Mexiko | Nummer 499 - Januar 2016

Eskalierte Evaluation

Die Zwangsevaluierung von Lehrer*innen stößt auf erbitterten Widerstand der Gewerkschaft

Als Teil der großen Bildungsreform sollen seit November etappenweise alle Lehrer*innen Mexikos per Test evaluiert werden. Die Gewerkschaftsströmung CNTE kritisiert Form und Inhalt der Tests sowie deren arbeitsrechtliche Konsequenzen und ruft ihre Mitglieder zum Widerstand auf. In verschiedenen Bundesstaaten kam es zu Zusammenstößen von Polizei und demonstrierenden Lehrer*innen, in Chiapas mit tödlichem Ausgang.

Philipp Gerber

Als Teil der großen Bildungsreform sollen seit November etappenweise alle Lehrer*innen Mexikos per Test evaluiert werden. Die Gewerkschaftsströmung CNTE kritisiert Form und Inhalt der Tests sowie deren arbeitsrechtliche Konsequenzen und ruft ihre Mitglieder zum Widerstand auf. In verschiedenen Bundesstaaten kam es zu Zusammenstößen von Polizei und demonstrierenden Lehrer*innen, in Chiapas mit tödlichem Ausgang.

Die Auseinandersetzungen zwischen der mexikanischen Regierung und der oppositionellen Lehrer*innengewerkschaft CNTE gehen seit November in die nächste Runde. Seit der Verabschiedung der umfangreichen  Bildungsreform 2013 hat sich das traditionell konfliktreiche Verhältnis zwischen Regierung und CNTE weiter verschlechtert, die Diskreditierung und Bestrafung  protestierender Lehrer*innen haben deutlich zugenommen (siehe LN 495/496). Die in der Bildungsreform vorgesehenen Evaluierungstests, welche etappenweise alle Lehrkräfte durchlaufen müssen, werden nun landesweit mit massivem Polizeiaufgebot durchgesetzt – oder auch nicht. Allein im Bundesstaat Oaxaca, einer Hochburg des CNTE, wurden seit Beginn der Proteste 30 Aktivist*innen inhaftiert, acht von ihnen sitzen in Hochsicherheitsgefängnissen ein.
Die oppositionelle Strömung CNTE innerhalb der staatsnahen Lehrergewerkschaft SNTE, der alle Lehrer*innen zwangsweise angehören, stellt sich nicht grundsätzlich gegen eine Evaluierung, lehnt aber die in der Reform vorgesehene Form ab. So soll ein gutes Resultat Lohnverbesserungen und Aufstiegschancen nach sich ziehen, während bei wiederholt schlechtem Abschneiden oder Teilnahmeverweigerung arbeitsrechtliche Sanktionen bis hin zur Entlassung drohen. Diese „straforientierte” Art der Lehrerüberprüfung ist der momentan umstrittenste Abschnitt der Bildungsreform, die Teil der marktförmigen Strukturanpassungsmaßnahmen in verschiedenen Sektoren ist, welche die die drei großen Parteien 2013 gemeinsam beschlossen haben.
Abgesehen von den Konsequenzen der Tests, die ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Lehrer*innen etablieren, kritisiert die CNTE auch das Verfahren an sich scharf: So sei der Fragenkatalog nicht auf die lokalen Begebenheiten zugeschnitten und berücksichtige zu wenig kulturelle Unterschiede und die sprachliche Vielfalt Mexikos. So beschwerten sich Lehrer*innen in Mexiko-Stadt über Fragen wie „Was würden Sie tun, wenn ein Staudamm bricht?”. Zudem kritisierten bereits geprüfte Lehrkräfte die zahlreichen Grammatik- und Syntax-Fehler im Fragebogen des Tests.
Auch der Mexikanische Rat der Bildungsforschung, in welchem gut eintausend Pädagogik-spezialist*innen vertreten sind, kritisiert die Evaluierung als „improvisiert” und fordert in einer Petition an die nationale Bildungsbehörde SEP eine echte Bildungsreform „in respektvoller Zusammenarbeit mit den Lehrern”, um die massiven Bildungsdefizite im Lande anzugehen. Denn darüber, dass es hier dringenden Handlungsbedarf gibt, herrscht Einigkeit über die Lager hinweg. Auch von den Rahmenbedingungen ist das Bildungswesen Mexikos in einem elenden Zustand: Im Schnitt verfügt eine von neun Schulen im Land nicht mal über ein WC, viele haben kein Wasser. In ländlichen Gebieten, insbesondere im Süden, sind diese Missstände die Norm.
Dessen ungeachtet waren zwischen Mitte November und Mitte Dezember 2015 zehn Prozent der über eine Millionen Lehrer*innen Mexikos aufgerufen, in einem vierstündigen Test mit 154 Fragen über ihre pädagogischen Kenntnisse Rechenschaft abzulegen. In Oaxaca-Stadt protestierten am 28. November die Gewerkschaftssektion 22 mit einer Großdemonstration gegen diese Evaluation, deren Austragungsort von 10.000 Bundespolizisten abgeschirmt wurde. Es kam zu Scharmützeln, mehrmals setzte die Polizei Tränengas ein, drei Polizisten wurden leicht verletzt, doch insgesamt verlief der Protest der rund 10.000 Lehrkräfte nach lokalen Maßstäben friedlich.
