Nummer 308 - Februar 2000 | Uruguay

“Es wird schwer sein, uns zu ignorieren“

Interview mit Senator José „Pepe“ Mujica über Parlamentarismus, Revolution und Gerechtigkeit

José „Pepe“ Mujica ist einer der Gründer des „Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros“, der uruguayischen Stadtguerilla, die von 1965 bis 1972 militärisch aktiv war. Sie erregte durch ihre spektakulären Aktionen Aufsehen und erlangte Bedeutung auch über Lateinamerika hinaus. Von 1973 bis 1985, der Zeit der Militärdiktatur in Uruguay, war Mujica als politischer Gefangener eine der „Geiseln des Staates“ und wurde Opfer massiver Folter. Nach Ende der Diktatur formierten sich die Tupamaros als politische Organisation neu und schlossen sich 1989 dem Linksbündnis Frente Amplio an. 1995 zog Mujica als Abgeordneter ins Parlament ein. Seit der Wahl Ende November 1999, bei der das Linksbündnis „Encuentro Progresista-Frente Amplio“ (EP-FA) zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zur stärksten Kraft wurde, vertritt der heute 65jährige Mujica als Senator den EP-FA im Parlament.

Matti Steinitz

Wie interpretieren Sie die Ergebnisse der beiden Wahlrunden von Ende letzten Jahres?

In Uruguay, wie auch im Rest Lateinamerikas, wurde das Stichwahlsystem eingeführt, um so den Sieg der Linken zu verhindern. Dasselbe ist vorher auch in Ecuador und Brasilien passiert. Trotz dieser Verfassungsänderung ist ein beeindruckendes Wachstum des Frente Amplio nicht zu leugnen. Er stellt jetzt die Mehrheit und ist zur wichtigsten politischen Kraft des Landes geworden. Wir haben in der ersten Runde einen großen Triumph erzielt, der uns eine starke Präsenz im Parlament ermöglicht. In der zweiten Runde hatten wir es dann mit einer Allianz der beiden traditionellen Parteien Colorados und Blancos aufzunehmen, die eine über 160 Jahre währende Geschichte haben und seitdem ununterbrochen an der Regierung waren. Dieses Bündnis aus Zweit- und Drittplaziertem der ersten Runde konnte uns dann in der Stichwahl mit einer Differenz von sieben Prozent schlagen.
Colorados und Blancos sind jetzt gezwungen, eine rechte Koalitionsregierung zu bilden, um so die parlamentarische Mehrheit aufrecht zu erhalten. Aber ich denke, daß das neoliberale Projekt in Uruguay in Frage gestellt worden ist. Das Land ist nicht mehr das, was es einmal war. Das wichtigste ist, daß wir einen überdurchschnittlichen Stimmenzuwachs im Landesinneren verzeichnen konnten, in Gegenden, wo wir vorher praktisch nicht existierten.
Es war aber ein sehr ungleicher Kampf, besonders wegen der ökonomischen Voraussetzungen. Der Einfluß der Regierung auf die Presse ist sehr groß, besonders während der Wahlkampagne wurde das deutlich. Unsere Medienpräsenz war in keiner Weise proportional zu unserer politischen Bedeutung. Trotz alledem kann man sagen, daß sich das politische Panorama radikal verändert hat. Es wird schwer sein, uns zu ignorieren.

Welche Fehler hat der Frente in der Wahlkampagne begangen?

Es wurden einige taktische Fehler gemacht, besonders der, vor der zweiten Runde nicht auf die Mobilisierung der Basis zu setzen, die uns bis dahin immer große Erfolge „von unten“ ermöglicht hat. Wir haben uns auf die Schlacht über die Medien eingelassen, die wir aber nur verlieren konnten.

Wie sieht es jetzt, nach der Niederlage, innerhalb des EP-FA aus?

Wir haben die Niederlage verarbeitet und schauen jetzt nach vorne. Die nächste Herausforderung wartet schon im Mai 2000 auf uns. Dann werden in landesweiten Regionalwahlen die Regierungen der 19 Departamentos neu bestimmt und wir hoffen weitere Fortschritte machen zu können, besonders im „Interior“, den 18 Provinzen außerhalb Montevideos, wo Erfolge bis vor kurzem undenkbar waren. Wir haben eine intensive Kampagne vor uns und das wird auf kürzere Sicht unsere Hauptbeschäftigung sein.

Was für eine Opposition wird der Frente Amplio in den nächsten fünf Jahren ausüben?

Einer unserer Sprecher hat bereits eine konstruktive Opposition angekündigt. Das bedeutet in unserem Fall, Alternativen anzubieten. Es ist absehbar, daß die neoliberale Politik fortgesetzt wird. Deswegen wird es einen prinzipiellen Reibungspunkt geben, was die sozial-ökonomische Linie des Landes angeht. Das legt von vornherein fest, daß unser Standpunkt strikt oppositionell sein wird. Es wäre unverzeihlich, wenn wir nicht weiterhin mit Klarheit für unsere Alternativen eintreten würden.

