Kolumbien | Nummer 319 - Januar 2001

Erreichen Worte mehr als Gewehre?

Wenn Schriftsteller in Kolumbien nicht wissen, zu wem sie eigentlich sprechen

Der Anlass klingt viel versprechend. Nationale und internationale „Schriftsteller für den Frieden“ finden sich zu einem Treffen in einem entlegenen kolumbianischen Ort ein, um sich für eine friedliche Lösung des Konfliktes stark zu machen. Nur: wie findet man die richtigen Worte, wenn selbst der anwesende Bürgermeister ein Paramilitär sein soll und man an Stelle der Bevölkerung eine Schar Schulkinder vor sich hat?

Tommy Ramm

Hier ist solch eine Veranstaltung viel bedeutender als in Bogotá oder einer anderen Großstadt des Landes“, urteilt der betagte kolumbianische Schriftsteller Elmo Valencia, während er seinen Blick über die Häuserdächer des kleinen Ortes Caicedonia schweifen lässt. „Wissen sie,“ sagt er mir im Flüsterton, „für uns ist es ein Ritual, uns hier zu treffen, unsere Meinungen auszutauschen und zu der Entwicklung im Land öffentlich Stellung zu nehmen.“
Vielleicht ist dies wirklich das angestrebte Ziel dieser Zusammenkunft, die eine Hand voll Schriftsteller an einem Novemberwochenende zum zweiten Mal nach Caicedonia verschlägt. Oder doch einfach nur ein Ritual in einer passenden Gegend?
Immerhin ein schöner Ort. Saftig grüne Hügel umrahmen das 35.000-Einwohnerstädtchen. Dunkelgrüne Plantagen aus der weiter nördlich gelegenen Kaffeezone erstrecken sich bis hierher. Kaffeesäcke werden aus kolonialen Lagerhäusern auf klapprige Lastwagen verladen, Jeeps bringen zufrieden dreinschauende Kaffee- und Bananenpflücker hinauf in die Berge zum Arbeiten. Romantisch.
Nur: Der Schein trügt. Anfang 1999 verlor Caicedonia bei einem schweren Erdbeben viele Häuser und Menschen. Als Wahrzeichen steht die von Mauerrissen durchzogene Kirche am Hauptplatz, die nun ohne Turm um den Status als höchstes Gebäude kämpft.
Auch politisch blieb der Ort seitdem nicht verschont. Einmal wurde er von den Paramilitärs heimgesucht, ein anderes Mal von der Guerilla attackiert. Zwölf Personen gelten seitdem als entführt. In einigen Ladenfenstern hängen kleine kopierte Anschläge mit den Bildern von den Verschwundenen. Nun, heisst es, wäre das Gebiet in den Händen der Paramilitärs. Man ist seitdem vorsichtig in der Wortwahl, aus Angst vor den autodefensas.

Ritual oder Debatte?

Es erscheint absurd, dass sich ausgerechnet hier zwanzig Schriftsteller unter dem Motto „Worte können mehr als Gewehre“ treffen, um über den kolumbianischen Konflikt zu sprechen. Andererseits findet aber gerade auf dem Land dieser scheinbar endlose Bürgerkrieg statt, der jährlich über 4000 Opfer fordert. Wo sonst sollte man also die Ohren für die Worte finden?
„Wir danken der Organisation Corpocaica….“ beginnt die viertelstündige Danksagung. Es ist Freitagabend, Einführungsveranstaltung. Hinter der Frau in dem roten Kostüm, die in stolzem Ton am Podium die Namen herunterliest, wartet gelangweilt die Blaskapelle des Departments Valle del Cauca auf ihren Einsatz.
An einem Tisch sitzen zum Publikum gewandt vier Herren und eine Frau. Der dickste von ihnen soll ein Kongressabgeordneter sein, der sich hierher verirrt hat. Jedenfalls macht er diesen Eindruck. Permanent schaut er auf die Uhr und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Pflichtveranstaltung. „Weiterer Dank gilt…“ Neben ihm kauert der Bürgermeister von Caicedonia, der zwischendurch eine kleine Ansprache hält, und – wie ich später erfahre – sich mit den Paramilitärs arrangieren soll.
Die Blaskapelle beginnt, die Nationalhymne zu spielen. Danach die Departmentshymne. Selbst dieser Ort hat sein eigenes Lied. Alle stehen auf, die meisten singen mit. Ein ungewohntes Szenario, wenn man solch einen Nationalstolz nicht nachvollziehen kann. Den lassen sich selbst die stärksten Kritiker des Landes nicht nehmen, obwohl es allen Grund dazu gäbe.
Am nächsten Morgen beginnen mit einstündiger Verzögerung die Lesungen der Schriftsteller. Bekannte Autoren wie Alfredo Molano, der sich nur noch im spanischen Exil erlauben darf, offene Konflikt-Analysen in der Zeitung El Espectador zu veröffentlichen, hat kurzfristig abgesagt. Viele der zwanzig Anwesenden halten sich in ihren Reden zurück – ob bewusst oder routiniert lässt sich nicht heraushören.Vielleicht entwickelt man in diesem Land im Laufe der Jahre einen eigenen Sprachmodus, den die Angst produziert. Denn wer den Kopf zu weit aus den Fenster lehnt, läuft Gefahr, ihn zu verlieren. Auf diesem schmalen Grat zwischen Angst und Mut bewegen sich die Schriftsteller auf der Podiumsveranstaltung.

Sprachmodus der Angst

„Es ist politische Tradition, nicht alles zu sagen“, verteidigt Julian Malatesta einige Reden seiner Kollegen. Er weiß, wovon er spricht. Schließlich arbeitete er für die linke Partei Union Patriótica, die in den achtziger Jahren über 3000 Kader durch Mordanschläge verlor und seitdem fast von der Bildfläche verschwunden ist. Trotzdem müsse man aber einen Weg zum Frieden anstreben, der die Gemeinden und die gesamte Gesellschaft einbezieht, so Malatesta.
Wie schwierig dieser Versuch ist, erleben die Autoren selbst. Der Saal im Theater Colegio Bolívar ist während der Reden nur spärlich besetzt. „Eine Lösung für den Konflikt liegt in den Kindern“, beschwört in großen Bahnen gestikulierend Miguel Fernando Caro die fehlende Masse. „Das ist die Aufgabe der Kultur“, sagt er und präsentiert sieben Bände der von Kindern verfassten Bücher, mit denen er in Cali zusammenarbeitet. Der Applaus ist auf seiner Seite, schließlich sitzen rund einhundert Schüler zwischen sieben und vierzehn Jahren in den Reihen. Während der weiteren Reden ist dann lieber Autogrammjagd angesagt, als der „Spirale der Gewalt“, einem möglichen „Blitzkrieg“ oder einer „Intervention der US-Amerikaner“ zuzuhören.
Die Abwesenheit der Bevölkerung lässt sich mit der gleichen Angst begründen, die einige Schriftsteller haben. Eine Lehrerin der örtlichen Schule nennt es schlicht Desinteresse. Woher auch die Energie nehmen, wenn man schon über 50 Jahre mit der Gewalt leben muss?
Für die lichten Sitzreihen ist sicherlich auch TV Señal Caicedonia mitverantwortlich, deren Kameramänner mit ihren grellen Scheinwerfern durch die Reihen streifen. Ein Regionalsender, der die Schriftsteller bis an den Essenstisch verfolgt und der Bevölkerung die Bilder in die Wohnzimmer sendet. „Die Leute sind zwar nicht hier, aber sie verfolgen das Treffen am Bildschirm. Auch sie haben Angst, hierher zu kommen und offene Fragen zu stellen, doch die Kommunikation funktioniert. Man erzählt es sich weiter. Tuschel, tuschel, tuschel,“ lacht Elmo Valencia über die offenbar verstrickten und geheimen Kommunikationswege in dem Ort. Zum Glück gibt es keine Einschaltquoten.

Kritische Kinderstimmen

Den ersten Anstoß zu einer Diskussion liefern nach Stunden die Kinder. Weniger durch ihre Fragen, die sie zuvor zugesteckt bekommen, sondern mit einer Sammelmappe über ihr Verständnis des Konfliktes, die sie den Autoren als Geschenk überreichen. Ein fiktives Interview mit Präsident Pastrana, FARC-Chef „Tirofijo“ und einem Armeegeneral zwingt Arturo Alape, einen der bedeutensten politischen Schriftsteller des Landes, Stellung zu nehmen. Die Darstellung der politischen Konfliktparteien sei so verschoben wie im ganzen Land. Er warnt die Lehrer davor, den Kindern ihre Meinung aufzuzwingen.
Die vorletzte Rede beginnt. Unter den Zuhörern herrscht angespannte Stille. Der deutsche Schriftsteller und Journalist Raul Zelik spricht in deutlichen Worten den Paramilitarismus, deren Massaker und die sozialen Ursachen für den kolumbianischen Konflikt an. Wohl mit dem beruhigenden Gefühl, als einziger ausländischer Teilnehmer ein Rückflugticket für den nächsten Tag in der Tasche zu haben. „Danach haben mir viele Leute erzählt, dass ich aufpassen soll, aber sie fanden es gut, dass ich das gesagt habe,“ so Zelik.
Am nächsten Morgen sitze ich mit ihm bereits in einem roten Kleinwagen auf dem Weg zum Flughafen. Eine halbe Autostunde bis Armenia, der nächst größeren Stadt. Wieder diese landschaftliche Romantik, die man nicht ernst nehmen will unter den gegebenen Umständen. Plötzlich ein lauter Knall, Zelik erstarrt und wird bleich im Gesicht. „Verdammt, diese Schlaglöcher“, stöhnt der untersetzte Fahrer, der ja eigentlich die Straße kennt. Ein Reifen ist geplatzt. Nur der Reifen. Angst ist in Kolumbien ansteckend.

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