Chile | Nummer 366 - Dezember 2004

“Es gibt noch Leute, die kämpfen”

Die Menschen („Che“) des Landes („Mapu“) im südlichen Chile kämpfen weiterhin um ihr Land

Mapuche-Organisationen haben im Oktober Straßensperren im Süden Chiles, nahe der Gemeinden Panguipulli und Villarrica, errichtet. Die betroffenen indigenen Gemeinden wehren sich damit gegen Landenteignungen. Außerdem protestieren sie dagegen, dass die indigenen Gemeinschaften dabei nicht befragt wurden, wie es eigentlich im Gesetz vorgesehen ist. Die Polizei reagierte mit Verhaftungen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit VertreterInnen der Mapuche über den Hintergrund der immer wiederkehrenden Konflikte sowie über die politische und rechtliche Situation der Indigenen in Chile. Sofía Painiqueo, Mapuchekünstlerin und Volkssängerin aus der Hauptstadt Santiago, Raúl Rupailaf, vom „Origenes“-Programm für die indigene Bevölkerung und Iván Arriagada, Gemeindevorsteher in Forrahue, diskutierten außerdem den Kulturverlust („Ahuincanación“) und die neuesten Entwicklungen in Chile.

Markus Rudolf

1999 sprach man in Chile im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit den Mapuche im Süden bei dem Ralco Staudammprojekt (s. LN 342) von „unserem kleinen Chiapas“. Inwieweit kann man diesen Vergleich heute noch anstellen?

Sofía: Damals hat man nichts erreicht. Jetzt ist der Staudamm da und einmal gebaut kann man nichts mehr dagegen machen. Es war eine Demonstration des Widerstands, aber letztendlich haben zwei der fünf Mapuchefrauen, denen das Land gehörte, verkauft und die Front bröckelte.
Ivan: Heute hat jeder Einzelne seinen Besitz oder die Familie ist als Landbesitzer eingetragen. Aber es gibt keinen gemeinschaftlichen Boden mehr.
Raúl: Um es im größeren Zusammenhang zu sehen: Die neue indigene Bewegung begann sich 1997/98 herauszubilden. Es fing im Süden Chiles an, wo man versuchte, Land zurück zu gewinnen. Aufgrund des Vorgehens der Forstfirmen hatten sich die dortigen sozioökonomischen Bedingungen verschlechtert. Und wegen des Aufstandes war die Regierung gezwungen, ihre Politik gegenüber den Indigenen zu überprüfen. Daraufhin wurden verschiedene Kommissionen gegründet, von denen die letzte und wichtigste die „Kommission für Wahrheit und neuen Umgang“ von Präsident Lagos ist.

Gab es eine Fortsetzung des Widerstandes?
Sofía: Es gibt noch Leute, die kämpfen: um die Wälder und gegen Kiefern- und Eukalyptusmonokukturen. Diese schaden dem ökologischen Gleichgewicht, weil der Boden verödet. Das alles ist die Schuld dieser famosen Forstunternehmen, die den Mapuche ihr Land wegnehmen. Die Mapuche kämpfen dafür das Land zurückzubekommen, indem sie ungenutztes Land besetzen. Und dann kommt die Polizei und provoziert. Sie kommen mit Waffen und sogar mit Panzern und fangen an zu schießen. Die Mapuche dagegen haben nur Steine. Sie werden festgenommen und eingesperrt. Selbst das Obersten Gericht Chiles nennt uns Terroristen.

Wann war das?
Sofía: Das war 2002/03. Sie haben uns als Terroristen bezeichnet, die ihr Land wieder haben wollen (s. LN 335). Noch heute gibt es Mapuche, die im Gefängnis oder auf der Flucht sind (s. Kasten).

Wie hat sich die Situation der Indigenen in den letzten Jahrzehnten verändert?
Sofía: Auch unter Allende gab es Marginalisierung, aber man konnte Fortschritte für den Landbesitz der Mapuche sehen. Es gab Besetzungen. Unter Pinochet wurde uns dann wieder Land weggenommen. Seit dem Ende der Diktatur gibt es wieder ein wenig mehr Freiheiten und eine Wiederbelebung der Mapuche-Kultur. Sie suchen Räume – ihre Identität.
Raúl: Um die Diktatur zu überwinden haben die Indigenen damals dem Mitte-Links Regierungsbündnis die Hand gereicht. Man hat dem Demokratisierungsprozess den Rücken gestärkt und versucht, über die institutionellen Wege die Forderungen zu kanalisieren. Am 1.Dezember 1989 – als die Demokratie wiedererlangt war – kam es dann zum „Acto de Nueva Imperial“ (Abkommen von Nueca Imperial) [Stadt im Süden Chiles] unter Präsident Alwyin. In diesem ist das Verhältnis der Regierung mit den Indigenen geregelt und es wurden konkrete Maßnahmen geplant, wie beispielsweise das neue Indigenengesetz.

Heute sprechen die Mapuche von „Ahuincanación“ (Kulturverlust). Damit meinen sie, dass die Indigenen sich immer mehr der nicht ursprünglichen Bevölkerungsmehrheit anpassen….
Sofía: Ich sehe das ganz klar genauso – die Mehrheit ist „ahuincada“!

Woran kann man das im Alltag sehen?
Sofía: Bei einer kulturellen Zeremonie zum Beispiel. Im Stadion laden sie die Politiker ein, sie haben Mikrofone, es sprechen verschiedene Direktoren – man praktiziert die Spiritualität nicht richtig. Es ist nicht so, dass der Bürgermeister nicht zusehen kann, aber er braucht keine Rede zu halten, die überhaupt nichts damit zu tun hat. Ein anderes Beispiel sind Seminare. Dort reden alle Politiker spanisch, alle kommen in westlicher Kleidung, das Ambiente ist falsch. Die Sprache wird marginalisiert – die Kinder sprechen nicht mehr ihre eigene Sprache.

Es gibt also keine Förderung der indigenen Sprache in Chile?
Sofía: Doch, es gibt regionale Programme im Fernsehen und im Radio. Aber die haben keine große Reichweite. Und außerdem werden diese Programme vielleicht eine halbe Stunde am Tag gesendet – mit einem bisschen Kultur und etwas Information.

Die Tradition der Mapuche verliert sich demnach ebenso wie ihre Sprache?
Sofía: Ich muss zugeben, dass die Tradition sich verliert. Die Mapuche, die in den staatlichen Schulen erzogen werden, werden zu Chilenen herangezogen und nicht zu Mapuche. Sie verlieren ihr Wissen um die Kultur und die Traditionen – denn es gibt keine Erziehung, die dieses Wissen vermittelt.
Raúl: Auf der Grundlage des „Ley Indígena“ (Indigenengesetz) hat das Ministerium 1994 wenigstens zentrale Agenturen geschaffen: für Land und Wasser, für Entwicklung und viele Dinge. Dadurch konnten die Gemeinden zu juristischen Personen werden, sie bekamen einklagbare Rechte.

Welche Projekte wurden aufgrund dieser neuen Initiativen umgesetzt?
Raúl: Es wurden Lehrer ausgebildet und zweisprachige Texte wurden herausgegeben. In den öffentlichen Schulen ist man dabei, mit diesen Texten zu arbeiten und eine interkulturelle Ausbildung anzubieten. Aber es ist ein Finanz-Problem: Oft gibt es kein festes Ausbildungsprogramm, an den Schulen fehlt es an vielem.
Ivan: Wir als Gemeinde haben ein 30.000qm großes Grundstück für eine Schule gekauft. Wir wollen eine weiterführende Schule für Weiße und Indígenas gründen: eine polytechnische Schule für die ganze Küstenprovinz, an der die Sprache Mapuche, traditionelle Heilmethoden und verschiedene Kunsthandwerke sowie Gastronomie gelehrt werden.
Raúl: Die Effekte des Programms werden gerade erst deutlich. Es werden 635 indigene Gemeinden in fünf Regionen des Landes, mit Aymara, Atacameña und Mapuche Bevölkerung gefördert. Das staatliche Programm unterstützt die Produktion, das Gesundheitswesen, die Kultur sowie die Ausbildung von Führungskräften dort.
Ivan: Seit vier Jahren haben wir auf einem freien Gelände mit einem Ökotourismusprojekt begonnen: Es ist autochthon und sehr bescheiden: zehn Hütten, in denen echtes Mapucheessen gekocht wird – alles ist frisch und kommt aus der Gemeinde. Sonntags machen wir eine Führung, verkaufen lokales Kunsthandwerk, führen Volkstänze auf und vieles mehr.

Sind solch positive Beispiele auch auf nationaler Ebene zu beobachten?
Raúl: Der Präsident hat erst im April diesen Jahres in einer Verlautbarung auf die Verfassung und die Ratifikation von 1989 hingewiesen sowie auf deren Einhaltung bestanden. Es soll ein Sekretariat für indigene Angelegenheiten innerhalb des Ministeriums geben. Aber das muss durch das Parlament, was sehr schwierig werden wird. Denn dort gibt es keine Mehrheit, sondern eine Patt-Situation, die es sehr schwierig macht, das Gesetz zu verabschieden. Die Rechte ist sehr konservativ und hat bisher alle derartigen Initiativen abgelehnt.

Welche Perspektiven haben die indigenen Gemeinschaften?
Sofía: Sie müssen das chilenische Volk erreichen und ein Bewusstsein für die Probleme schaffen. Es gibt einige, die denken, wir wären generell schlecht und man sollte uns alle töten. Aber andere analysieren auch für sich selbst und sagen: Das sind keine Terroristen, die wollen nur ihr Land zurück.
Ivan: Ich bin nicht negativ eingestellt, man übersieht sonst das Positive. Wir haben an der Bildung, dem Kunsthandwerk und der Kultur gearbeitet. Wir haben einen kulturellen Reichtum, der viele Möglichkeiten bietet und uns viele Türen öffnet. Davon kann man in Zukunft profitieren.

Kasten:

Freispruch in Terror-Prozess
Die chilenische Justiz sprach eine Gruppe von Mapuche frei, die von der Regierung wegen “verbotener, terroristischer Vereinigung” angeklagt war, weil sie Felder in der Ortschaft Temuco abgebrannt haben soll. Die ihnen vorgeworfenen Delikte ließ man unter das Antiterrorgesetz fallen. Das Gericht von Temuco wies nun die Anklage gegen die sechs Mapuche aus der Region sowie die zwei SympathisantInnen ab. Es bemängelte, dass die Staatsanwaltschaft es nicht geschafft habe, “beweiskräftig zu belegen”, dass die Indígenas am Abbrennen der Felder beteiligt waren. Da der Fall Symbolcharakter bei der Anwendung des Antiterrorgesetzes hatte, wurden während des Verfahrens in Temuco die ZeugInnen der Staatsanwaltschaft gegen die Indígenas mit verhülltem Gesicht vernommen.
Die Amerikanische Juristenvereinigung (Asociación Americana de Juristas), die Organisation Internationale Verteidigung der Rechte der Völker (Defensoría Internacional de los Derechos de los Pueblos) sowie die Internationale Menschenrechtsvereinigung (Federación Internacional de Derechos Humanos) kritisierten die Anwendung des Antiterrorgesetzes – ein Vermächtnis der Pinochet-Diktatur – gegen die Mapuches. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat erst kürzlich einen ausführlichen Bericht über die Unrechtmäßigkeit der Prozesse gegen die Mapuche veröffentlicht.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren