Kultur | Nummer 275 - Mai 1997

Flaschenpost an den Gott des Wortes

Aus der Rede von Gabriel García Márquez in Zacatecas

Gabriel García Márquez

Mit 12 Jahren wurde ich beinahe von einem Fahrrad überrollt. Ein Herr Pfarrer rettete mich mit einem Schrei: Vorsicht! Der Radfahrer fiel auf den Boden. Der Herr Pfarrer sagte zu mir ohne stehenzuleiben: Hast Du gesehen, was die Macht des Wortes ist? Seit diesem Tag weiß ich es.
Heute wissen wir außerdem, daß die Mayas das schon vor Urzeiten wußten, und zwar mit solcher Sicherheit, daß sie einen speziellen Gott der Wörter hatten.
Nie zuvor war diese Macht so groß. Die Menschheit wird das dritte Jahrtausend unter dem Imperium des Wortes begreifen. Es stimmt nicht, daß die Bilder es verdrängen oder auslöschen können. Im Gegenteil, sie potenzieren es: Nie gab es auf der Welt so viele Worte, die soweit reichen mit solch einer Autorität und Beliebigkeit, wie in dem immensen Babylon des heutigen Lebens. Erfundene Wörter, von der Presse, den Einwegbüchern, den Werbeplakaten mißhandelt oder geheiligt; gesprochen und gesungen im Radio, Fernsehen, Kino, Telefon, den öffentlichen Lautsprechern; mit dicken Pinseln an Hauswände geschrien oder im Halbdunkel der Liebe ins Ohr geflüstert. Nein: Der große Besiegte ist das Schweigen. Die Dinge haben jetzt so viele Namen in so vielen Sprachen, daß es gar nicht mehr leicht ist, eines zu finden, das es in keiner gibt. Die Sprachen schwärmen auseinander, weg von ihren einstigen Paten, sie vermischen und verwechseln einander, losgelassen auf das unaufhaltsame Schicksal einer globalen Sprache.
Die spanische Sprache muß sich in dieser Zukunft ohne Grenzen auf eine große Aufgabe vorbereiten. Das ist ein historisches Recht. Nicht wegen ihrer ökonomischen Vormacht, wie andere Sprachen bis heute, sondern wegen ihrer Vitalität, ihrer kreativen Dynamik, ihrer weiten kulturellen Erfahrung, ihrer Schnelligkeit und Verbreitungskraft, in einem eigenen Gebiet von 19 Millionen Quadratkilometern und 400 Millionen Sprechenden am Ende dieses Jahrhunderts. Mit Recht sagte ein Spanischlehrer in den Vereinigten Staaten, während seiner Unterrichtsstunden könnte er als Dolmetscher zwischen Lateinamerikanern verschiedener Länder auftreten. Es ist beachtlich, daß das Verb pasar 54 Bedeutungen hat, während es in der Republik Ecuador 105 Namen für das männliche Sexualorgan gibt und daß dafür das Wort condoliente, das sich aus sich selbst erklärt und das uns so not tut, noch nicht erfunden wurde.
Einen jungen französischen Journalisten blenden die poetischen Funde, die er in jedem Schritt unseres täglichen Lebens entdeckt. Daß ein Kind, vom gleichmäßigen und traurigen Blöken eines Schafes wach gehalten, sagte: “Das ist wie ein Leuchtturm”. Daß eine Händlerin der kolumbianischen Guajira ein Melissengericht ablehnte, weil es nach Karfreitag schmeckte. Daß Don Sebastián de Covarrubias in seinem legendären Wörterbuch uns hinterließ, gelb sei “der Farbe” der Verliebten. Wie oft hat jeder einzelne von uns einen Kaffee probiert, der nach Fenster schmeckt, ein Brot nach Ecke, eine Kirsche, die wie ein Kuß schmeckt?
Das sind Beweise am Rand der Intelligenz einer Sprache, die schon lange nicht mehr in ihre Haut paßt. Doch unsere Aufgabe darf nicht sein, ihr ein Korsett zu verpassen, sondern sie, im Gegenteil, von ihren normativen Eisen zu befreien, damit sie in das 21. Jahrhundert eingeht wie Petrus in seine Pforte. In diesem Sinne traue ich mich, diesem weisen Auditorium vorzuschlagen, die Grammatik zu vereinfachen, bevor am Ende die Grammatik uns vereinfacht. Humanisieren wir ihre Gesetze, lernen wir von den indigenen Sprachen, denen wir so viel schuldig sind, wie viel sie uns noch zeigen, wie sehr sie uns bereichern können; nehmen wir die technologischen und wissenschaftlichen Neologismen schnell und gut auf, bevor sie uns unverdaut unterwandern, verhandeln wir gutherzig mit den barbarischen Gerundien, den endemischen qués (was), dem parasitären dequeísmo (dassismus), und geben wir dem Konjunktiv die Betonung der Grundform zurück (…). Pensionieren wir die Rechtschreibung, Terror der Menschen von Kindesbeinen an: Begraben wir die steinzeitlichen “h”s, unterschreiben wir ein Grenzabkommen zwischen dem “g” und dem “j” und verwenden wir etwas mehr Vernunft bei den geschriebenen Akzenten (…).
Das alles sind freilich zufällige Fragen, ins Meer geworfene Flaschen mit der Hoffnung, daß sie den Gott des Wortes erreichen. Es sei denn, er und wir bedauern ob all diesen Wagemuts und dieser Ungereimtheiten mit Recht und Vernunft, daß mich im Alter von 12 Jahren jenes ländliche Fahrrad nicht rechtzeitig überrollt hat.

Übersetzung: Brigitte Müller

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