Film | Nummer 344 - Februar 2003

Es ist dein Leben

O homem do ano vom brasilianischen Regisseur José Henrique Fonseca

Georg Neumann

Máiquel (Murilo Benicio) hat einen Traum. Einen Traum, wie ihn viele träumen könnten: Heirat, Kinder und einen Job. Einfach ein normales Leben. Aber wer bestimmt überhaupt sein Leben? „Vielleicht Gott“, sagt er. Über seinen persönlichen Hintergrund und seine Vergangenheit erfährt der Zuschauer wenig. Er könnte ein x-beliebiger Brasilianer der unteren Mittelschicht sein. Willkommen in seiner Welt.
Die Kamera schwenkt über ein Wohnviertel und tritt mit Máiquel in einen Friseursalon ein. Die Situation mutet wie eine brasilianische Telenovela an: ausleuchtendes Licht, schöne Darsteller und das belanglose Gespräch zwischen ihnen. Die hübsche Friseurin Cledir färbt Máiquels Haare blond, wegen einer Wette. „Verlieren ist Scheiße“, meint sie und fragt trotzdem, wer verloren habe. Máiquel muss gestehen: „Ich.“ Máiquel ist ein Verlierer. Aber wie es in einer Telenovela kommen muss, gehen die beiden abends aus.
Blonde Haare in Brasilien stehen sinnbildlich für Gringos, also für nichts Gutes. Zumindest gibt es einige Personen wie Suel, die meinen, das behaupten zu müssen. Dumm ist nur, wenn das am ersten Abend mit der neuen Freundin passiert. Denn dann darf man sich keine Blöße geben. Eigentlich will Máiquel Suel nicht herausfordern, aber er tut es trotzdem. Während er am nächsten Tag auf Suel wartet, könnte er die Beleidigung vergessen und an seinen Traum denken. Aber er wartet und in der Nacht kommt Suel mit einem Mädchen vorbei. Máiquel schießt.
Erstaunlicherweise führt Máiquels Weg weder ins Gefängnis noch verschlägt es ihn in die Flucht. Im Gegenteil. Der Mord an dem Kriminellen Suel macht ihn nahezu über Nacht berühmt. Das Schwein, das er geschenkt bekommt, versinnbildlicht sein neues Leben. „Bill“, wie er es nach dem ehemaligen US-Präsidenten nennt, wächst ihm ans Herz und wird sein einziger richtiger Freund.
Wieder streift die Kamera über die Szenerie. Ein neuer Anfang oder der Anfang vom Ende. Seine Zahnschmerzen treiben ihn zu Dr. Carvalho, einem erklärten Rassisten und Befürworter der Todesstrafe. Gefesselt auf den Zahnarztstuhl kann er dessen Hasstiraden auf die Unterschicht nichts erwidern. Als ihm Carvalho das Angebot macht, den vermeintlichen Vergewaltiger seiner Tochter umzubringen, entgegnet er nichts. Eine Hand wäscht die andere.
Die unnatürliche Natürlichkeit, mit der der Zuschauer in die Gewalt hineingezogen wird, erschreckt. Ein Radio spielt das Lied: „Matador“. Seinen Auftrag führt er erfolgreich aus. Er hat nur kurz gezögert. Der nächste Baustein seiner Karriere. Doch die hat auch eine andere Seite.
Suels Freundin Érica sucht bei Máiquel Unterschlupf. Ohne Suel steht sie ganz alleine da. Máiquel lässt sie in seine Wohnung und kümmert sich nicht weiter um sie. Außerdem ist Cledir schwanger und bestürmt ihn mit ihren Heiratsplänen. Sein Weg scheint vorgezeichnet. Als er mit seiner Verlobten sprechen will, fällt seine Schwiegermutter in spe tot um. Er hat zu heiraten.
Das Umfeld in dem Máiquel lebt – die Friseurin, seine Schwiegermutter, der Zahnarzt – wirkt stellenweise überzeichnet, aber jeder Charakter übernimmt eine Funktion. Jeder beeinflusst ihn mit Ideen und Lebenskonzepten und er spielt mit. Carvalho personifiziert den schlechten Einfluss: Er verspricht Macht und Geld, wenn Máiquel weiter für ihn und seine Geschäftsfreunde mordet. Máiquels Freunde berauschen sich derweil am weißen Pulver. Wahrlich kein Umfeld um ein „normales“ Leben aufzubauen.
Seine Hochzeit scheint ein Neuanfang zu sein. Er wirkt glücklich, die farbigen Bilder aus der Telenovela bestimmen den Moment. Máiquel bekommt einen Job in einem Tierladen, da sein Vorgänger nicht mehr aufgetaucht war. Aber er kann nicht mehr aussteigen. Seinen nächsten Auftrag, den Mord an Neno, lehnt er ab. Doch der hat zuvor Wind von dem Mordplan bekommen und tötet Ricardo, Máiquels Freund, auf dem Weg zu dessen Geburtstagsparty. Máiquels Lebensentwurf, so zögerlich er war, bricht wieder zusammen. Während der Überfall auf seinen Freund stattfindet, serviert Cledir Bill als Schweinebraten.
Gewalt erzeugt Gegengewalt. Gerechtigkeit, die anfangs ein Motiv für das sinnlose Morden abzugeben schien, gibt es nicht mehr. Nenos Freundin wird aus Versehen gleich mit erschossen. Gewalt wird Gewöhnung. Patrícia Melos Buchvorlage titelt eindeutiger: „Der Killer“. Máiquels Verbindungen in den Männerclub um Carvalho drängen ihn in eine Richtung: mehr Geld und Macht. Ein neues Auto, ein Job als Chef einer Sicherheitsfirma und dann sein großer Tag: Er wird von den Ladenbesitzern seines Viertels zum „Mann des Jahres“ gewählt. Aber plötzlich kommen Leichen zu Tage.
An manchen Stellen wirkt die Handlung eher konstruiert und zu wild. Die stereotypisierten Nebendarsteller machen die Entwicklung Máiquels schwer nachvollziehbar. Aber endlich mal junges Kino, das ohne wilde Handkamera auskommt und schöne Bilder mit filmischen Details anreichert.
Was passiert, wenn man erkennt, dass sein Leben tatsächlich nicht einem selber gehört? Der Film stellt Fragen, die sich in Zeiten der Werbefilmästhetik, Meinungsmache der Medien und im Umfeld von Stereotypen jeder stellen muss: Was ist mein Leben und was ist mein Traum? Fonsecas Film ist ein Entwurf, der wichtige Fragen stellt, aber noch keinen Ausweg gefunden hat. Am Ende steht die Erkenntnis Máiquels: „Du machst aus deinem Leben, was du willst.“ Vielleicht ist er einen Schritt weitergekommen.

O homem do ano; Regie: José Henrique Fonseca; Brasilien 2002, Farbe. Der Film ist auf der Berlinale (6. bis 16. Februar 2003) im Panorama zu sehen.

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