und die Beatles beim Besuch in Indien.
Diese Installation steht wie ein Deckblatt über der gesamten Ausstellung, deren Stärken und Schwächen sie voraus nimmt. Die starke Fokussierung auf die Schicksale einzelner Personen, die Erzählung über Biographien macht die Erlebnisse nachvollziehbar, reißt die Geschichte aus dem Abstrakten, macht die Ereignisse begreifbar und konkret. Die biographischen Erzählungen der Interviews machen es möglich, Geschichte lebendig zu erzählen und unterschiedliche Interpretationen und Deutungen der damaligen Ereignisse in der Bewegung sichtbar zu machen. Nicht „die Geschichte“ wird erzählt, sondern die wirklichen, gelebten Geschichten.
Auch diese Darstellung hat ihre Schönheitsfehler, ihre blinden Flecken: So haben AktivistInnen von 68 kritisiert, dass sich unter den dargestellten „AktivistInnen“ auch Personen finden, die gar keine waren, sondern schon damals als Intellektuelle die Ereignisse deuteten und deren Interpretation prägten – wie Elena Poniatowska oder Carlos Monsiváis. „Vor allem die Geschichte des Streikrates CNH wird erzählt,“ kritisiert daneben die Aktivistin Ana Ignacia Rodríguez, die auch unter den Interviewten ist „dafür fehlen Aktionsformen und die Bedeutung der studentischen Brigaden in der Darstellung fast ganz.“ Gerade die Besonderheiten der politischen Organisation von damals, das Gefühl, anders, basisdemokratisch Politik zu machen, das viele AktivistInnen so nachhaltig prägte, wird nicht in dem gelebten – und im Memorial sonst auch präsenten – Facettenreichtum repräsentiert.

Nicht „die Geschichte“ wird erzählt, sondern gelebte Geschichten.

Keine Frage, es ist ein gewaltiges gesellschaftliches Symbol, wenn am Ort des Massakers ein Memorial der Studierendenbewegung steht. Eine gute und notwendige Ergänzung zum Gedenkstein, der 1993 aus privater Initiative für die Opfer des Massakers errichtet worden war. Eine permanente Würdigung, die die Gedenkveranstaltungen und jährlichen Demonstrationen am 2. Oktober erweitert und ergänzt.
Ambivalent bleibt der Zugang des Museums zu den Ereignissen von 1968 aber vor allem, weil er so ungewöhnlich gar nicht ist: Denn die Geschichte von 1968 ist ja auch für junge MexikanerInnen von heute nichts Fernes und Abstraktes, gerade der emotionale, der „kulturelle“ Zugang zu 68 ist in der Gesellschaft, nicht nur in Mexiko, durchaus präsent. 1968 als Aufbegehren der Jugend, als symbolischer Beginn eines neuen Hedonismus, 68 als Pop – das ist nichts Marginales, nichts, was in der Gesellschaft verschwiegen werden würde, das ist ein herrschendes Deutungsmuster, das die Wahrnehmung von 1968 in Europa, den USA und auch in Mexiko prägt. So hat es durchaus seine Bedeutung, wenn der gesamte erste Teil des Museums der (internationalen) Vorgeschichte der Bewegung gewidmet ist, und wenn auch hier die „globale“ Kultur, vor allem Film und Popmusik, eine große Rolle spielt. Was dabei hintenüber fällt, das ist die Politik und die Einordnung in den lokalen Kontext: So erfährt man von der Landung auf dem Mond und den Aufständen in Tschechien – die politische Situation, die Vorgeschichte und Hintergründe in Mexiko hingegen bleiben im Dunkeln, kein Wort zur Situation im ländlichen Mexiko, auch Fotos der mexikanischen Hippies, xipitecas, sind keine zu sehen. Und es fehlt eben auch eine Analyse der Folgen fürs politische System, die über die häufig gefeierte Aussage hinausgeht, 68 sei der Beginn der Demokratisierung Mexikos, die in der Wahl Fox‘ 2000 verwirklicht worden sei.
So bleibt die Deutung der Ereignisse und ihre Einordnung in die Geschichte im Memorial del 68 der Architektur überlassen. Nach dem Weg durchs düstere Untergeschoss, dem Ort von Unterdrückung, Gefangenschaft und Tod, dem Ort, an dem auch die Olympiade hier ihren Platz hat, die wenige Tage nach dem Massaker begann, geht es wieder aufwärts, zurück ins Licht. Die voll verglasten Räume geben den Blick auf den Platz der drei Kulturen frei. TouristInnen klettern über die Azteken-Ruinen, die Kathedrale duckt sich wie ein altes Mütterchen, flockige Wolken treiben am Himmel. Hell und friedlich die Gegenwart, seltsam kräftig die Farben nach all dem vergilbten schwarz-weiß der alten Bilder und Filme.
Das vielleicht ist schließlich das bedeutendste Scheitern des Museums: Dass es endet, wo die Diskussion doch eigentlich beginnen müsste. Mit der Aufhebung des Streiks ist die Darstellung der Ereignisse zu Ende, kein Wort zu Straffreiheit der Täter, kein Wort über all die Streiks, Mobilisierungen, politischen Aktionen, die nach 1968 kamen und sich darauf bezogen und beziehen: Die Demonstrationen am 2. Oktober, die seit 40 Jahren immer neue Generationen weiter geführt und mit ihren Themen besetzen haben, die alten und neuen Guerillas, der neunmonatige Streik an der UNAM 2001, der wie 1968 mit der Besetzung der Universität durch die Polizei endete. Vielleicht zu viele, zu heikle Themen für ein erstes Erinnern. Aber indem das Museum jeglichen Bezug zu heutigen Kämpfen, jede offene Frage über den demokratischen Charakter des heutigen Systems verweigert, gerät es in Gefahr, genau das zu sein, was es nicht sein wollte: Ein Ort, der eine Bewegung historisiert, reif macht fürs Museum. Ein Ort, der 1968 als eine abgeschlossene Episode darstellt, die man in ihrer architektonisch manifesten Deutung besichtigen, durchlaufen kann (und wieder verlässt). Ein Ort, der eine, wenn auch vielstimmige Version der Geschichte festschreibt als die Wahrheit – und damit ausblendet, dass Geschichtsdeutungen immer ein fortwährender Kampf um Wahrheiten sind.

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