Literatur | Nummer 306 - Dezember 1999

Frank Semper: Tor zum Amazonas

Ein Reisebericht aus dem kolumbianischen Regenwald

Mit Tor zum Amazonas ist im SEBRA- Verlag ein Buch erschienen, welches der bewegten Geschichte des kolumbianischen Amazonasgebietes nachspürt. Frank Semper, auch Mitherausgeber eines Reiseführers über Kolumbien, hat seine Reiseerlebnisse damit noch einmal aufgegriffen und erzählerisch erweitert. Er ist fasziniert von diesem nur mit dem Boot zu bereisenden Flußgebiet, das abgeschlossen vom Rest des Landes seine eigenen Gesetze von Raum und Zeit zu haben scheint.

Marianne Dörmann

Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert im Einklang mit der Natur zu leben und fremde Welten zu erkunden, diesen Wunsch verfolgt der Autor Frank Semper auf seiner Reise durch das kolumbianische Amazonasgebiet und findet ihn auf seiner Fahrt auf dem río caquetá erfüllt. Inspiriert und angeregt wurde er durch das Lesen von Chroniken Reisender und Forscher in der Bibliothek der Banco de la República in Leticia. Auszüge dieser Geschichten, Vergleiche damaliger Reisemotive mit der heutigen Suche nach einer unberührten Natur und eigene Reiseerlebnisse bilden den Hintergrund dieses Reiseberichtes.
Das Amazonasgebiet Kolumbiens ist so groß wie Spanien, es ist sehr dünn besiedelt, im Schnitt lebt ein Mensch auf zwei Quadratkilometern. Vereinzelte Indianergemeinden, Siedler, Naturschützer und Aussteiger verfolgen hier ihren eigenen Lebensrhythmus. Ähnlich wie im Chocó, ein an der Pazifikküste Kolumbiens gelegenes Regenwaldgebiet, wurde das Department Amazonas lange Zeit von der Regierungspolitik vergessen. Nur zu Wahlen zeigen sich ab und zu mal Repräsentanten der Regierung. Die Stromversorgung ist unregelmäßig, bleiben Benzinlieferungen aus Bogotá aus, gibt es nur wenige Stunden Strom am Abend. Große Teile des Gebietes werden von der Guerilla kontrolliert, einige Militärbasen versuchen den Anschein zu erwecken, das Land unter Kontrolle zu haben.

Eine Reise stromaufwärts

Die Reise auf dem Fluß Caquetá beginnt in La Pedrera, ein kleiner Ort von ehemaligen Siedlern an der Grenze zu Peru, der von der Fluggesellschaft Satena regelmäßig angeflogen wird. Ein weiteres Vorankommen Richtung Osten ist nur mit kleinen Außenbordern möglich, sie verkehren unregelmäßig, Mitfahrgelegenheiten auf dem río caquetá müssen organisiert werden.
Der río caquetá führt in den Nationalpark Cahuinarí. Er durchzieht fast das gesamte Land in westöstlicher Richtung. Der Autor hat diesen Fluß sorgfältig ausgewählt, da Stromschnellen das Passieren großer Schiffe unmöglich machen, was ruhiges Reisen verspricht. Auch der deutsche Botaniker Martius war auf diesem Fluß Anfang des letzten Jahrhunderts unterwegs, vielfach zieht der Autor diesen Botaniker für Vergleiche heran, ein Zitat von ihm erscheint im Prolog: “Ich durfte annehmen, mich jetzt in einem vom Hauche europäischer Zivilisation noch unberührten, den Ureinwohnern America’s unbestrittenen Lande zu befinden”.
Der Naturschutzpark ist nahezu unbewohnt, während der Kautschukzeit wurde das Gebiet fast völlig entvölkert. Heute wohnen am Eingang wenige comunidades der Miraña- und Bora-Indianer. Das Warten auf eine Mitfahrgelegenheit kann bis zu mehreren Tagen dauern, so vertreibt sich der Autor die Zeit in La Pedrera, hört sich Geschichten an und trifft den Mitreisenden Freddy, einen englischen Hippie, der auf der Suche nach den von William Burroughs beschriebenen Drogenerlebnissen ist. Mit dem Krankenhausbootfahrer einer Indianergemeinde fahren sie den río caquetá stromaufwärts Richtung Westen und gelangen zu dem Gebiet der Miraña und Bora, die in Puerto Remanzo ansässig sind.
Nützten den beiden vorher noch Empfehlungen von der kolumbianischen Naturparkverwaltung, um das Amazonasgebiet zu bereisen, kommen sie damit in dem Lebensgebiet der Miraña- und Bora-Indianer nicht weiter. Die Indianer achten darauf, nicht von der Regierung fremdbestimmt zu werden, Empfehlungsschreiben erkennen sie nicht an, der Autor muß seine Beweggründe für die Reise vor der versammelten Gemeinde offenlegen.

Reise in die indianische Gedankenwelt

Frank Semper verbringt einige Zeit bei den Bora und Miraña, sie akzeptieren seinen Wunsch, ihr Gebiet kennenzulernen. Im allgemeinen kommen nur wenige Reisende vorbei – noch interessiert es die Miraña, wie die Weißen denken. Silvester, ein in den 30ern von Kapuzinermönchen mitgebrachtes Fest, feiern sie gemeinsam und das einzige deutsche Lied was dem Autor einfällt, “Mariña, Mariña, Mariña” wird zu allseitiger Belustigung zu “Fariña, Fariña, Fariña” (geröstetes und geriebenes Yuccamehl) improvisiert.
Weitere Reisen auf dem río caquetá setzt der Autor mit für ihn bereitgestellten indianischen guías fort, sie führen ihn durch heiliges indianisches Gebiet. Auf der Reise zur Flußmündung ist der Autor überwältigt von dem ewigen Kreislauf des Regenwassers, der in den kleinen Flußläufen seinen Ursprung nimmt; die für ihn vorher klare Trennlinien verwischend, beginnt er in die indianische Gedankenwelt einzutauchen.
Semper erzählt in vierzig Kapiteln von dieser Reise, läßt mythische Geschichten der Indianer einfließen und gibt einen Rückblick auf Episoden der Geschichte dieser abgelegenen Landschaft. Dabei entsteht zeitweise eine interessante Mischung aus Geschichte, Flora und Fauna des bereisten Gebietes. Gerade zu Anfang jedoch gelingt es dem Autor nicht, die schnelle Erzählweise seines Reiseberichts abzulegen, zu sehr bestimmen Anekdoten und oberflächliche Beschreibungen die Erzählung. Die Gelassenheit, die sich während der Reise einstellt und die erlebte Ruhe der Natur werden hier nicht so recht vermittelt. Insbesondere störend sind die Geschichten, die Freddy über ein Hotel namens Octopus einbringt. Diese erinnern an Travelergeschichten über Drogen und Abenteuer, wie sie in Kolumbien leider oft zu hören sind und die angesichts der politischen Situation eher unangemessen sind.

Der Autor als Chronist

Auch sind die Parallelen, die zwischen der Reise und den Erfahrungsberichten der Chronisten hergestellt werden, vielfach zu wenig selbstironisch, die Reflexionen über Zivilisation und Natur kontrastieren mit der routinierten Reiseorganisation.
Die aktuelle politische Situation des Landes wird in dem Reisebericht angesprochen, sie erschließt sich aber meistens über Gespräche mit zufälligen Bekanntschaften in Leticia und den Ortschaften La Pedrera und Araracuara. Es gibt auch gelegentlich Hinweise auf den Konflikt zwischen der Regierung und der Guerilla. So berichtet einmal ein Commandante der Militärbasis in La Pedrera, dessen Dienstzimmer mit einem Jaguarfell geschmückt ist, darüber, wie machtlos sie der Guerilla gegenüber seien. Semper gibt dies kommentarlos wieder. So scheint der Autor sich schlicht als Chronist zu sehen, der sich als Reisender hinter einer scheinbaren Neutralität zu verstecken sucht.
Die Stärke des Buches liegt darin, daß es einen Einblick in die komplexe Geschichte des Landes gibt. Es zeigt die vielen Facetten der historischen Ereignisse des Amazonasgebietes, sie bilden einen Kontrast zu der nur scheinbaren Zeitlosigkeit und Ruhe. Hier ist unter anderem die Zeit des Kautschukexportes nach Europa Anfang des Jahrhunderts zu nennen, in der viele indianische Sklavenarbeiter ihr Leben verloren, die in der Geschichte ständig präsenten Grenzkonflikte mit den Nachbarländern Brasilien und Peru, die Anfang der 30er Jahre noch zu einer militärischen Auseinandersetzung führten und die Erzählung über die 1939 gegründete Strafkolonie in Araracuara, die gleichsam mit einer Aussiedlungspolitik des Staates verbunden war.
Auch ist dem Buch anzumerken, daß der Autor sich mit den im Amazonas ansässigen Indianerkulturen beschäftigt hat. Der Autor promoviert zu kolumbianischem Indianerrecht; neben dem Reisen und Schreiben von Büchern eine weitere Möglichkeit, in die fremden Welten einzutauchen.

Frank Semper: Tor zum Amazonas, SEBRA-Verlag, Hamburg 1999, 242 S., 13,70 Euro.
Ebenfalls vom Autor: Hella Braune, Frank Semper: Kolumbien Reisekompass. Mit ausführlichen Amazonas-Teil. SEBRA-Verlag, Hamburg 1996, 445 S., 23,90 Euro.

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