Nummer 490 - April 2015 | Peru

Fujimoris bitteres Erbe

Keine Gerechtigkeit für Opfer von Zwangssterilisierungen

Es ist ein Erbe der zehn Jahre währenden autoritären Fujimori-Präsidentschaft: Zwischen 1995 und 2000 wurden rund 300.000 Frauen und 22.000 Männer in Peru zwangssterilisiert. Mit diesen drakonischen Maßnahmen sollte im Zuge einer staatlichen Gesundheitsreform die Geburtenrate gesenkt werden. Die Opfer kämpfen noch heute um eine Entschädigung und die Anerkennung ihrer Leidensgeschichte.

Johanna Wollin

Die Wunde ist nicht verheilt: In Peru wird erneut eine juristische Aufarbeitung der Zwangssterilisation hunderttausender Frauen und zehntausender Männer unter der Präsidentschaft Alberto Fujimoris (1990-2000) gefordert. Frauenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen haben gemeinsam mit dem Anwalt Julio Arbizu dazu aufgerufen, die verantwortlichen Politiker*innen strafrechtlich zu verfolgen. Die Ermittlungen gegen die damals eingesetzten Ärzt*innen und Pflegekräfte seien nicht ausreichend, da diese nicht für das Gesetz verantwortlich seien, so Arbizu.
Mit perfiden Methoden wurden arme Peruaner*innen zu einer Sterilisation gedrängt. Manchen Betroffenen erzählte das Gesundheitspersonal, dass die Operation wieder rückgängig gemacht werden könnte, sobald sie wieder ein Kind wollten. Andere wurden über Wochen hinweg psychologischem Druck ausgesetzt und erpresst, indem man sie an ihre Pflichten gegenüber dem Staat erinnerte. Bis sie in eine Sterilisation einwilligten – für ihr eigenes Wohl und das ihrer Familie.
Das Jahr 1995 markierte den Beginn einer ambitionierten Kampagne der peruanischen Regierung zur Bekämpfung der Armut durch die Senkung der Geburtenrate – für den sozialen Fortschritt: das Programm zur Fortpflanzungsgesundheit und Familienplanung (Programa de Salud Reproductiva y Planificación Familiar).
„Die peruanische Frau sollte Herrin ihres Schicksals sein“, sagte Alberto Fujimori im Juli 1995, kurz nachdem er als peruanischer Präsident wiedergewählt worden war. Durch das Recht auf Familienplanung sollten Frauen über ihr eigenes Leben frei verfügen können. Das wiederholte er im Oktober desselben Jahres auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking, wo er als einziges männliches Staatsoberhaupt teilnahm und seine Ankündigung mit Beifall aufgenommen wurde.
Damals lebten laut dem Institut für Statistik und Information (INEI) etwa 45,3 Prozent der Bevölkerung in Armut, 19,3 Prozent in extremer Armut, ohne ihren Grundbedarf an Ernährung decken zu können. Den Grund dafür sah nicht nur die peruanische Regierung im rasanten Bevölkerungswachstum. Auch Weltbank, Internationaler Währungsfonds und der damals noch existierende Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sahen darin ein maßgebliches Hindernis zur wirtschaftlichen Erholung des Landes.
Peru war seit der offiziellen Rückkehr zur Demokratie 1980 nicht zur Ruhe gekommen und kämpfte seit dem Ende der 1980er verstärkt gegen die Guerillabewegungen des Leuchtenden Pfades (Sendero Luminoso) und der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA). Zudem hatte sich das Land hoch verschuldet und kämpfte gegen eine Hyperinflation, die die Währung massiv entwertete. Neue Kredite und Entwicklungsgelder wurden deshalb an die Bedingung einer erfolgreichen Bevölkerungskontrolle gekoppelt. Die Regierung setzte sich daraufhin das Ziel, die Geburtenrate zu senken: Die Kinderzahl pro Familie sollte bis zum Jahr 2000 von durchschnittlich 3,4 auf 2,5 reduziert werden.
Im Zuge der Reformen im Gesundheitswesen wurde 1995 die Sterilisation legalisiert. Im ganzen Land, auch in abgelegenen Gebieten, wurden neue Gesundheitszentren gebaut und Personal dafür ausgebildet: Informationen über alle Verhütungsmethoden sollten somit für den Großteil der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig lauteten die Anweisungen, die Kampagne zur Bevölkerungskontrolle so effektiv und kostengünstig zu halten wie möglich. Die permanenten Verhütungsmethoden waren sowohl die effektivsten als auch die kostengünstigsten. Expertise und finanzielle sowie logistische Unterstützung bekam der Staat dabei von USAID, der US-amerikanischen Behörde für Entwicklungshilfe.
Die Zielvorgaben und Richtwerte kamen vom Gesundheitsministerium, das zwischen 1996 und 1999 von Marino Costa Bauer und seinem Vize Alejandro Aguinaga angeführt wurde. Demnach sollten zwei bis drei Bürger*innen pro Monat sterilisiert werden. Belohnung winkte den Gesundheitszentren, die diese Vorgaben am besten erfüllten. Preise gab es zum Beispiel für die Zentren, die die meisten Sterilisationen am günstigsten bewerkstelligen konnten. Weiterhin wurden die Gesundheitsposten belohnt, die die Kampagnen am besten organisierten und diejenigen, die die beste Überzeugungsarbeit leisteten. Dabei berichten mehrere Opfer, sie seien ohne Betäubung operiert worden und hätten den Eingriff bei vollem Bewusstsein mit angesehen. Außerdem seien ganze Dorffeste arrangiert worden, um die Frauen aus dem umliegenden Gebiet zu einer Sterilisation zu ermutigen.
Mathilde Damoisel fragt in ihrem Dokumentarfilm Im Namen des Fortschritts (ARTE 2010) zu Recht, wie Quoten einerseits und das Recht der Frau auf Selbstbestimmung andererseits vereinbar sein konnten. Die Ergebnisse zeigen, sie waren es nicht. Die sogenannte Familienplanung war de facto eine Kampagne zur Zwangssterilisation.
1998 wandten sich die Opfer an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH). Die Skandalberichte häuften sich und die nationalen Medien brachten eine Schlagzeile nach der anderen. Durch den Druck der Öffentlichkeit verschwanden die Zielvorgaben von der Agenda des Gesundheitsministeriums. Doch das Programm wurde erst 2000 mit dem Ende des Fujimori-Regimes endgültig beendet. Bis dahin wurden etwa 300.000 Frauen und 22.000 Männer zwangssterilisiert. Die meisten Opfer stammten aus den ländlichen Gebieten der Anden und des Amazonas. Die Zahlen liegen nach der Menschenrechtlerin Giulia Tamayo vermutlich höher. Aufgrund von manipulierten oder verschwundenen Unterlagen könne man allerdings die genauen Zahlen nicht rekonstruieren.
1999 klagten mehrere peruanische Menschenrechtsorganisationen vor der CIDH wegen des Todes einer Frau aus Cajamarca, María Mamérita Mestanza Chávez. Sie war an den Folgen einer misslungenen Operation gestorben. Erst 2003 wurde der Fall entschieden und der peruanische Staat musste seine Verantwortung an den Menschenrechtsverletzungen anerkennen: Er verpflichtete sich dazu, die Verantwortlichen in der Regierung vor Gericht zu stellen und die Opfer zu entschädigen sowie ähnliche Fälle zu untersuchen und die Verantwortlichen entsprechend anzuklagen.
Sieben Jahre später wurden die Ermittlungen eingestellt. Eine Beschwerde der CIDH führte zwar dazu, dass das Verfahren 2013 wieder aufgenommen wurde. Doch im Januar 2014 legte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen teilweise zu den Akten. Damit wurden die Ermittlungen gegen Fujimori und seine Gesundheitsminister erneut eingestellt.
Für die Opfer geht der Kampf ein Jahr nach diesem Gerichtsurteil weiter. Sie kämpfen nicht nur gegen die Regierung und ihre ehemaligen Vertreter*innen. Sie kämpfen auch um ihre Würde und die Anerkennung ihres Leidens: Selbst in ihren Dörfern werden sie stigmatisiert und diskriminiert. Ihre Aussichten auf Entschädigung hängen vom Erfolg der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ab und der Bereitschaft der zeitgenössischen Politik, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Hier gibt es seit 2014 allerdings keine Fortschritte. Alberto Fujimori und manche ehemalige Regierungsmitglieder genießen auch heute noch ein hohes Ansehen in weiten Bevölkerungskreisen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2011 kam es nicht überraschend, ein bekanntes Gesicht unter dem Kompetenzteam der Kandidatin Keiko Fujimori, Alberto Fujimoris Tochter, zu sehen: Marino Costa Bauer, Gesundheitsexperte.

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