Medien | Nummer 465 - März 2013

Fernbedienung allein reicht nicht

Interview mit João Brant von intervozes – brasilianisches Kollektiv für Soziale Kommunikation

Interview: Claudia Fix

Die Landlosenbewegung MST und die brasilianische Frauenbewegung fordern das „Menschenrecht auf Kommunikation“ ein. Warum hat dieses Thema in Brasilien so eine Bedeutung?
Das Rundfunkgesetz in Brasilien stammt aus dem Jahr 1962, seitdem wurde es nicht mehr grundlegend geändert. In den 1970er und 1980er Jahren fanden sehr starke Konzentrationsprozesse in den Medien statt, in denen diese ihre Verbindungen zur Politik stärken konnten. Ein wichtiger Wendepunkt war die Debatte über die neue Verfassung, aber auch diese mündete 1988 nicht in konkrete Gesetze. Die Verfassung formuliert Grundsätze zu Monopolen und Oligopolen im Medienbereich. Sie spricht von den Prinzipen der sozialen Kommunikation bei elektronischen Medien und legt die gegenseitige Ergänzung des privaten und des öffentlichen Kommunikationssektors fest. Aber zu allen diesen Punkten wurde nie ein Gesetz formuliert. In der Praxis wurde also im Kommunikationssektor nicht einmal die Verfassung in Kraft gesetzt. Die Regierung weiß ganz genau, dass hier Gesetzgebungsbedarf besteht. Aber es bewegt sich nichts, weil die Massenmedien daran interessiert sind, dass diese Diskussion nicht vorankommt.

Intervozes hat ein Video namens „Levante sua voz“ (Erhebe Deine Stimme) gedreht. Darin heißt es, in Brasilien kontrollierten elf Familien die Medien. Wie viel Prozent der Zuschauer_innen erreichen diese elf Familien?
99 Prozent. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat vielleicht ein Prozent der Einschaltquoten. Und wenn wir von elf Familien gesprochen haben, dann waren wir sogar großzügig. Denn wir haben auch die hinzugezählt, die große Medienunternehmen besitzen, aber keine Anteile an Fernsehsendern. Das brasilianische Rundfunksystem funktioniert so, dass fünf Familien die gesamte Programmgestaltung kontrollieren und die lokalen Sender diese nur übernehmen. TV Globo sagt: „Wir besitzen nur Sender in São Paulo, Rio, Belo Horizonte, Recife und Brasília.“ Aber die Verträge, die TV Globo mit den Lokalen abgeschlossen hat, verpflichten diese, 95 Prozent des Programms zu übernehmen. Im Süden ist das System ein bisschen komplizierter, aber im Prinzip funktioniert es in ganz Brasilien so. In der Praxis verkauft Globo sogar die Werbung in den lokalen Sendern. Über dieses Netzwerk reproduziert sich die Konzentration. In der Theorie ist das Mediensystem in Brasilien dezentralisiert, aber in der Praxis ist es komplett zentralisiert.

In eurem Video heißt es auch, dass 25 Prozent der Senator_innen und zehn Prozent der Abgeordneten eigene Radio- oder TV-Sendelizenzen besitzen. Sind es in Wirklichkeit nicht noch viel mehr?
Diese Zahlen können wir klar und einfach belegen, denn die Parlamentarier sind bei der staatlichen Behörde ANATEL registriert, die Einkünfte aus den Sendern tauchen in ihren Einkommenserklärungen auf oder Familienangehörige ersten Grades sind als Lizenzträger eingetragen. Wir vermuten, dass die Zahl sehr viel höher ist, insbesondere, wenn man die Strohmänner noch mit einbezieht. Aber das ist schwierig zu belegen.

Warum erlebte die Bewegung für das „Menschenrecht auf Kommunikation“ Anfang der 2000er Jahre so einen Aufschwung?
Anfang 2000 erschienen neue politische Akteure wie Intervozes oder das Weltsozialforum und zum ersten Mal seit dem MacBride-Report der UNESCO 1980 diskutierte man mit mehr Nachdruck das Menschenrecht auf Kommunikation. Als dann 2002 Lula da Silva zum Präsidenten gewählt wurde, weckte dies Erwartungen auf konkrete bundespolitische Maßnahmen. Aber die PT-Regierung hat sich in der Kommunikationspolitik immer sehr ängstlich verhalten und verhält sich weiterhin so. Das verhindert, dass die Debatte in konkrete Gesetze mündet. Und auch die Regierung Dilma Rousseff ist auf diesem Politikfeld eine Enttäuschung. Bisher gibt es keine einzige konkrete Gesetzesinitiative. Auf der positiven Seite der Regierungsbilanz von Lula muss man allerdings die Gründung von TV Brasil erwähnen, eines öffentlich-rechtlichen Senders, den es vorher in Brasilien nicht gab. Aber: TV Brasil sollte landesweit zu empfangen sein. Das wurde bis heute nicht umgesetzt. Nur in zehn Städten und Landkreisen kann man TV Brasil über Antenne empfangen und das Kabelfernsehen hat nur einen Marktanteil von 20 Prozent.

Gab es denn von 2003 bis heute Erfolge in der Medienpolitik?
Oh ja, es gab Erfolge. Zum einen hat sich die Bewegung sehr verbreitert. Die Nationale Konferenz zu Kommunikation hat 2009 die Debatte intensiviert: Fast 30.000 Menschen haben auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene an diesem Prozess teilgenommen. Die Initiative dazu ging von der Bundesregierung selbst aus, um Grundsätze in der Kommunikationspolitik zu formulieren. Aber nach dieser Konferenz hat Brasilien die Gelegenheit verpasst, die Vorschläge der Konferenz in die Praxis umzusetzen. Es gab über 600 angenommene Vorschläge – viele davon übrigens im Konsens mit einem Teil der Medienwirtschaft verabschiedet, die verstanden hatte, dass man der Konzentration Grenzen setzen muss. 2010 hat die Regierung einen Gesetzesentwurf vorbereitet, aber er wurde nicht verabschiedet. Das ist sehr schwerwiegend, weil Brasilien es so versäumt, einen Teil des Erbes aus der Militärdiktatur aufzuarbeiten und dadurch ohne demokratische Regulierung seines Mediensektors verharrt. Und ohne Demokratisierung der Medien gibt es keine Garantie für den Erhalt der Demokratie.

Ist die Bewegung für das „Menschenrecht auf Kommunikation“ noch aktiv?
Ja, auf jeden Fall. Im vergangenen August wurde die Kampagne „Para Expressar a Liberdade“ lanciert, in der es genau darum geht, dass das Recht, die eigene Meinung auszudrücken, für alle und jeden gelten muss. Aber solange die Regierung nicht signalisiert, dass sie das Thema auf die Agenda setzen wird, ist es sehr schwierig, darüber eine öffentliche Debatte zu führen.

Ist von Präsidentin Dilma Rousseff noch etwas in Bezug auf die Medienpolitik zu erwarten?
Präsidentin Dilma hat eine sehr konservative Haltung in diesem Politikfeld. Unsere Perspektive ist da pessimistisch, zumindest was ihre jetzige Amtszeit betrifft. Sie bleibt in der Auffassung stecken, dass die Fernbedienung als Instrument ausreicht, um Pluralismus und Diversität zu garantieren. Und wir vertreten die Ansicht, dass die Fernbedienung nur die Auswahl dessen erlaubt, was verfügbar ist. Um wirklich Pluralität und Diversität zu garantieren, bedarf es einer ganzen Reihe von politischen Maßnahmen und staatlichen Regulierungen, wie es auch in den europäischen Ländern der Fall ist.

Und außerhalb der Regierungspolitik: Was ist die Perspektive von Intervozes?
Die Kampagne „Para expressar a liberdade“ schließt eine Gesetzesinitiative „von unten“ für ein Mediengesetz mit ein. Wir sind es leid, auf die Regierung zu warten, auch wenn wir es besser fänden, wenn die Regierung einen Gesetzesentwurf vorbereiten würde. Wir brauchen dafür ungefähr 500.000 Unterschriften, die wir in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sammeln müssen. Wir hoffen, dass über dieses Instrument die Demokratisierung der Kommunikation endlich vorankommt.

Infokasten:

João Brant

ist Mitglied von Intervozes – Brasilianisches Kollektiv für Soziale Kommunikation und der Geschäftsführung des Nationalen Forums für die Demokratisierung der Kommunikation (FNDC). Nach einem Abschluss in Publizistik, machte er seinen Master in Kommunikationspolitik an der London School of Economics and Political Science (LSE) und anschließend eine Promotion in Politikwissenschaften an der Universität von São Paulo. Er arbeitete als Redakteur in Tageszeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen und schrieb zwei Bücher zum Thema Kommunikationspolitik.

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