Literatur | Nummer 306 - Dezember 1999

Fradique Mendes: Schriftsteller und Weltenbummler

Der angolanische Schriftsteller José Eduardo Agualusa läßt eine literarische Figur auferstehen

Angola im Jahre 1868: Auf einem Sklavenschiff, das Brasilien mit neuen Arbeitskräften aus Afrika versorgt, flüchten Fradique Mendes und seine afrikanische Geliebte Ana Olímpia aus Angola. Außer einer spannenden Abenteuer- und Liebesgeschichte ist der neue Roman Ein Stein unter Wasser des angolanischen Schriftstellers Agualusa ein intelligentes und vielschichtiges Porträt des portugiesischen Kolonialreichs.

Ann-Catherine Geuder

Brasilien und Angola, das sind heute zwei nicht nur geographisch weit voneinander entfernte Länder. Doch vor hundert Jahren herrschte noch ein reger Schiffsverkehr zwischen beiden. Schließlich gehörten sie beide dem portugiesischen Kolonialreich an. Und die Kolonialisten exportierten aus Afrika, was sie in Brasilien am dringendsten brauchten: Arbeitskräfte. Ohne die Menschen, die die Portugiesen in Afrika zu Sklaven machten und dann nach Brasilien verschifft haben, hätte sich die Landwirtschaft des größten Landes Südamerikas nicht entwickeln können.
Die intensiven Beziehungen zwischen Brasilien und Angola hatten jedoch nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen. Was heute als brasilianische Kultur gilt, hat viele Wurzeln in Afrika. Diese aufzudecken ist das Anliegen des angolanischen Schriftstellers José Eduardo Agualusa, der seit 1998 in Rio de Janeiro lebt und arbeitet. In seinem jüngsten Roman Ein Stein unter Wasser beschreibt er die angolanische Kolonialgesellschaft und den Kampf gegen die Sklaverei in Brasilien.
José Eduardo Agualusa gehört nicht nur der neuen Generation afrikanischer Autoren an, sondern auch den Schriftsteller-Migranten, wie seit Salman Rushdie gerne Autoren genannt werden, die in ihrem Heimatland nicht mehr publizieren können. 1960 in Huambo, Angola geboren, ging er als Siebzehnjähriger nach Portugal, arbeitete dort als Journalist und kehrte 1989 nach Angola zurück. Dort herrschte Bürgerkrieg. Er konnte zwar seine erste Erzählung A Conjura (”Die Verschwörung”, 1989) und auch einen Gedichtband (Coração dos Bosques, ”Herz der Wälder”, 1991) veröffentlichen, doch die politische Lage bot kaum Raum für ein journalistisches oder literarisches Leben. 1998 beschloß er, nach Brasilien umzuziehen – in das Land, aus dem auch die Mutter seines Vaters kommt. Journalist und Schriftsteller ist er seit seiner Jugend geblieben, aber auch ein Wanderer: Sein nächstes Ziel ist Goa, Indien, wo er Stoff für seinen nächsten Roman sammeln möchte.

Angolanische Themen im brasilianischen Exil

Auch wenn Agualusa heute in Brasilien lebt und zur Zeit nicht in sein Land zurückkehren kann, so bleibt Angola das Zentrum seines Schreibens. Seine Erzählung A Conjura wie auch sein erster Roman A Feira dos Assombrados (”Der Markt der Verdammten”, 1992) spielen in der angolanischen Gesellschaft des 19. Jahrhundert. Erst mit Estação das Chuvas (”Regenzeit”, 1996) begibt er sich in das gegenwärtige, vom Bürgerkrieg zerrüttete Angola. Das Leitmotiv in seiner Prosa ist die Vermischung der Kulturen in Angola. Für Agualusa liegen die Ursprünge des angolanischen Nationalismus in seiner kreolischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die in Mischehen lebenden Paare, die zu dieser Zeit um ihr Recht zu kämpfen hatten, gehören für ihn zum progressivsten Teil der Bevölkerung. Agualusas Briefroman Nação Crioula (”Kreolische Nation”, 1997), wie Ein Stein unter Wasser im Original heißt, greift dieses Thema nun sogar im Titel auf: Nação Crioula heißt ein Sklavenschiff, das Brasilien mit neuen Arbeitskräften aus Afrika versorgt, und zugleich den Protagonisten des Romans die Flucht aus Angola ermöglicht.

