Kolumbien | Nummer 509 – November 2016

FRIEDEN? JEIN.

Das Nein beim Referendum stellt den weiteren Verlauf des Friedensprozesses in Frage

Von Sergio Segura Von Übersetzung. Daniela Rivas
Marsch für den Frieden: Am 5. Oktober gingen tausende Menschen in Bogotá auf die Straße (Foto: William Aparicio)
Marsch für den Frieden: Am 5. Oktober gingen tausende Menschen in Bogotá auf die Straße (Foto: William Aparicio)

Überraschend hat die kolumbianische Bevölkerung beim Referendum zum Friedensabkommen zwischen den Bewaffneten Revolutioären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung Anfang Oktober mit „Nein“ gestimmt. Dies hat bereits erste Auswirkungen auf den weiteren Prozess. So kündigte Präsident und Neu-Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos an, den Waffenstillstand zumindest bis zum 31. Oktober zu verlängern. Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez feiert unterdessen mit der von ihm angeführten Nein-Kampagne sein politisches Comeback. Ein Versuch, das Referendumsergebnis und die schwierige Phase, der Kolumbien nun gegenübersteht, zu erklären.

Die Frage war denkbar kurz, die historische Bedeutung denkbar groß: „Unterstützen Sie das Abkommen zur Beendigung des Konflikts und den Aufbau eines stabilen und anhaltenden Friedens?“, wurden am 2. Oktober 34 Millionen Kolumbianer*innen gefragt. Überraschend und knapp war unterdessen das Ergebnis, so kam es nicht zum vielerorts erwarteten „Ja“, sondern eine dünne Mehrheit von 50,22 Prozent stimmte mit „Nein“ und damit für die Verhinderung der Umsetzung des Friedensvertrags zwischen den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung. Eine klare Mehrheit erzielten derweil mit 62,6 Prozent nur die Nichtwähler*innen. Trotz des negativen Ausgangs des Referendums kündigten jedoch beide Konfliktparteien an, die ausgehandelte Waffenruhe weiter einhalten zu wollen und bekräftigten den Willen, eine Einigung zu finden.

Unabhängig davon ist Kolumbien somit nun das erste Land weltweit, in dem die Gesellschaft ein Friedensabkommen zur Beendigung einer internen bewaffneten Auseinandersetzung durch den demokratischen Weg ablehnt. Die Strategie der „Nein“-Kampagne des konservativen Centro Democrático (CP), angeführt vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe, war dabei zielgenau: Um jeden Preis sollte verhindert werden, dass das Abkommen, das in der kubanischen Hauptstadt vier Jahre lang verhandelt worden war, von der Bevölkerung angenommen wird. Insbesondere war den rechten Kräften die ausgehandelte Teilstraflosigkeit sowie die als mögliche „Apokalypse“ bezeichnete politische Partizipation der FARC ein Dorn im Auge. „Besser 20 Jahre verhandeln, als das Land der FARC auszuliefern“, sagte Uribe dazu.

Ein Manager der „Nein“-Kampagne, Juan Carlos Vélez (CP), gab sogar in einem Interview mit der Zeitung La República zu, dass die Strategie vor dem Referendum auf Desinformation und Provokation basierte. „In Radiosendungen, die von Leute mit hohen Einkommen gehört werden, haben wir uns auf die Straflosigkeit, den Einzug von guerilleros ins Parlament und auf die Steuerreform konzentriert. In Sendungen, die von Menschen mit schwachen Einkommen gehört werden, fokussierten wir die Aufmerksamkeit auf die finanzielle Unterstützung, die die guerilleros nach der Entwaffnung bekommen sollten.“

Anders sahen dies die Menschen in von den Gefechten am schwersten betroffenen Regionen, die aufgrund des Kriegs vom Staat oft vernachlässigt wurden und daher offenbar in einer anderen Realität verankert sind. So gewann in den Verwaltungsbezirken Chocó, Nariño, Guajira und Cauca eindeutig das „Ja“. Sogar in Bojayá, ein Dorf in der Region Chocó, wo die FARC 2002 eine Bombe in die Dorfkirche warfen und damit 80 Menschen töteten, wurde mit 96 Prozent dem Abkommen zugestimmt. 23 von 27 Gemeinden, in denen sich die FARC entwaffnen sollten, sprachen sich eindeutig für den Frieden aus.

