Kolumbien | Nummer 450 - Dezember 2011

Etappensieg für Studierende

Nach einem Monat Streik an kolumbianischen Unis lenkt die Regierung ein

Mehr als einen Monat hielten Studierende mit einem landesweiten Streik das Land in Atem. Vom Vorbild der Chilen_innen inspiriert und vom neoliberalen Reformvorschlag der Regierung Santos bedroht, bildete sich ein breites, kreatives Bündnis aus Studierenden, Schüler_innen und Professor_innen, die eine demokratische, partizipative Reform und kostenfreie Hochschulbildung fordern. Am 11. November verkündete Präsident Santos schließlich, das Reformprojekt zurückzuziehen und am Runden Tisch mit den Studierenden eine neue Reform auszuhandeln.

Alke Jenss, Christina Gerdts

„Soy estudiante! Quiero estudiar!“, rufen sie. „Ich bin Student! Ich will studieren!“. Am 10. November marschieren über 30.000 Studierende, Gewerkschafter_innen, Eltern, Schüler_innen und solidarische Sektoren in verschiedensten Teilen Bogotás verkleidet, bemalt, und mit großen Bannern Richtung Parlament. Sie wollen die Hauptstadt besetzen, damit ihre Forderungen endlich gehört werden. Ziel Nummer Eins ist, die geplante Reform des Hochschulgesetzes auszusetzen. Eine Studentin schickt symbolisch die Bildungsministerin María Fernada Campo und den Präsidenten Juan Manuel Santos in einem Raumschiff ins All, sie werden nicht mehr gebraucht. Die Studierenden wollen ein Bildungsgesetz nach ihren eigenen Bedürfnissen entwerfen, nicht nach den Anforderungen der Wirtschaft. In zahlreichen anderen Städten wird zeitgleich demonstriert. Einen Tag nach der Besetzung kommt die Ankündigung, das Reformvorhaben auszusetzen und mit den Studierenden zu verhandeln. Ein historischer Sieg, wenn auch nur die erste Etappe auf dem Weg zu kostenloser Hochschulbildung für alle.
Seit den 1970er Jahren hatte es solch breite Demonstrationen einer organisierten Studierendenbewegung nicht mehr gegeben: 37 öffentliche und 17 private Hochschulen traten am 11. Oktober in einen unbefristeten Streik.
Die Regierung hielt zunächst an den Reformen fest. Seit März habe man die Studierenden um ihre Vorschläge für das Projekt gebeten. Das wird von Studierenden und Dozierenden vehement bestritten. Eine Beratung habe es gegeben, aber nur mit einigen wenigen Hochschulrektor_innen und Studierenden. Erst Ende Oktober, meint die Studentin Natalia, habe es in allen Universitäten eine Umfrage gegeben. Nach deren Ergebnis fühlten sich 98 Prozent der Befragten nicht repräsentiert.
Nicolas Malaver, der an der Distriktuniversität Bogotá studiert und ebenfalls in der MANE aktiv ist, sieht das Gesetz als eine Art Schlusspunkt für einen Prozess der Privatisierung, der schon seit Anfang der 1990er Jahre vorangetrieben wird: „Für uns ist das eigentlich keine Reform, sondern fast ein neues Gesetz”. Auch wenn das Gesetz viele Lücken habe, etwa ohne ein Kapitel über Dozierende auskommt, sei die Tendenz klar. Die Unterfinanzierung aus öffentlichen Mitteln zwinge die Universitäten bei gleichzeitigen Forderungen, mehr Studienplätze zur Verfügung zu stellen, zu Teilprivatisierungen. Die Qualität schwindet; für sozial Schwache wird es noch schwerer, zu studieren. Ein Recht auf Hochschulbildung gibt es nicht.
Der Vizeminister für Bildung Javier Botero macht seine Haltung ganz deutlich: „Kolumbien braucht unbedingt viel mehr Facharbeiter und Techniker. Also müssen wir mehr Leute in technischen und technologischen Berufen ausbilden. Außerdem brauchen wir Fachleute.“ Soziolog_innen, Historiker_innen oder Anthropolog_innen erwähnt er nicht. Die Regierung will Menschen für die Interessen der Wirtschaft ausbilden. Es ist kein Zufall, das die Bildungsministerin vorher in der Handelskammer arbeitete. Ohnehin werden in einem Land, das vom technisierten Agrarexport und Bergbau lebt, keine kritischen Gesellschaftswissenschaften benötigt, sondern Menschen mit spezifischen Fähigkeiten, die in transnationalen Unternehmen eingesetzt werden können.
Der Etat für die Hochschulen in Kolumbien beträgt nur 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Fast zehn Mal soviel, etwa fünf Prozent des BIP, gibt die Regierung für militärische Zwecke und den andauernden Bürgerkrieg aus. Die Hochschulen sollen sich anderweitig finanzieren. Bereits 1992 waren die Hochschulgesetzgebung und die Ressourcenzuteilung für öffentliche Universitäten verändert worden. An der renommiertesten öffentlichen Universität des Landes, der Nationalen Universität in Bogotá, waren Studiengebühren bisher nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt, aber immer wieder erhöht worden. Private Universitäten erheben Gebühren, die die Möglichkeiten der meisten kolumbianischen Familien übersteigen: Zwei Millionen Pesos (umgerechnet 800 Euro) pro Studienjahr sind keine Seltenheit. Der monatliche Mindestlohn liegt bei 535.000 Pesos (umgerechnet 190 Euro). Finanzielle Unterstützung gibt es nur für einen winzigen Teil der kolumbianischen Jugendlichen, die studieren möchten. Das staatliche Institut für Studienkredite im Ausland (ICETEX) sollte ursprünglich nur kolumbianische Studierende im Ausland unterstützen. Inzwischen vergibt die Behörde jedoch zum großen Teil Stipendien an Studierende kolumbianischer Unis – vor allem teurer Privatuniversitäten wie die Universidad de los Andes.
Für die Bevölkerung mit weniger finanziellen Mitteln gibt es Insititute, die technische Berufe ausbilden, wie die öffentliche Nationale Ausbildungsstätte SENA (Servicio Nacional de Aprendizaje). Die Absolvent_innen gelten als Facharbeiter_innen. Die ursprünglich auf drei Jahre angelegten Ausbildungen an der SENA wurden zu einjährigen Kursen verkürzt und dadurch die Zahl der Eingeschriebenen verdreifacht – auf Kosten der Qualität der Ausbildung.
Was die Regierung nicht finanziert, sollen Unternehmen ausgleichen. Public-Private-Partnerships zwischen öffentlichen Universitäten und privaten Unternehmen sind im Gesetz als „gemischte Modelle“ vorgesehen. Viele Gegner_innen des Gesetzes befürchten, diese „gemischten“ Universitäten könnten die einzige Alternative für unterfinanzierte öffentliche Hochschulen sein. Mit einem sehr begrenzten Angebot. „Ein Bergbauunternehmen wird nicht in Philosophie oder Musik investieren, sondern in Ingenieurswissenschaften” vermutet Nicolas von der MANE. Und selbst die Studierenden der privaten Universitäten fürchten eine Verschlechterung der Studienbedingungen und haben sich den Protesten angeschlossen. Die MANE meint, dass die Studiengebühren für alle steigen könnten.
Eine weitere Befürchtung ist, dass die Universitäten ihre Autonomie verlieren. „Die Regierung meint: Ah, ihr wollt autonom sein? Dann seht ihr sicher auch zu, wie ihr euch finanzieren könnt! Aber was wir unter Autonomie der Unis verstehen, ist, die Uni als einen Ort kritischen Denkens aufzubauen, an dem die Inhalte von Lehrenden und Studierenden bestimmt werden”, erklärt Nicolas. Doch auch die inneruniversitäre Mitbestimmung werde praktisch abgeschafft. Der Status als Universität wird nach dem Gesetzesentwurf über strenge Kriterien geregelt. Universitäten wie die Pädagogische Hochschule Bogotás, die Lehrer_innen ausbildet, würde ihren Status als Universität sofort verlieren: Sie kann kaum Professor_innen mit Doktortitel oder renommierte Forschungsarbeiten vorweisen. Verliert sie den Status als Universität, werden ihr die staatlichen Mittel gekürzt, so dass sowohl eine Verbesserung der Lehre als auch ein Erreichen dieser Kriterien in noch weitere Ferne rücken.
Auch die Freihandelsverträge mit den USA und der EU spielen eine Rolle. Durch sie werden ausländische Investitionen in Dienstleistungen liberalisiert, und Bildung gilt als Dienstleistung. Die kolumbianischen Hochschulen könnten so von Direktinvestitionen aus Europa und den Vereinigten Staaten abhängig werden. Und schließlich wäre das neue Hochschulgesetz mit anderen Gesetzesvorhaben verknüpft. In Verbindung mit dem Gesetz zur Sicherheit von Staatsbürgern (Ley de Seguridad Ciudadana) bildete es eine rechtliche Grundlage für Streitkräfte und Polizei, um den Campus zu betreten. In einem Land, das sich im Kriegszustand befindet und in dem staatlichen Kräften immer wieder willkürliche Verhaftungen Oppositioneller und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, bedeutet dies eine reale Bedrohung. „Die Regierung hält uns in der Universität ja sowieso für halbe Terroristen. Aber das kritische Denken darf nicht einfach verboten werden”, betont Nicolas.
Die Studierenden haben sich auf ein gemeinsames Minimalprogramm geeinigt und fordern vollständige öffentliche Finanzierung. Sie wollen gute Hochschulbildung für mehr Studierende, wissenschaftliche Qualität, universitäre Autonomie und inneruniversitäre Mitbestimmung. „Was wir fordern, liegt doch in der Verantwortung der Regierung! Gute, kostenlose Bildung, mit universitärer Infrastruktur!”, meint ein Demonstrationsteilnehmer.
Ein wichtiger Etappensieg ist den Studierenden mit der Ankündigung des Präsidenten Santos, die Reform zurückzuziehen, gelungen. Es bleibt abzuwarten, wie kompromissbereit sich die Regierung am Runden Tisch zeigt und ob es den Studierenden gelingt, Hochschulbildung als Grundrecht und komplette staatliche Finanzierung aller öffentlichen Universitäten durchzusetzen.

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