Ecuador | Nummer 459/460 - Sept./Okt. 2012

Frischer feministischer Wind in Ecuador

Als Alternative zum liberalen Feminismus der Regierung berufen sich Frauenorganisationen auf den feminismo popular

Neue landesweit agierende Frauenorganisationen berufen sich im Prozess der Umsetzung der neuen linken Verfassung in Ecuador wieder auf den feminismo popular, eine seit den 1980er Jahren existierende feministische Strömung von Frauen aus armen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Alejandra Santillana, einer Aktivistin der feministischen Nationalversammlung Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE), in der sich lokale Gruppen von Indigenen, Schwarzen, Bäuerinnen und Frauen aus urbanen Räumen organisieren.

Interview: Kirsten Frangenberg

Der feminismo popular besteht seit 30 Jahren – nun hört man, er sei wieder aktuell. Wie ist das zu verstehen?
Die Wurzeln des feminismo popular in Ecuador liegen im Marxismus. Er ist an den Kampf der Arbeiterklasse gebunden, an die weibliche Bevölkerung aus den Armenvierteln, die Landarbeiterinnen und indigenen Frauen. Daher heißt er feminismo popular. Zentral für diesen Feminismus ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Heute sehen wir aber noch andere Widersprüche. Außerdem sind neue Themen, Forderungen und Organisationsräume dazu gekommen.

Welche Themen sind das?
Neben der Klassenunterdrückung werden die Diskriminierung der Frau, sexuelle Unterdrückung sowie das Thema der Kolonialisierung und des ererbten kolonialen Staats komplex diskutiert.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse des aktuellen Entwicklungsmodells, um es fundiert kritisieren und dagegen ankämpfen zu können. Wir wollen den Neoliberalismus mit seiner Strategie der Territorialisierung und Kolonialisierung verstehen – und auch die Rolle, die den Frauen darin zugedacht ist.
Neu ist auch, dass die Natur im Mittelpunkt steht. Natur wird dabei nicht als Objekt oder abstraktes Symbol verstanden, sondern als Pachamama (Anm. d. Red.: personifizierte Mutter Erde), als ein Subjekt mit Rechten, so wie es in der ecuadorianischen Verfassung festgelegt ist.

Geht diese feministische Strömung von den armen, einfachen und benachteiligten Frauen aus?
Ja, auf jeden Fall. In Ecuador gab es seit den 1980er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre eine Gender-Agenda, eingeführt durch die Institutionen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Bereits bestehende feministische Positionen, selbst die Diskussion über patriarchale Strukturen, wurden nicht berücksichtigt. Ziel dieses liberalen Feminismus war die Durchsetzung von Frauenrechten auf institutioneller Ebene. Die Zielgruppe waren Frauen der städtischen Mittelklasse. Es handelte sich um einen Entwicklungshilfe-Feminismus in einer kolonialen Form, der nicht nur von oben, sondern auch von außen eingeführt wurde.
Im Gegensatz dazu erleben wir jetzt einen Feminismus, der sich als Ausdruck von Diversität versteht. Diversität nicht im postmodernen Sinn, als multikultureller Raum, sondern ausgehend von den historischen strukturellen Ungleichheiten. Hier finden sich die unterschiedlichsten Frauen zusammen: Indigene, Bäuerinnen, Hausfrauen, Arbeiterinnen in den Mangrovenwäldern, Studentinnen, Aktivistinnen gegen den Bergbau und Hausangestellte.
Wichtig ist uns der Bezug auf die Geschichte, denn wir fangen nicht in den 80er Jahren an, sondern wir haben Wurzeln und Vorbilder: Frauen, Indigene, Bäuerinnen aus der Geschichte Mitglieder der kommunistischen Partei der 20er und 30er Jahre. Darunter befinden sich wichtige politisch wegweisende Frauengestalten, die nicht unbedingt Feministinnen waren.

Ein Feminismus also, der sich als links definiert?
Das kommt darauf an. In Venezuela existiert ein klarer marxistischer Feminismus, der sich in der sozialistischen Struktur versteht. In Ecuador ist das nicht so: Für die Indigenen gibt es andere Ansätze der Partizipation und Emanzipation.

Welche politischen Ursachen gibt es Ihrer Meinung nach für die Entwicklung dieser neuen feministischen Strömung?
Vorbereitet wurde dies durch Frauenorganisationen wie Luna Creciente, die seit den 80er Jahren landesweit eine Organisationsstruktur für Frauengruppen, Indigene, Afrofrauen, Bäuerinnen und städtische Frauen aufgebaut haben.
Heute sind Aktivistinnen oft Teil diverser, gemischter Strukturen. Man kann die indigenen Frauen nicht aus der gemischten Struktur des Dachverbandes der Indigenen Ecuadors (CONAIE) herausnehmen, damit sie ausschließlich einer feministischen Gruppe angehören. Sie benötigen den Kontext, aus dem sie kommen, wollen ihre Themen aber gleichzeitig aus feministischer Sicht diskutieren.
Allein dadurch, dass Correa Präsident ist, gibt es noch keinen Feminismus, wie manche meinen. Im Gegenteil: Völlig unabhängig von Correa sind die Frauenorganisationen in den letzten zehn Jahren gewachsen.
Unter Correas Regierung wurde hingegen wieder ein Entwicklungshilfe-Feminismus eingeführt, der liberale Forderungen wie eine Frauenquote für politische Ämter in den Mittelpunkt stellt. Es gibt nun 36 Prozent Frauen in Führungspositionen in den Ministerien, 33 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen. Da kann man sagen: Da hat sich etwas getan!
Aber für uns ist dieser Ansatz nicht vollständig. Das aktuelle Entwicklungsmodell bringt eine Steigerung des Reichtums mit sich, der gerecht, auch geschlechtergerecht, verteilt werden sollte.
Teil der Verteilungsstrategie der Regierung sind die stark gestiegenen Sozialleistungen für Bedürftige, ohne eine Änderung der grundlegenden Ordnungsmuster in den Armenvierteln herbeizuführen. Diese Politik schafft Ungleichheit, Armut und Gewalt in den weiterbestehenden patriarchalen Sozialgefügen.

Welche Rolle spielt die feministische Nationalversammlung Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador AMPDE?
Als Organisation existiert sie seit vier Jahren. Sie ist ein diverser politischer Raum, eine Art Sammelbecken, im positiven Sinn, für die Kämpfe und Forderungen lokaler Frauenorganisationen aus dem ganzen Land.
Vor Ort bearbeiten sie Themen wie Geschlechtergewalt und Abschaffung patriarchaler Strukturen. Sie sehen sich jedoch nicht unbedingt als Feministinnen.
Es begann mit der Verfassungsdebatte, gemeinsam mit anderen Gruppen diskutierten und erarbeiteten wir Vorschläge. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Struktur zu finden.
Im vergangenen Jahr haben wir mit Organisationen zusammengearbeitet, die in anderen politischen Räumen engagiert sind. Thematisch standen dabei im Mittelpunkt: Chancengleichheit, Gewalt an Frauen im Hinblick auf das neue Strafgesetz, Gesetz über soziale und solidarische Ökonomie, Recht auf Trinkwasser, Ernährungssouveränität. Faszinierend ist, wie es bei aller Unterschiedlichkeit gelingt, gemeinsame politische Positionen zu finden.

Die Themen sind also sehr unterschiedlich, je nachdem, was die Frauen in ihrem Lebensbereich bewegt…
Nein, eigentlich nicht. Wir untersuchten die Themen, die die Frauen in die Asamblea einbringen, und stellten fest, dass sich diese wiederholen. Meistens sind es Konflikte um Naturressourcen – Energie, Wasser, Land, Ernährungssouveränität. Ein anderer Schwerpunkt ist Arbeit: würdige Arbeit, gerechte Entlohnung, Hausarbeiterinnen, soziale Sicherheit. Gewalt und die Debatte über eine soziale und solidarische Wirtschaftsordnung sind weitere Themenbereiche.

Wie können Sie ihre politischen Vorschläge und Forderungen in die aktuelle politische Agenda einbringen?
Bei den Gesetzesdebatten mobilisierten wir rund 1.000 Frauen, zu drei landesweiten Treffen kamen jeweils ca. 700 Teilnehmerinnen. Bei Veranstaltungen mit anderen Organisationen und politischen Autoritäten wurden gemeinsame Erklärungen aufgesetzt. Wichtig sind auch die Ergebnisse der Protestmärsche. Aus den Diskussionen im Umfeld der Demonstration vom 22. März ergab sich ein 16-Punkte-Katalog.
Darüber hinaus engagieren wir uns aber auch in anderen Räumen, zum Beispiel in akademischen Zusammenhängen und anderen Foren.

Welche Bedeutung hatte die Demonstration am 22. März für die AMPDE?
Es begann sehr konfliktreich, bereits am 8. März. Die linken Frauen schlugen den Frauentag als Beginn der Aktionen vor, die in der Demonstration des 22. März „für das Wasser, das Land und die Würde“ gipfeln sollten. Die Regierung jedoch organisierte eine Gegenveranstaltung zum 8. März: Regierungsfreundliche Frauen wurden mobilisiert, um in Quito zur Schau zu stellen, dass Frauen die Bürger_innenrevolution unterstützen.
Am 10. März fand der internationale Marsch der Huren (putas) statt, ein wahrhaft historisches Ereignis, mit dem der Begriff der Hure sprachlich angeeignet und von verschiedenen Frauenorganisationen positiv besetzt wurde. Dem folgte am 20. März der Marsch der landwirtschaftlichen Organisationen zu Gesetzen über Agrodiversität und Ernährungssouveränität. Hier bot sich durch Unterschriftensammlungen eine der seltenen Gelegenheiten zur unmittelbaren politischen Partizipation der Bevölkerung, die die Verfassung zulässt.
Und schließlich der Marsch vom 22. März, an dem wir als Asamblea de Mujeres teilgenommen haben. Es gelang uns, gemeinsam mit anderen Organisationen viele Teilnehmerinnen zu mobilisieren und es gab interessante Debatten.

Wie ist das Verhältnis der verschiedenen feministischen Strömungen und Organisationen untereinander? Gibt es Kooperationen?
Die Regierung hat hier viel zerstört…

Zerstört?
Ja, zerstört – aber nicht, weil sie bewusst zerstören wollten. Dadurch, dass die Regierung selber als Akteur auftritt, verlangt sie den Aktivistinnen ab, Position zu beziehen. Die Frauenorganisationen fragen sich nun, ob sie auf Regierungsseite stehen oder sich in einer sozialen Bewegung engagieren. Das ist eine komplexe Situation.
Beim Marsch der Huren am 10. März warf man uns als Asamblea vor, wir kritisierten die Regierung. Diesen Vorwurf hören wir oft, denn wir hinterfragen und begnügen uns nicht mit Vorschlägen der Regierung.
Andere Organisationen wie die transsexuellen und lesbischen Genoss_innen sehen das anders. Sie haben durch diese Regierung nun endlich eine Anerkennung erfahren, eine Ministerin ist Mitglied der Organisation lesbischer Frauen, und das ist wichtig für sie.
Für uns ist ihre Anerkennung auch wichtig, aber das ändert nichts daran, dass es immer noch Gewalt und Ungerechtigkeit gibt.
Wo bleibt die Verbesserung der sozialen Rechte? Wo bleibt die Umsetzung der Land- und Wassergesetze?
Dafür kämpfen wir weiter.

Kasten:

Alejandra Santillana
ist Aktivistin der Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE) und Projektkoordinatorin im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.

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