Teilen Sie die Ansicht vieler, daß der Sieg des FA im Jahr 2004 schon so gut wie sicher ist?

Oh nein. In der Politik gibt es keine Sicherheiten.

Viele Analytiker sind der Ansicht, daß das spektakuläre Wachstum des MLN/Tupamaros innerhalb des FA hauptsächlich Ihrer Präsenz in der
Kampagne zu verdanken ist. Was denken Sie?

Ich denke der Grund war vielmehr unser Richtungswechsel. Wir haben uns mehr unserer historischen Linie angenähert, die immer auf die Konstruktion von Alternativen ausgerichtet war. Das bedeutet eine weniger ideologische Opposition. Die Ideologie drückt sich durch das aus, was in der Realität vertreten wird. Die ideologische Debatte auf intellektuellem Niveau beschäftigt uns nicht. Uns beschäftigt vielmehr das, was der normale Bürger auf der Straße auch nachvollziehen kann.

Ein führender Colorado meinte vor kurzem, daß Sie der Politiker des Frente wären, der die beste Marketingstrategie hätte. Was ist Ihre Meinung dazu?

Marketing ist ein Wort, das von denen erfunden wurde. Wir vom MLN sind sehr darauf bedacht, unsere Persönlichkeit und unsere Kultur zu bewahren. Wahrscheinlich ist es das, was er unter Marketing versteht. In der Politik ist es sehr verbreitet, sich zu verstellen, sich zu verkleiden. Unseren wenig förmlichen Stil ist man in der Politik nicht gewohnt und er stellt einen Bruch mit den Normen dar.

Was führte eine ehemals militante Bewegung wie die Tupamaros dazu, heute Teil des parlamentarischen Systems zu sein?

Die historische Notwendigkeit. Jede andere Entscheidung hätte uns unter den spezifischen Umständen in Uruguay ins politische Abseits befördert. Wir hätten den Zug verpaßt, hätten wir uns nicht diesen Umständen angepaßt, denn unser Volk, das eine lange und aufreibende Diktatur hinter sich hat, hätte uns nicht verstanden. Wir wären damit von der Bevölkerung isoliert worden. Wir vertreten weiterhin eine revolutionäre Vision, auch innerhalb des Parlaments. Die Frage ist nicht, wo du kämpfst, sondern wofür. Das bedeutet, sich in das Feld des Gegners zu begeben, seine eigenen Waffen zu verwenden, sich ihm aber trotzdem nicht anzupassen.

Wurde diese Entscheidung von allen Mitgliedern der Bewegung getragen?

Die meisten haben es verstanden. Es hat sie einige Zeit gekostet, zehn Jahre.

Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, dem MLN beizutreten?

Es gab eine Zeit, da war ich jung. Ich gehörte einer Generation an, die erkannte, daß das Land große Veränderungen durchmachte. Uruguay war in den ersten 40, 50 Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als die Schweiz Amerikas bekannt. Es war, dank eines relativen ökonomischen Wohlstandes, ein ziemlich liberales Land, mit demselben Pro-Kopf-Einkommen wie Frankreich. Wir hatten den zehnthöchsten Lebensstandard der Welt. Es handelte sich um ein fortschrittliches Land, zumindest dem Anschein nach, mit einer großen Investition in die Bildung etc. Das unterschied uns vom Rest Lateinamerikas. Die Krise nach dem 2. Weltkrieg brachte uns der lateinamerikanischen Realität etwas näher. Die Regeln des Austauschs im Weltmarkt änderten sich. Wir waren gezwungen, unsere Rohstoffe billig zu verkaufen und zur selben Zeit zu hohen Preisen zu importieren. Die daraus resultierende Wirtschaftskrise beendete den sozialdemokratischen Staat. Die Regierungen wurden von mal zu mal autoritärer. Es gab damals ziemlich viele, die wie ich die Diktatur kommen sahen, obwohl wir weder wußten wann noch wie. Das war in der Zeit der kubanischen Revolution, die auf die progressive Jugend dieser Jahre einen bedeutenden Einfluß hatte. Wir fingen angesichts der drohenden Diktatur an, kleine bewaffnete Gruppen zu bilden, die die Funktion hatten, die traditionellen Formen des Volkswiderstandes, wie die Gewerkschaften, zu unterstützen, nicht etwa abzulösen. Dieser Prozeß führte letztendlich zur Gründung des MLN/Tupamaros. Wir hatten verschiedene Hintergründe, gehörten unterschiedlichen Parteien an, aber die Bildung einer solchen Organisation erforderte die Einführung einer gewissen Disziplin. Wir sind also eigentlich nie in die Bewegung eingetreten, wir haben sie vielmehr gegründet.

