Brasilien | Nummer 235 - Januar 1994

Fazenda Jangada enteignet!

Kleinste Schritte auf dem Weg zur Agrarreform

Am 24. November bestätigte der brasilianische Präsident Itamar Franco mit seiner Unterschrift die Enteignung von 18 Fazenden mit einer Gesamtfläche von 95.282 Hektar in mehreren Bundesstaaten Brasiliens. Grundlage dieser Enteignungen ist ein im Februar verabschiedetes Agrarreformgesetz, welches erstmals auch Enteignungen aus “sozialen Gründen” möglich macht. Doch wie schwer sich die Gesellschaft mit der Umsetzung des Agrarreformgesetzes tut be­schreibt der folgende Artikel.

Günther Schulz

Als erstes bekanntgegeben wurde die Ent­eignung der Fazenda Jangada mit einer Größe von 5400 Hektar. Dies war in der Tat ein Ereignis, denn noch wenige Tage zuvor hatten 2000 PolizistInnen – auf An­ordnung eines Provinzrichters – die dort lagernden 2500 Familien gewaltsam ver­trieben. Diese Vertreibung hatte etwa 100 Verletzte zur Folge, darunter Frauen und Kinder, und ist damit eine der gewalttätig­sten in der Geschichte der Landlosenbe­wegung gewesen.
Die Aufnahme der Fazenda Jangada auf die Liste der zu enteignenden Fazenden erfolgte erst in letzter Minute und war letztlich das Ergebnis des Drucks der Fa­milien und der Bewegung der Landlosen (Movimento Sem-Terra). Nicht zuletzt die Besetzung des Agrarministeriums durch 170 der betroffenen Familien, die stell­vertretend für die gesamten 2500 Familien nach Brasília gereist waren, hatten den brasilianischen Präsidenten beeindruckt. Er bat den Justizminister Maurício Correa um dessen Stellungnahme. Dieser sprach sich auf der Grundlage des von der Agrar­reformbehörde (INCRA) ertellten Gut­achtens, welches die Fazenda Jangada als “unproduktiv” kategorisiert, für eine Ent­eignung aus. Damit bekamen die Befür­worter der Enteignung, der INCRA-Präsi­dent Osvaldo Russo und der Vertreter der Regierung in der Abgeordnetenkammer, Roberto Freire, die entscheidende Unter­stützung. Obwohl Landwirtschaftsminister Dejandir Dalpasquale noch am Tag zuvor selbst den Weg bis zum Präsidenten geeb­net hatte – er unterzeichnete ein Dekret, in welchem er Jangada aus sozialem Inter­esse als für die Enteignung geeignet be­zeichnetet – zögerte er jetzt mit der Durch­führung und wollte noch einen Urteils­spruch des Bundesgerichts abwarten.
Nach der Enteigung durch die Unterschrift des Präsidenten spielten sich in dem klei­nen Städtchen Macucos, wo die 2500 Fa­milien seit der Vertreibung am 19. November notdürftig hausten, wahre Freudenszenen ab. Vorraussichtlich in den nächsten Tagen kehren die Familien auf die Fazenda Jangada zurück. INCRA selbst rechnet damit, daß der Prozeß der Ent­eignung zwei Monate in Anspruch nehmen wird. Letzlich werden 400 Fami­lien hier eine Bleibe finden; für die ande­ren Familien hat die Agrarreformbehörde bereits begonnen andere “unproduktive” Ländereien zu erfassen. Auf diesen sollen die restlichen Familien in den nächsten Monaten angesiedelt werden.
Die brasilianische Rechtsanwaltsvereini­gung OAB präsentierte inzwischen eine Liste von polizeilichen Übergriffen wäh­rend der Räumung. Der Bericht, welcher dem Justizminister übergeben wurde, ent­hält unter anderem die Namen der durch die Militärpolizei verletzten Kinder und Frauen und weist darauf hin, daß die Poli­zistInnen auch Geld und Gegenstände, wie beispielsweise Kofferradios, mitgenom­men haben (vgl. Kasten).
Das jetzige Ergebnis ist ein Erfolg für die Sem-Terra-Bewegung, deren Mitglieder sich unter erheblichen persönlichen Op­fern für eine Agrarreform engagieren. Der Staat jedoch, der schon oft Agrarreformen versprochen hat, reagiert nur dann – das zeigt das Beispiel der Fazenda Jangada, wenn er selbst unter Druck gesetzt wird, wenn die Landlosen selbst aktiv werden.

Kasten :

Auszüge aus einem Offenen Brief des Bischofs von Lins, Don Irineu, welcher die Landarbeiterfamilien seit Beginn unterstützte:

“Ich fühle mich verpflichtet, auf einige Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Räumung der besetzten Fazenda Jangada bei Getulina aufmerksam zu machen. Ich höre noch die 1600 Kinder schreien: `Wir wollen keinen Krieg, wir wollen Land!` Und die Gesellschaft gab ihnen als Antwort Tränengasbomben, Hunde, Polizei, Pferde und Brutalität. Langsam verstummten die Schreie. So wird die Stimme einer Genera­tion unterdrückt. Das Sich-Sehnen nach einem Stück Land wird als etwas Gefährli­ches vermittelt…
Die Tränengasbomben explodierten inmitten der Kinder. Dies nicht nur während der Räumung, sondern sogar später noch auf dem Kirchplatz in Macucos, nachdem die Kinder 17 Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten.
Die staatlichen Einrichtungen verbrauchen Berge von Geld, um über die Probleme der Kinder zu reden, schreiben schöne Statuten, halten Versammlungen ab. Wenn es dann um die Realisierung geht, bieten sie Hundezähne an, das Knallen von Schüssen, trau­matisieren durch 2000 Soldaten in Kampfuniform. Ein Jugendlicher weinte und sprach: `Ich schäme mich, Brasilianer zu sein!` Auch für mich traf dies in diesem Au­genblick zu. Ich war dort, schrie mich an mit dem Kommandanten, wollte nicht glau­ben, daß dies alles im Namen der Durchführung der angeordneten Vertreibung ge­schieht, des Rechtsstaates…
Unsere Region ist eine Region, wo Wenige riesige Weideflächen besitzen. Fette Rin­der, magere Kinder. Im Namen des gesunden Menschenverstands bat ich um das Mi­nimum: um 20 Hektar, dort wo die Familien kampierten, bis die INCRA ihnen ein Gebiet zusprechen würde. Aber die Gesellschaft zog es vor, ein Kriegsspektakel zu in­szenieren…
Und nun lagern 6000 Landlose im Gebiet von Macucos. Die Kinder schreien nicht mehr: `Wir wollen Land!`. Dies könnte gefährlich sein.

Don Irineu Danelon
Bischof von Lins – 20.11.1993

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