Herzen und Kerzen: Zeichen für das Bekenntnis zum Frieden (Foto William Aparicio)
Herzen und Kerzen: Zeichen für das Bekenntnis zum Frieden (Foto William Aparicio)

Mit dem Ergebnis des Referendums hat Kolumbien nun den Bauern und Bäuerinnen, den guerillerxs und den Armen im allgemeinen den Rücken gekehrt. Diejenigen, die am eigenen Körper den Krieg erlebten, sind offensichtlich fähig, zu vergeben. Das „Nein“ zu bejubeln und sich stolz zu fühlen, während gleichzeitig die Opfer erneut zu Opfern gemacht werden, ist daher beschämend. Außer in Bogotá, wo das „Ja“ obsiegte, waren es vor allem die Städte, die über das Schicksal der ländlichen Gemeinden entschieden haben. „Es ist ungerecht, dass wir in Kolumbien um den Frieden betteln müssen“, bedauert in diesem Sinne ein Überlebender des Massakers in Bojayá.

Die äußere politische Rechte und die Kirche feierten unterdessen ihren Sieg, den sie teils mit trügerischen Argumenten errungen hatten. So argumentierten die evangelische und katholische Kirche im Vorfeld schwammig, dass das Abkommen ihre religiösen Werte verletze und mobilisierten stark für das „Nein“. Allerdings muss auch anerkannt werden, dass sich Teile des Landes von den vier Jahre dauernden Friedensverhandlungen auf Kuba nicht berücksichtigt fühlten. Wie verschiedene Analyst*innen meinen, gab es keinen nationalen Dialog, sondern nur einen zwischen bestimmten Lagern in der Gesellschaft.

Auch hat das „Nein“ gewonnen, weil dem Frieden die Unterstützer*innen fehlten. Nicht alle politischen Bewegungen oder linke Parteien haben genügend für den Friedensprozess geworben. Nun müssen sie zusammenhalten und den Prozess verteidigen, um den nächsten Zug von Senator Uribe zu verhindern. Der möchte nämlich das Teilabkommen zur politischen Partizipation der FARC und den Übergangsprozess kippen.

Nun ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Der Friedensprozess muss jetzt in ein Abkommen münden, das die Ergebnisse des Referendums mit einbezieht. Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, die konkreten Vorschläge der Regierungskritiker*innen inklusive der Oppositionspartei Centro Democrático sowie die der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) zu integrieren. Gesprochen wird in diesem Rahmen über einen nationalen Dialog, einen multilateralen Verhandlungstisch oder eine Verfassunggebende Versammlung. Die Menschenrechtsaktivistin Piedad Cordoba weist jedoch auf bestimmte Aspekte hin, deren Umsetzung bereits möglich wäre. Dazu gehört der Erlass über das Gesetz, das den politischen Status linker Gruppierungen regeln soll. „Dies ist fundamental für ein Land, wo die Linke mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird“, sagt sie.

Schwierig, aber nicht unmöglich erscheint es, die mangelnde Bereitschaft zum Frieden vieler Kolumbianer*innen umzukehren. Die öffentliche Meinung wurde stark durch „Vorschläge“ des Centro Democrático beeinflusst, die eher nach Vergeltungsmaßnahmen klingen. Nun muss auf Basis der schon geleisteten Arbeit weiter verhandelt werden.
Die FARC kommentierten ihrerseits, dass die Liebe in ihren Herzen riesig sei. „Mit unseren Worten und Handlungsweisen werden wir fähig sein, Frieden zu erlangen“. Obwohl sie sich an das Abkommen halten wollen, haben auch sie keinen Plan B. „Der Frieden wird siegen“, schrieben sie daher schlicht in einem Kommuniqué. Darauf antwortete die Regierung Santos mit der Verlängerung der bereits ausgerufenen Waffenruhe bis zum 31. Oktober. Und dann? „Kehren wir danach zum Krieg zurück?“, kommentierte Rodrigo Londoño, Kommandeur der FARC, fragend.

Was am 1. November tatsächlich geschehen wird, ist noch nicht absehbar. Indessen hat sich der Präsident bereit erklärt, mit Uribe und seinen Anhängern zu verhandeln. Dabei überschattet die Debatte über die Straflosigkeit alle anderen Themen, was milde gesagt zynisch ist.

"Acuerdo ya!" Lautstark haben die Menschen die sofortige Umsetzung des Abkommens gefordert
“Acuerdo ya!” Lautstark haben die Menschen die sofortige Umsetzung des Abkommens gefordert (Foto: Sebastián Gonzalez)

So klagen Kritiker*innen des Abkommens, dass dieses die Straflosigkeit der FARC-guerrillerxs begünstige. Sie setzen Gefängnisstrafen mit Gerechtigkeit gleich, verkennen dabei aber die Rolle des Staates als einen der Hauptverantwortlichen für die Gewalt. Bei der mutmaßlichen Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung hat schließlich auch die Regierung das Gesetz verletzt. Nicht zuletzt haben Ex-Präsident Uribe und Präsident Santos mittelbar die „falsos postivos“ auf dem Gewissen. Nach offiziellen Angaben handelt es sich um circa 3.000 Personen, die willkürlich hingerichtet wurden, um ihren Tod als gefakten Erfolg im Kampf gegen die Guerillas darzustellen. Schockierend ist, dass Soldat*innen der kolumbianischen Armee straflos davongekommen sind.
Zum Thema Straflosigkeit machte Uribe bis dato indes nur Vorschläge, die im unterzeichneten Abkommen ohnehin enthalten waren. Zum Beispiel Amnestie für einfache Soldaten der Guerilla, die keine Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Des Weiteren hat die rechte Opposition Unterhändler ernannt, die aus dem von ihr selbst geschaffenen juristischen Vakuum heraus verhandeln sollen. Unter ihnen der wegen Korruptionsverdacht abgesetzte Generalstaatsanwalt Alejandro Ordóñez (Partido Conservador) sowie der Ex-Präsidentschaftskandidaten Óscar Ivan Zuluaga (Centro Democrático).

Angesichts von Repressionen, Niederlagen und Versuchen, das Volk mundtot zu machen, haben die Kolumbianer*innen stets Strategien entwickeln, um der Gewalt die Stirn zu bieten. Klar ist, dass sich das Land seit der Unterzeichnung des Abkommens verändert hat. Mit der neuen Situation muss auf andere Weise umgegangen werden. Insbesondere, weil das Ende des Konflikts zu einer reellen Idee geworden ist. Am 5. Oktober sind daher in den wichtigsten Städten des Landes tausende Menschen auf die Straße gegangen und haben mit einem lautstarken „Acuerdo Ya!“ (Abkommen Jetzt!) das Ende der kriegstreiberischen Ansätze eingefordert.

Auch ist in den vergangenen Jahren die Anzahl von Friedensforen und akademischen Forschungen zum Thema gestiegen. Nicht-Regierungsorganisationen im Einsatz für Menschenrechte und für die Belange von Opfern des bewaffneten Konfliktes haben sich vervielfacht. Der Journalismus veränderte seine Sprache und die Guerilla erschien, nach Jahren der Zensur, wieder im Fernsehen. Die Opfer des bewaffneten Konflikts wurden gehört, die Guerilla bat um Vergebung. Der Staat erkannte den politischen Charakter der Aufständischen an, und soziale Bewegungen schufen eigene Räume, um über den Konflikt zu reden. Selbstständig machten sie Vorschläge für den Frieden.

Nichtsdestotrotz war das nicht genug. Durch die „Nein“-Kampagne wurden Lügen wiederholt verbreitet, Hass gepredigt und die Stimmung aufgehetzt. Der am 5. Oktober bewiesene Rückhalt in der Bevölkerung hat vor dem Referendum gefehlt, um den 52-jährigen Konflikt beenden zu können. Angesichts der Zweifel und Ahnungslosigkeit ist es daher zumindest beruhigend, dass die Regierung auf einer politischen Lösung des Konflikts beharrt und sich für einen breiteren Dialog einsetzt – sowohl mit der Opposition als auch mit der Bevölkerung.

Es bleibt dennoch ein Moment der Anspannung und Ratlosigkeit. Aus dem Ergebnis des Referendums gehen die falsch spielenden Konservativen und Uribisten gestärkt hervor, während die auf eine politische Lösung setzenden Liberalen an Unterstützung einbüßen. Eine Allianz der alten Eliten könnte also zurückkommen, was nichts anderes bedeutet, als die Ablehnung des Friedens. Die Linke ist der große Verlierer des Tages. Ihr gelang es nicht in ausreichendem Maße, die Bevölkerung anzusprechen und die Instrumentalisierung der Abstimmung zu verhindern. Die politische Stimmung im Land folgte weniger der Vision des Friedens mit sozialer Gerechtigkeit als der politischen Rivalität zwischen Santos und Uribe.

Kolumbien hat in der Summe einen weiteren großen Rückschlag hinnehmen müssen, aber auch wiederholt die Bereitschaft gezeigt, Widerstand zu leisten und den nächsten Schritt zu gehen. Nun geht es nicht darum, den Frieden der Unterhändler*innen zu unterstützen. Vielmehr geht es darum, ein für alle Seiten bestmögliches Abkommen zu beschließen, das in naher Zukunft den bewaffneten Konflikt politisch löst. Sich von Uribe und seinem irrationalen Projekt zu distanzieren, ist dabei politischer Imperativ. Sonst wird die Welt sich auf die Nachricht einstellen müssen, dass sich die Geschichte der gescheiterten Friedensprozesse in Kolumbien wiederholt.

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