Können Sie einen Überblick über die militärische Kampagne der Tupamaros geben?

Es liegt da ein Irrtum vor, der von vielen begangen wird, die unsere Geschichte von außen betrachten. Anfangs waren wir keine Guerilla, sondern eine bewaffnete politische Bewegung. Das Leben des Menschen hat einen großen Wert in Uruguay. Unsere Aktionen waren also vor allen Dingen öffentliche Anklagen mit militärischem Charakter. Wir versuchten Handlungen zu vermeiden, die den Beigeschmack von Grausamkeit hätten haben können. Nachdem wir uns dann mit einer wachsenden Repression konfrontiert sahen, mußten wir natürlich harte Antworten geben. Ein Krieg entwickelt sich immer über eine wechselseitige Beziehung. Wir hatten mit einer Menge von Problemen zu kämpfen. Die Botschaft der kubanischen Revolution war, daß ein Triumph nur über eine „Landguerilla“ zu erreichen war, eine Strategie, die durch die natürlichen Voraussetzungen in Uruguay nicht umzusetzen war. Wir hatten also hier eine „Stadtguerilla“ aufzubauen, was alles andere als einfach war. Wir hatten gelernt, daß im von Nazi-Deutschland besetzten Europa auch ein jüdischer Widerstand innerhalb der Städte existiert hatte. Wir studierten auch die Erfahrungen, die im Algerien-Krieg und im Befreiungskampf in Zypern gemacht wurden. Aus all diesen historischen Ereignissen zogen wir unsere Schlüsse und wendeten das Gelernte in der Formierung unserer Organisation an, dem MLN/Tupamaros.

Wie reagierte das uruguayische Volk auf die Aktionen der Tupamaros?

Wir hatten natürlich eine Menge gegen uns. Logischerweise radikalisierte sich die politische Szene. Aber wir konnten einen Teil der Gesellschaft auf unsere Seite bringen, was es uns erlaubte, nach der militärischen Niederlage im Jahr 72 politisch weiter zu existieren, natürlich erst als das Jahrzehnt der Diktatur beendet war.

Wie kam es zu Ihrer Festnahme?

Ich wurde dreimal festgenommen. Zweimal konnte ich ausbrechen. Während einer Festnahme wurde ich angeschossen. Es war eine schwere Verletzung und ich konnte nur mit viel Glück in einem Militärhospital gerettet werden.

Wie erlebten Sie die Zeit im Gefängnis?

Ich war dort viele Jahre. Sie hatten mich in Einzelhaft, und ich wurde alle fünf, sechs Monate in eine andere Kaserne transportiert. Es waren harte Jahre.

Haben Sie es jemals bereut, diesen Weg gewählt zu haben?

Ich habe keine Zeit nach hinten zu schauen. Sicherlich habe ich viele Fehler begangen. Unsere Fehler waren kein Produkt der Böswilligkeit. Die Geschichte der Linken war es immer, mit jeder Niederlage Fortschritte zu machen. Nur aus der Niederlage kann man lernen. Die Siege betäuben.

Tragen Sie noch Haß in sich?

Dafür hab ich keine Zeit. Der Haß ist, genauso wie die Liebe, gefährlich, man verliert die Objektivität. Man kann Wut haben, aber Haß ist kein gutes Motiv, um zu kämpfen.

Wird das im Jahr 89 erlassene Amnestiegesetz, welches den Militärs völlige Straffreiheit garantiert, Konsequenzen haben, vergleichbar mit den Auseinandersetzungen, die derzeit in Chile zu beobachten sind?

Das sind ungelöste Probleme in Uruguay. Es wurde ein Plebiszit abgehalten, in dem das Volk, aus Angst vor einer neuen Diktatur, für die Amnestie gestimmt hat. Das ist eine tiefgreifende Entscheidung, die respektiert werden muß. Aber ein anderes Thema sind die Verschwundenen, deren Schicksal bis heute nicht aufgeklärt wurde. Das Wissen über unsere eigene Geschichte ist eine offene Rechnung. Man muß den Kampf aufrecht erhalten.

Was ist Ihre Meinung zum Fall Pinochet?

Pinochet hätte man in Chile den Prozeß machen müssen, das chilenische Volk hätte über ihn richten müssen. Einerseits ist es befriedigend zu wissen, daß es ihm an den Kragen geht. Andererseits bin ich aber nicht bereit, einem internationalen Tribunal diese Vollmacht auszusprechen. Das ist prinzipiell sehr gefährlich. Es bedeutet nämlich, daß die reicheren Länder sich das Recht herausnehmen können, über die ärmeren zu richten. Pinochet wünsche ich alles Übel der Welt. Aber so lange es keine gerechte Justiz auf dieser Welt gibt, wird diese immer den Stärkeren bevorzugen.

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