Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010 | Sachbuch

Es ging ums Ganze

Ein Kaleidoskop der 68er-Bewegung in Lateinamerika

Der Blick auf die emanzipatorischen Bewegungen im Lateinamerika der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beschränkt sich oft auf emblematische Länder und Personen. Ein studentisches Projekt illustriert nun Vielschichtigkeit und kulturelle Implikationen jener Zeit.

Sebastian Henning

Die Vorgänge von 1968 zu erforschen sowie die Erinnerung an die AkteurInnen und ihre Ziele wachzuhalten, ist auch zwei Jahre nach dem großen Rummel um die StudentInnenproteste ein wichtiges Anliegen. Das bereits im Januar bei Assoziation A erschienene Buch Kontinent der Befreiung? spürt den Facetten des Widerstands jener Generation in Lateinamerika nach.
Das AutorInnenkollektiv, Studierende des Lateinamerika-Instituts der Berliner Freien Universität, versucht dabei auch zu ergründen, welche Zusammenhänge zwischen den Bewegungen dort und den Protesten hier bestanden. Das Symboljahr wird in den Kontext der 1960er und 1970er Jahre eingebettet, ohne das Woher und Wohin der ProtagonistInnen auszublenden. Die erfolgreiche Revolution in Kuba wird dabei als eines der entscheidenden Momente ausgemacht, das unzählige Menschen – nicht nur in Lateinamerika – politisierte und zum Ansporn für die eigene emanzipatorische Arbeit wurde. Eine sozial gerechte Gesellschaft auch im eigenen Land zu erkämpfen, war zum Impuls einer ganzen Generation geworden – nur die Schlussfolgerungen der Beteiligten unterschieden sich bekanntlich.
Nicht von ungefähr betonen die HerausgeberInnen auch den Stellenwert der Befreiungstheologie. Anhand der Porträts zweier ihrer VertreterInnen wird deutlich, wie auch engagierte ChristInnen radikalisiert wurden, welchem Widerstand sie innerhalb der Kirche ausgesetzt waren und wohin ihr Weg sie führte. So fiel der kolumbianische Guerilla-Priester Camilo Torres, der sich 1965 der Nationalen Befreiungsarmee ELN angeschlossen hatte, bereits bei seinem ersten Gefecht gegen die Regierungstruppen. Der Nicaraguaner Ernesto Cardenal, Gründer der Kommune von Solentiname und später Kulturminister der SandinistInnen, befindet sich heute bekanntermaßen im Konflikt mit dem Präsidenten und Ex-Revolutionär Daniel Ortega.
Vertiefende Beiträge zu einzelnen sozialen Bewegungen befassen sich mit Mexiko, Kolumbien, Uruguay, Peru und Brasilien. Die staatliche Reaktion wird in einem eigenen Kapitel an den Beispielen Argentinien, Uruguay, Nicaragua und Mexiko aufgezeigt. Es finden sich zahlreiche Porträts bekannter und weniger bekannter AktivistInnen sowie engagierter Intellektueller jener Zeit, etwa von Paco Ignacio Taibo II und Gioconda Belli oder dem Ex-Tupamaru und heutigen Präsidenten Uruguays, José Mujica. In dem Porträt Marta Harneckers, heute Politikberaterin der venezolanischen Regierung, wird auch die Entwicklung in Chile angerissen, die ansonsten jedoch merkwürdig unterbelichtet bleibt.
Der Band betrachtet auch die soziokulturellen Umbrüche jener Zeit: sexuelle Befreiung, Feminismus, Fernsehen und das neue politische Kino. Das Buch zeichnet sich neben der inhaltlichen Breite vor allem durch die leichte Zugänglichkeit auch für Laien und Jugendliche aus; die kurz gehaltenen Beiträge werden durch zahlreiche Fotos ergänzt. Abgerundet wird Kontinent der Befreiung? durch den Blick auf Spuren von 68 in der Erinnerungskultur Mexikos und Brasiliens sowie eine systematische Kurzdarstellung der Situation in den einzelnen Ländern.

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