Nummer 318 - Dezember 2000 | Venezuela

Faustische Wohlstandsträume

Demokratische Rhetorik und revolutionäre Magie

Hugo Chávez hat versprochen, als politischer Führer des Anti-Establishments mit der politischen Vergangenheit Venezuelas zu brechen. Seine “friedliche Revolu-tion” wurde möglich, weil die Bevölkerung das alte System rundum ablehnte. Und doch verkörpert Chávez den alten kollektiven Traum vom nationalen Fortschritt, der die politische Geschichte Venezuelas seit langem prägt.

Fernando Coronil

Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Venezuela einer der größten Erdölexporteure der Welt. Seither nutzten Staatsoberhäupter die Dynamik aus Reichtum und nationalen Träumen, um sich, in den Worten des venezolanischen Schriftstellers José Ignacio Cabrujas, als „grandiose Zauberer“ zu stilisieren und fantastische Fortschrittsträume heraufzubeschwören.
Seit den 1920ern hat der Ölreichtum eine eigenartige staatliche Vormundschaft über die Gesellschaft übernommen. Venezuela war damals von einer stagnierenden Landwirtschaft geprägt und schlecht vorbereitet auf die Ausbreitung der internationalen Ölindustrie. So gelang es General Juan Vicente Gómez (1908-1935) und seiner Clique, politische Macht zu zentralisieren und einen bedeutsamen Anteil der Öleinkünfte beiseite zu schaffen. Als Alternative zu Gómez’ autokratischer Herrschaft forderte die demokratische Opposition politische und ökonomische Anteilnahme. Dabei wurden politische Rechte und ökonomische Forderungen bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen.
Sie wollte politisch und zugleich ökonomisch am natürlichen Reichtum des Landes teilhaben. Dies begründete eine einzigartige Verbindung zwischen der Demokratisierung des politischen Lebens und dem Aufbau eines wohlwollend bevormundenden Staates. Die demokratische Ordnung geriet so in eine doppelte Abhängigkeit und musste sich auf zwei verschiedene Weisen legitimieren: Einerseits musste sie formaldemokratische Kriterien erfüllen, also eine Mehrheit der Wählerschaft an den Urnen hinter sich sammeln. Andererseits musste die Wirtschaft für den Einzelnen spürbare Verbesserungen mit sich bringen, damit die Regierung akzeptiert wurde. Deshalb war es notwendig, die Einkünfte aus der Ölförderung möglichst breit und im gesamten Wahlvolk zu streuen. Damit wurde auch der Nationalismus neu definiert. Ursprünglich war der Begriff eng mit dem Kampf um politische Unabhängigkeit verknüpft. Wer nunmehr von Nationalismus sprach, dachte vor allem an ökonomische Entwicklung und kollektiven Wohlstand.