Nicht nur ein Abenteuer- und Liebesroman

Man schreibt das Jahr 1868: Nach seiner Ankunft in der angolanischen Hauptstadt Luanda verliebt sich der Schriftsteller und Abenteurer Fradique in die schöne und kluge Sklavin Ana Olímpia, die mit einem einflußreichen, alten und freundlichen Landbesitzer verheiratet ist. Ohne Aussicht auf ein gemeinsames Leben setzt Fradique seine Reisen fort. Ein paar Jahre später stirbt Olímpias Mann, der Weg in eine gemeinsame Zukunft scheint frei zu sein. Ihr Schwager stellt jedoch fest, daß ihr Mann ihr keinen Freibrief ausgestellt hatte und Olímpia somit immer noch eine Sklavin ist. Er verkauft sie an die grausame Santamarinha, die mit Vorliebe ihre Sklavinnen quält. Zum Glück gelingt es dem Sohn des Verstorbenen, Olímpia zu entführen und sie gemeinsam mit Fradique auf das Sklavenschiff Nação Crioula zu verfrachten, das das Liebespaar in die brasilianische Freiheit bringt – im Gegensatz zu den anderen Passagieren. In Brasilien angekommen kaufen Fradique und Ana eine Zuckerrohrplantage und kämpfen gegen die Sklaverei. So hat der Abenteurer und Weltenbummler eine Lebensaufgabe gefunden, ohne seine Reiselust aufgeben zu müssen.
Doch Ein Stein unter Wasser ist nicht nur eine Abenteuer- und Liebesgeschichte. Mit den Briefen Fradiques an seine Gönnerin Madame de Jouarre, seine Geliebte Ana Olímpia und den Freund Eça de Queiróz – wie die meisten Personen im Roman historisch verbürgt – zeichnet Agualusa auch ein spannendes und facettenreiches Porträt des portugiesischen Kolonialreichs.
Mit Fradique Mendes greift er zudem eine literarische Figur auf: Der portugiesische Schriftsteller Eça de Queiróz, der in diesem Briefroman ”Die geheime Korrespondenz des Fradique Mendes” (so der Untertitel des Originals in deutscher Übersetzung) herausgeben möchte, zählt zu den bedeutendsten portugieschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Er erregte damals viel Aufsehen mit der Erfindung des Fradique Mendes, dessen (fiktive) Gedichte und Artikel in diversen Zeitungen abgedruckt wurden. Agualusa läßt diese Figur diesmal im afrikanisch-brasilianischen Kontext leben und schreiben. Für Kenner von Eça de Queiróz ist Ein Stein unter Wasser voller geistreicher Anspielungen, aber auch ohne dieses Vorwissen ist der Roman ein großes Lesevergnügen. Jeder Brief kann eigentlich als einzelne Geschichte gelesen werden, doch baut die Komposition der Briefe einen Spannungsbogen auf, der von einer Geschichte zur nächsten drängt. Ein besonderer, für Briefromane typischer Reiz liegt in den vorenthaltenen Informationen, die Neugierde wecken auf das Ungesagte, das die Adressaten der Briefe schon wissen oder nicht wissen sollen. Erst zum Schluß setzen sich die Versatzstücke zu einem großen Ganzen zusammen – doch da ist der Roman dann leider zu Ende.

José Eduardo Agualusa: Ein Stein unter Wasser. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 178 S., 14.50 Euro.

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