Insgesamt rund 6.000 Lehrer*innen und Berufseinsteiger*innen, welche die pädagogische Hochschule absolviert hatten, waren in Oaxaca zum Test aufgerufen, doch nach Schätzungen absolvierte nur knapp die Hälfte  die Prüfung. Darunter waren 97 Prozent der Berufseinsteiger*innen sowie einige hundert Mitglieder der staatstreuen Gewerkschaftssektion 59, welche als Streikbrecherfraktion im Aufstand von 2006 (siehe LN 390) gegründet wurde. Im „Krieg der Zahlen” wurde indes letztlich nicht klar, wie viele Lehrer*innen der Sektion 22 sich dem Evaluationsboykott ihrer Gewerkschaft anschlossen: Das Staatliche Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO, die Regierung Oaxacas und die nationale Bildungsbehörde SEP machten unterschiedliche Angaben über die Zahl der evaluierten Lehrer*innen.
Die Gewerkschafterin Clara García Velásquez machte in einer Beschwerde der evaluierten Lehrkräfte der polytechnischen Mittelstufe, die über eine eigene Gewerkschaft verfügen, die „antipädagogischen” Bedingungen des Tests bekannt. So mussten sie die Prüfung an improvisierten Computerarbeitsplätzen außerhalb der Regierungsgebäude absolvieren, „nur mit einer Plastikplane über dem Kopf, was zu exzessiver Hitze führte.” Die 229 Mittelstufen-Lehrer*innen wurden zur selben Prüfung wie die Grundstufenpädagog*innen gedrängt, damit diese von den Behörden als „gut besucht” gewertet werden kann.
Die Umstände des Tests, so die Gewerkschafterin García Velásquez, bewiesen, „dass die Behörden nur das Evaluierungsprozedere auf Teufel komm raus durchführen wollten, aber nicht eine Evaluation mit dem Ziel der Qualitätsverbesserung anstrebten”. Wichtiger scheint der Zentralregierung, den Widerstand der oppositionellen Gewerkschaft zu brechen. So war für den Bildungsminister Aurelio Nuño Mayer die Beteiligung in Oaxaca ein Erfolg: „Die Lehrer beginnen sich vom Joch der Gewerkschaft Sektion 22 zu befreien”, meinte Nuño, dem Aspirationen auf das mexikanische Präsidentschaftsamt 2018 nachgesagt werden. In Oaxaca ist die Wahrnehmung eine andere. Trotz Verhaftungen, trotz drohender Haftbefehle und Entlassungen, trotz riesigem Aufgebot der Sicherheitskräfte ist der Widerstand der Gewerkschaft ungebrochen. Und in verschiedenen Medien, die bisher gegen die Lehrergewerkschaft argumentierten, werden kritische Stimmen laut, welche nach den tatsächlichen Absichten hinter der Bildungsreform fragen.
Anfang Dezember begannen die Evaluationstests in den Bundesstaaten Guerrero und Chiapas, in denen der CNTE ebenfalls stark vertreten ist. In Acapulco empörten sich mehrere Dutzend Lehrer*innen über die schlechte Organisation, begannen Protestparolen zu skandieren und unterbrachen schließlich die Stromzufuhr der  Computer. Das Examen wurde Stunden später mit weniger Prüflingen weitergeführt, das Bildungsministerium drohte den „eindeutig identifizierten” Störenfrieden mit Entlassung. Bei Protesten in Chiapas Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez wurde der Grundschullehrer David Gemayel Ruiz Estudillo von einem Polizeibus überrollt und verstarb, CNTE und Polizei gaben sich dafür gegenseitig die Schuld. Der Todesfall führte zu erneuten massiven Protesten, an denen sich bis zu 50.000 Lehrkräfte beteiligten. Aufgrund deren Heftigkeit wurden die weiteren Evaluierungstest in Chiapas auf einen bis dato unbekannten Zeitpunkt verschoben
Auch in anderen Bundesstaaten halten die gewalttätigen Auseinandersetzungen an. So verletzte und verhaftete die Polizei am 7. Dezember in Michoacán zahlreiche Personen, 52 Lehramtsstudierende wurden dem Haftrichter vorgeführt und in Gefängnisse in anderen Bundesstaaten verlegt. In Veracruz wurden bis zu 50 Lehrer*innen verletzt, in einem Dutzend weiterer Bundesstaaten kam es ebenfalls zu Konfrontationen mit Verletzten und Verhafteten. Und im Februar 2016 kommt bereits die nächste Etappe der Evaluation.
Die Auseinandersetzung um Arbeitsrechte, Privatisierungen und neoliberale Reformen in Mexiko verzeichnet noch keine Sieger*innen, aber viel Repression.

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