Nicaragua | Nummer 301/302 - Juli/August 1999

FSLN – Von der Revolution zum Selbstmord

Während die FSLN in einer schweren Krise ist, befinden sich soziale Bewegungen und NRO’s im Aufwind

Zwanzig Jahre nach dem Triumph der sandinistischen Revolution ist ihr wichtigster Protagonist, die FSLN, in eine Dauerkrise verstrickt. Der Niedergang der FSLN hat seinen Ursprung in den Formen, mit denen die Organisation ihre Krisen traditionell bewältigt hat seit sie als Guerillabewegung entstand: das Fehlen von Debatten und die Durchsetzung einer vertikalen Disziplin.

Silvio Prado

Während der Periode der sandinistischen Regierung von 1979-90 dominierte das vertikale Modell der Umsetzung von Befehlen und Anordnungen. Alle internen Widersprüche wurden dem obersten Ziel untergeordnet, die revolutionäre Macht zu konsolidieren und gegen die Verschärfung der US-Aggression zu verteidigen. Gerade deswegen wurde aus der entstehenden Partei statt eines kritischen Organs ein weiteres Instrument der Defensivstrategie.

Keine Oppositionsstrategie

Die Wahlniederlage von 1990 erwischte die FSLN auf dem falschen Fuß. Keiner rechnete mit der Niederlage und dementsprechend fehlte eine oppositionelle Strategie. Es folgte eine Phase der Lähmung. Erst Monate nach der Regierungsübergabe kam es zur ersten Parteiaktivität. Auf dem Parteitag von El Crucero bildete sich ein neuer Stil der internen Beziehungen heraus: offene Kritik, eine Neuordnung über die alten Tendenzen hinweg und eine eigenständige Suche nach Alternativen. Die Entwicklung von offener Kritik stand am Anfang. Im Mittelpunkt der Debatte standen der als „Piñata“ bekannte Mißbrauch öffentlicher Güter und das fehlende oppositionelle Projekt, das die gesellschaftliche und politische Stärke der FSLN erneuern könnte.
Die Leitungsebene reagierte mit verächtlichem Schweigen oder mit Ermahnungen. Der Sandinismus fuhr mit zwei Geschwindigkeiten: Während sich für die Parteispitze nichts geändert hatte, war für die Basis alles anders. Die Kritik wurde horizontal ausgestreut, aber von der Leitung vertikal aufgenommen. Wo die einen eine Debatte unter Gleichen verlangten, sahen die anderen eine Auflehnung der Untergeordneten.
Der demokratische Zentralismus, einst der große Garant für Disziplin und Einheit, hatte jeden Rückhalt verloren. Es gab kein gemeinsames Projekt mehr, dem die Mitglieder erneut ihre Forderungen untergeordnet hätten. Währenddessen veränderte sich die Situation außerhalb des Parteiapparates: Der Staat wurde privatisiert, der informelle Sektor der Wirtschaft wuchs weiter an, der Konsum stieg, gleichzeitig aber auch die Arbeitslosigkeit. Die Unfähigkeit der Partei, die neuen Zeichen im Land zu erkennen, führte zu einer Spaltung zwischen Partei und Gesellschaft. Anstatt die notwendigen Anpassungen vorzunehmen, um die gesellschaftlichen Vorgänge neu zu bewerten, verbarrikadierte sich die Partei in ihren vier Wänden: Kontrolle und Disziplin sollten wiedererlangt und die interne Debatte definitiv abgeschlossen werden.
Ohne ein erneuertes Projekt und eine klare Strategie war die FSLN vollauf mit der Selbstverteidigung ihrer Führung in Beschlag genommen, die einmal mehr zu den Bedingungen der achtziger Jahre zurückkehren wollte. Sie machte ihr Überleben von der Figur Daniel Ortegas abhängig, der damals bereits als einzige Führungspersönlichkeit proklamiert worden war.

Alles dreht sich um Ortega

Spätere Kongresse verliefen nach dem gleichen Muster: Der Sektor, der Ortegas Macht zu schmälern oder ihn gar als Generalsekretär zu kippen versuchte, wurde vom Gewicht des Apparates erdrückt. Nicht einmal die schweren Anschuldigungen von Zoilamérica, sie sei von ihrem Stiefvater Daniel Ortega sexuell mißbraucht worden, gaben Anlaß zu einer Debatte über die Figur Ortegas an der Spitze der Organisation.
Unterdessen blutete der Parteiapparat durch den stillen Rückzug tausender Mitglieder allmählich aus. Die wenigen organischen Intellektuellen und Forschungseinrichtungen, die mit der FSLN zusammengearbeitet hatten, zogen sich angesichts der Aussichtslosigkeit, einen Beitrag zur qualitativen Umformung der Partei zu leisten, zurück.

Blüte der sozialen Bewegungen

Es kam zu einem beschleunigten Wachstum neuer Organisationsformen der sozialen Bewegungen. In einem gesellschaftlich-politischen Umfeld, aus dem die sandinistische Partei als Hauptakteur ausgeschieden war, gelangten nun die autonomen sozialen Bewegungen – wie die Frauen- und Umweltbewegung – zur Blüte. Auch die NROs breiteten sich mit Macht aus.
Die sozialen Bewegungen hatten größtenteils ihre Heimat im Sandinismus gehabt und besaßen die Fähigkeit, Analysen anzustellen, politische Plattformen zu errichten und Kampfformen zu entwickeln. Außerdem gaben sie das Muster für eine neue Organisationsform vor, die die Einheit in der Vielfalt anstrebte und sich gegen die von der Partei verlangte Homogenität wandte. Diese neue Organisationsform hob auf den Wert der Eigenständigkeit des Individuums und der Bewegung ab und führte das Netzwerk als Form der horizontalen Koordinierung zwischen Gruppen ein.
Die NROs stellten eine weitere Alternative der Gemeinwesenentwicklung dar. Mit unterschiedlichen Profilen, die von der Wissensproduktion bis zur Vermittlung von Prozessen nachhaltiger Entwicklung reichten, waren sie ein neuartiges Bindeglied zu den am meisten vernachlässigten Bevölkerungsgruppen. Nach einer Phase der Selbständigkeit und Spezialisierung übernahmen auch sie das Modell des Netzwerks für die thematische oder regionale Koordinierung ihrer Arbeit.
Diese Organisationsform erreichte ihr höchstes Entwicklungsstadium mit der Schaffung der Coordinadora Civil para la Emergencia y la Reconstrucción, der sich nach dem Hurrikan Mitch mehr als 320 NROs, Verbände und soziale Bewegungen anschlossen – es ging um die Kanalisierung der Hilfeleistungen für die Opfer, aber auch darum, Alternativvorschläge für den Wiederaufbau des Landes zu erarbeiten. Die Coordinadora Civil ist aufgrund ihrer Größe und ihrer Präsenz im ganzen Land zu einer bedeutenden Kraft herangewachsen, und ihre Entstehung bedeutete die erste große politische Vernetzung seit dem Verschwinden der FSLN als Dachorganisation.

Fehlende Konvergenz

Ist ein Bündnis zwischen der FSLN und diesen neuen Ausdrucksformen der Zivilgesellschaft als Grundlage für eine linke Alternative in Nicaragua noch möglich? Betrachten wir die Tendenzen der letzten neun Jahre, so verfolgen die FSLN und die sozialen Bewegungen unterschiedliche und immer stärker entgegengesetzte Wege. Wenn wir die Konvergenz beider Extreme als unerläßlich für den Wiederaufbau der nicaraguanischen Linken erachten, so erscheint das Zusammentreffen dieser beiden Pole aufgrund ihrer jeweiligen inneren Dynamik als unwahrscheinlich.
Die FSLN müßte das Konzept, auf dem ihre Beziehung zu den sozialen Bewegungen basiert, radikal verändern: Obwohl sie in der Praxis von niemandem mehr als Avantgarde angesehen wird, betrachtet sie umgekehrt die Bewegungen weiterhin als Transmissionsriemen. Zugleich haben die sozialen Bewegungen den Wert der Autonomie jenseits der Parteien für sich entdeckt.
Was die Erneuerung der Plattformen des Kampfes angeht, hat die FSLN keine strategische Vision zu bieten – nicht nur im Hinblick auf ein neues Gesellschaftsmodell, sondern auch in bezug auf ihre Rolle als Oppositionspartei. Die Verhandlungen über einen Pakt mit der liberalen Regierung, die durch ihre Korruptheit auf nationaler und internationaler Ebene diskreditiert ist, sprechen für die Kurzsichtigkeit, mit der die sandinistische Führung agiert. Für sie ist eine Machtteilhabe interessanter als die Erarbeitung eines langfristigen Programms.
Zu diesen Divergenzen kommt die permanente Krise, die die FSLN durchlebt, und die aus ihr einen sehr instabilen potentiellen Bündnispartner macht. Heutzutage ist die FSLN eine Verschmelzung verschiedener Strömungen, die sich um die verschiedenen Führungspersonen herum gruppieren.
Die bedeutendste von ihnen ist die um Daniel Ortega und seine loyalsten Freunde, mit denen zusammen er sieben Jahre im Gefängnis verbrachte. In ihrem Umkreis bewegen sich andere Ex-Comandantes, die darin ihre einzige Überlebenschance sehen.
Die zweite wichtige interne Tendenz ist die Izquierda Democrática, mit Mónica Baltodano als zentraler Figur. Deutlichster Konfliktpunkt mit Ortega ist die Postenvergabe. Ortega bevorzugt sowohl bei der Verteilung der Posten in der FSLN-Leitung als auch bei der Kür der WahlkandidatInnen seine UnterstützerInnen. Da die Differenzen formaler Art sind, besteht von dieser Tendenz keine Gefahr für den Zusammenhalt der Partei. In den vorangegangenen Krisen war sie für die Abgrenzung gegenüber den Dissidenten zuständig.
Die dritte Tendenz bildet eine Gruppe von Abgeordneten, die sich gegen das Bündnis mit den Liberalen wehren und sich um Víctor Hugo Tinoco scharen. Rückhalt besitzt diese Strömung durch die betreffenden Abgeordneten in den Departments des Nordens, Westens und in Masaya. Aus diesem Grund wird sie von den beiden anderen Tendenzen bekämpft; für den Fall, das sie sich konsolidiert, stünde sie als nächste auf der Abschußliste.
Außerhalb des Apparates gibt es eine Unzahl von Strömungen, die sich ein Wiederaufleben des Sandinismus zum Ziel gesetzt haben – jenes Sandinismus, der nun in andere politische Aktionsräume emigriert ist.
Zu den herausragendsten zählen die Iniciativa Sandinista, die sich aus ehemaligen StudentenführerInnen der 70er Jahre zusammensetzt, das Foro Sandinista, vorangetrieben von einstigen sandinistischen Regierungsfunktionären, die Veränderungsdruck im Apparat erzeugen wollen, und andere Gruppen, die das Ergebnis kleiner Versammlungen von Freunden im privaten Kreis sind.

Die Dynamik der sozialen Bewegungen

Im Gegensatz dazu haben es die sozialen Bewegungen erreicht, eine zweifache Dynamik der Differenzierung und Verknüpfung in Gang zu setzen. Sie haben tiefe Krisen durch Debatten und Verhandlungen überlebt und ihre Netzwerke als demokratische Formen der Koordination und des Erfahrungsaustauschs stabilisiert.
Ein Wiederaufleben des linken Projekts in Nicaragua unter Einbeziehung der FSLN kann nur durch deren Umwandlung in eine demokratische Organisation gelingen – eine Organisation, die für alle Erfahrungen der Basis offen ist, die tagtäglich von den sozialen Bewegungen, den Verbänden und NROs in ihren Tätigkeitsfeldern gemacht werden.
Freilich weisen die Personen, die den FSLN-Apparat steuern, nicht die entsprechenden Charakteristika auf, um diese Umwandlung zu fördern. Die jüngste Geschichte hat mehr als einmal bewiesen, daß sie diese Berufung nicht besitzen; sie müßten von der politischen Bühne abträten, aber zum Verzicht auf die ohnehin kargen Privilegien ihrer Macht sind sie nicht bereit. Man wird warten müssen, bis sie sterben oder die Organisation zunichte machen, oder aber beides: daß sie, indem sie die FSLN zu Tode regieren, selbst verschwinden.
Solange bleibt nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, die Dinge an der Wurzel zu verändern und die alten Schemata aufzubrechen was ja die eigentliche Aufgabe von Revolutionären ist. Wer dagegen am Wegesrand stehenbleibt, bis alle Hoffnung verloren ist, macht gemeinsames Spiel mit denen, die aus ihrem Sicherheitsbedürfnis heraus gar nichts tun oder, schlimmer noch, ihre eigenen Eitelkeiten befriedigen, was nichts anderes bedeutet als den Selbstmord des Revolutionärs.

Übersetzung: C. Prößer

Silvio Prado arbeitete in den 90er Jahren unter anderem in der FSLN-Abteilung für internationale Beziehungen. Bis zu seinem Bruch mit dem Parteiapparat 1994 war er FSLN-Gebietssektetär für die Region Managua. Seit dem arbeitet er für die NRO „Desarollo Municipal“.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren