Musik | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Für den Chicle!

Eine empörte Erwiderung und ein Preisausschreiben für die LN-LeserInnen

Bert Hoffmann

Harte Worte waren gefallen: “Primitiv-Cumbia” sei es, hatte der geschätzte Kollege P. im letzten Heft der LN abschätzig geschrieben (LN 228, S.72), wenn sich ein Sänger “minutenlang darüber ausläßt”, daß er “an einem Kaugummi festgeklebt” ist: “Se me pegó el chicle, el chicle se me pegó”. Ich war empört. So leicht lass’ ich mir einen meiner Lieblingstexte aus langen lateinamerikanischen Busfahrten nicht miesmachen! Primitiver Eurozentrismus ist das, Kollege P. Mindestens!
Ein Sandkorn kann die ganze Welt enthalten, all the wisdom of the world fits in a nutshell, und so weiter oder so ähnlich, und also können auch an einem Chicle die existentiellen Probleme des Lebens verhandelt werden! Ich muß hier aus dem Gedächtnis rekonstruieren: Ein Mann, eine Frau, die Frau tanzt, begeisternd, leidenschaftlich, der Mann ist begeistert, von Leidenschaft erfüllt, sie tanzt mit anderen, doch dann bekommt er seine Chance, und er weiß um seine Stärke, seinen “Paso”, seinen unglaublichen Tanzschritt, den keiner wie er beherrscht und dem keine Frau widerstehen kann, er tanzt, er setzt an zu seinem unwiderstehlichen Schritt, “pero el paso no me salió, porque un chicle se me pegó”, ein “primitiver” Kaugummi, doch fortan nimmt das Schicksal unbarmherzig seinen Lauf, sie geht mit einem anderen davon, er hat verloren, versagt.
Hier finden wir Dramatik von Shakespeare’scher Größe, organisch verbunden (Gramsci) mit der Lebenswelt (Habermas) der “clases populares”. Die zerstörerische Kraft des Chicle – eine offenkundige Metapher für den aggressiven Kulturimperialismus der USA – wird hier noch in den Liebesbeziehungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, jener Verdammten dieser Erde (Fanon) deutlich gemacht und von der authentischen Volkskultur unerbittlich an den Pranger gestellt, während gleichzeitig der eigene, verinnerlichte Machismo in Frage gestellt wird, mit subtiler Selbstironie statt mit anklagendem Zeigefinger. Wie brisant dieser Text ist (dessen AutorInnen uns im übrigen unbekannt sind), wird schon dadurch belegt, daß das Lied hierzulande kaum in den Radios zu hören ist. Auch im einschlägigen Berliner Fachhandel war es nicht erhältlich.
So appellieren wir an unsere Leserinnen und Leser: Wer kennt das Lied und kann uns eine Aufnahme davon zuschicken? Wir wollen, damit sich jeder und jede ein eigenes Urteil in dieser bewegenden Kontroverse bilden kann, in den LN den vollständigen Text veröffentlichen. Und zur Belohnung gibt’s einen Supersonderpreis: Eine Kassette mit allen Liedern (oder zumindest fast allen), die in dem “Beweg deinen Hintern!”-Artikel in den letzten LN erwähnt wurden. Auch mit dem Chicle-Song, por supuesto.

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