Öl säen

„Zweite Unabhängigkeit“ war ein Slogan, den viele PolitikerInnen im zwanzigsten Jahrhundert verwendeten, um die nationale Befreiung vom ökonomischen Rückstand zu beschreiben. „Öl säen“, ein 1936 geprägter Ausdruck, wurde zum politischen Motto, welches das Bedürfnis beschrieb, die versickernden Öleinkünfte in dauerhafte Quellen des Wohlstandes zu verwandeln.
Alle Regierungen seit 1936 hatten dieses Ziel, und sie haben es in aufeinander folgenden Entwicklungsplänen immer wieder neu definiert. Zum Plan erhoben es zuerst die Militärregierungen von General Eleazar López Contreras (1936-41) und Isaías Medina Angarita. Während der Regierungszeit der Acción Democrática (AD) (1945-48) hieß „Öl säen“ dann: Konsolidierung politischer Demokratie. Die darauf folgende Diktatur von General Marcos Pérez Jiménez (1948-58) legte ihren Schwerpunkt hingegen auf öffentliche Arbeiten und industrielle Entwicklung, sprich: auf den Ausbau der physischen Grundlagen der Nation. Doch seit dem Sturz von Pérez Jiménez 1958 setzten die regierenden Parteien wieder alles daran, „Öl zu säen“, indem sie die Kontrolle über die Ölindustrie erlangten und ihre Gewinne für ökonomische und soziale Entwicklung in einem demokratischen Rahmen einsetzten. Wegen der gestiegenen Nachfrage nach venezolanischem Öl und dem globalen Wirtschaftswachstum während der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die venezolanische Wirtschaft wachsen. Der Mittel- und Oberschicht bescherte das einen Reichtum von ungeahntem Ausmaß. Den Armen blieb im Gegenzug die Hoffnung, ihre moderaten Gewinne seien nur der Vorgeschmack eines Aufschwungs in naher Zukunft.
Ironischerweise aber haben dieselben Bedingungen, die die demokratische Entwicklung seit 1958 unterstützten, sie gleichzeitig als System politischer Repräsentation und Grundlage wirtschaftlichen Fortschritts untergraben. Die Diktatoren Gómez und Pérez Jiménez konnten wegen des Ölreichtums die politische Macht in ihren Händen ballen. Und es war ebenfalls das Öl, das es den regierenden demokratischen Parteien erlaubte, politische und wirtschaftliche Macht zu monopolisieren. Politische Demokratie wurde so zum vertikalen System von Kontrolle und klientelistischen Netzwerken, die demokratisches Handeln unterdrückten und den Aufbau produktiver Strukturen verhinderten.

Preise essen Träume auf

Der Ölboom von 1973 brachte diesen Faustischen Tausch von Öl gegen Fortschrittsträume zum Platzen. Die Vervierfachung des Ölpreises und ausländische Kredite im Überfluss spülten ungeahnte Gelder in Carlos Andrés Pérez’ Modernisierungsplan. Das verstärkte die beiden Grundmuster der venzolanischen Rentier-Wirtschaft, Verschwendung und Korruption. Am Ende blieben nur die höchste Pro-Kopf-Verschuldung in Lateinamerika, eine geschwächte Wirtschaft und eine demoralisierte Gesellschaft zurück.
Es begann die Zeit nach dem Boom, eine Zeit wirtschaftlichen Niedergangs und verstärkter politischer Korruption unter Luis Herrera Campins von der COPEI (1979-83) und Jaime Lusinchi von der AD (1984-89). 1983 kam es zu einer vorher nie da gewesenen Abwertung der Währung. Im selben Jahr kostete ein Dollar 4,30 venezolanische Bolívar, heute steht er bei fast 700 000. Bis heute verkörpert der freie Fall des Bolívar für die Bevölkerung den Verlust von Venezuelas besonderem Status als Ölexporteur mit freiem Eintritt in die Weltwirtschaft. Der Verfall der Währung markiert außerdem einen Wendepunkt im fortschreitenden Legitimationsverlust der regierenden Elite. Und er war ein Schlüsselmoment für Chávez, der 1983 seine Bolivarische Befreiungsbewegung gründete. Chávez prangerte die Abwertung als ein Zeichen für die Korruptheit und den Antinationalismus der Elite an.
Ein zweiter Wendepunkt in Chávez’ politischer Laufbahn waren die Proteste gegen den wirtschaftlichen Sparkurs, die am 27. Februar 1989 in Caracas und anderen Städten ausbrachen. Dieser so genannte Caracazo war eine Reaktion der Bevölkerung auf eine weitere Täuschung: Carlos Andrés Pérez, der Präsident der Wohlstandsträume der 70er Jahre, hatte seine weitere Amtszeit im Februar 1989 mit dem Verprechen angetreten, wieder für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen und dem Neoliberalismus zu widerstehen. Er verkaufte sich als Anführer, der wie kein anderer in der Lage sei, die Nation zu retten. Er würde, so sagte er, seine Macht nicht dazu nutzen, für sein eigenes Wohl zu sorgen, sondern um „Geschichte“ zu machen. Einmal im Amt verkündete er jedoch zu lauten Fanfarenklängen „El gran viraje“ – die große Wende vom Protektionismus zum Neoliberalismus, im trauten Einklang mit dem IWF. Der Benzinpreis verdoppelte sich, was spontane Plünderungen und Zerstörungen auslöste. Die Regierung, geschockt von solchen Protesten der Massen, rief nach Armee und Sicherheitskräften. Deren “Wiederherstellung der Ordnung” endet in einem Massaker, bei dem mindestens 400 Menschen, hauptsächlich aus den Arbeitervierteln der Hauptstadt, ums Leben kamen.
Diese Ereignisse zerstörten das weit verbreitete Bild einer passiven Bevölkerung angesichts von politischem Missbrauch und wirtschaftlichem Abstieg. Aber auch die Einheitsrhetorik der dominanten politischen Parteien veränderte sich. Von nun an polarisierte sie in politischen Konflikten und trug einen rassisch geprägten Klassenkampf aus. Chávez erinnert sich, dass er und seine dissidenten Mit-Offiziere darüber entsetzt waren, dass die Armee die Bevölkerung unterdrückte anstatt sie zu verteidigen, und dass Soldaten auf Leute schießen mussten, die genau so arm waren wie sie selbst. Chávez verstand das als Verrat an Bolívars Vision der sozialen Befreiung der Nation. Der Caracazo übte einen entscheidenden Einfluss auf Chávez und seine Bewegung aus.

Putschversuch Februar 1992

Die Pérez-Regierung versuchte, die Aufstände aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, die Liberalisierung anzupreisen und die Rhetorik nationalen Fortschritts wiederzubeleben. Der Diskurs von der nationalen Einheit machte dem Mythos vom individuellen Fortschritt in einer effizienten Nation Platz. Da aber die soziale Polarisierung voranschritt und die Korruption immer dreister wurde, entschloss sich die Bewegung um Chávez, die Regierung zu stürzen und eine verfassunggebende Versammlung als Legitimationsgrundlage einer neuen Regierung einzuberufen. Ergebnis dieser Verschwörung war der Putschversuch vom 4. Februar 1992. Chávez und andere Offiziere mittleren Ranges führten ihn an, linke zivile Gruppen unterstützten ihn.
Das Unternehmen schlug zwar fehl, erfuhr aber weit reichende Unterstützung. Vor allem offenbarten sich die Spaltungen innerhalb des Militärapparats, der Zusammenschluss von Militär und zivilen Organisationen und die tiefe Enttäuschung der Bevölkerung über die bestehende Wahldemokratie. Chávez verkörperte nun diese Gefühle und wurde sowohl als Rache-Engel wie als Erlöser dargestellt. Durch diesen Putschversuch, gefolgt von einem anderen fehlgeschlagenen Versuch im November, wurde Chávez in Gefangenschaft zum Dreh- und Angelpunkt einer abweichenden politischen Meinung. Wie es ein Beobachter beschrieb, brachte Chávez inmitten weit verbreiterter Unzufriedenheit „den Willen zum politischen Handeln“ zurück. Er wurde so zur politischen Ikone, zum Sinnbild von Mut, Gerechtigkeit und Hoffnung auf die Zukunft.
Als Antwort auf die wachsende Unzufriedenheit mit seiner Regierung wurde Pérez unter Korruptionsvorwürfen 1993 aus dem Amt gejagt. Ende desselben Jahres wurde Ex-Präsident Rafael Caldera wiedergewählt, ausgestattet mit dem Mandat, Pérez’ neoliberales Programm wieder umzukehren. Caldera jedoch erbte eine Finanzkrise, Ursache für einen Bankenkollaps, und sinkende Öleinnahmen. Er verkündete deshalb 1996, er habe keine Alternative, als seinen Plan zu ändern und ein neoliberales Wirtschaftsprogramm durchzusetzen, die „Agenda für Venezuela“. Genauso wenig wie Pérez’ „Wende“ konnte die „Agenda für Venezuela“ jedoch die stetige Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Mehrheit aufhalten. Nach seiner Begnadigung durch Caldera begann also Hugo Chávez, die politische Bewegung zu organisieren, die ihn schließlich mit einem Anti-Parteiprogramm 1998 zur Präsidentschaft führen sollte.
Die Wahlen 1998 spiegelten die Schwäche der traditionellen Parteien und die wachsende Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft wider. Die Popularität Chávez’ wuchs in dem Maße, in dem sich der Graben auftat zwischen der Mehrheit der VenezolanerInnen, die unter die Armutsgrenze gerutscht war, und der kleinen Oberschicht, die von der zunehmenden Integration des Landes in den globalen Markt profitierte. Chávez wurde zum Racheengel für die verarmte Mehrheit und zum Dämonen für die privilegierten Eliten. Er personifizierte die Klassengesellschaft Venezuela, die ihre Spaltung nicht länger durch Appelle an gemeinsame Fortschrittsvisionen verdecken konnte.
So verkörperten zwei unabhängige Kandidaten die beiden Pole der geteilten Gesellschaft. Henrique Salas Römer, ein zum Politiker gewandelter Businessman und Gouverneur des Industriestaates Carabobo, stand für den „demokratischen Pol“. Auf der anderen Seite repräsentiert Hugo Chávez den „patriotischen Pol“. Das Wahlergebnis spiegelte die Polarisierung wider: Chávez bekam 56 Prozent, Salas Römer 40 Prozent.
Durch eine dramatische Wende wurde also der Mann, der nach dem gescheiterten Putsch 1992 als Bedrohung für die Demokratie dämonisiert worden war, nun durch die Wahlen 1998 demokratisch legitimiert. Dies schuf eine neue Bindung zwischen Militär und Demokratie in Venezuela, eine Bindung mit wichtigen historischen Bezügen. Schon 1945 hatte die AD, gemeinsam mit einigen Offizieren mittleren Ranges, ihren Putsch gegen die legitime Regierung von General Isaías Medina als Schritt zur Demokratisierung gerechtfertigt. Nach dem Putsch wurden eine verfassunggebende Versammlung gewählt, eine neue Verfassung angenommen und Wahlen abgehalten. Der Romancier Rómulo Gallegos von der AD gewann die Präsidentschaftswahlen 1947, wurde aber nur acht Monate später durch Militärs unter Führung von Pérez Jiménez gestürzt. Die Begründung: Die AD habe die Macht monopolisiert, jetzt erst werde eine „wirkliche“ Demokratie eingeführt. Aber auch die Diktatur von Pérez Jiménez wurde 1958 durch den Putsch einer militärisch-zivilen Koalition beendet, und wieder mit dem Argument, nun komme die „wirkliche“ Demokratie. Das System nach dem Putsch von 1959 basierte auf einer Reihe von Pakten und Absprachen zwischen Parteien und der Kapital- und Arbeiterseite. In den Augen von Chávez wurde der Putsch 1992 gegen die partidocracia – die Herrschaft der politischen Parteien – durch das Versagen dieser Demokratie und vor allem ihre wirtschaftlichen und sozialen Misserfolge gerechtfertigt.
Das alte System zerbrach mit der Wahl Chávez’ 1998 vollkommen. Und doch schließt sich ein Kreis: Genau wie die AD 1945 versprach Chávez 1998 eine neue Grundlage für die venezolanische Demokratie zu schaffen, durch eine verfassunggebende Versammlung, eine neue Verfassung und allgemeine Wahlen.

gekürzt aus NACLA Vol.33, No.6
Übersetzung: Silke Steinhilber

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren