Brasilien | Nummer 503 - Mai 2016

GEFANGEN IN DER ZEIT DER SKLAVEREI

Der Aktivist Douglas Belchior über die verschiedenen Dimensionen der Diskriminierung von Schwarzen Brasilianer*innen

Von Interview: Niklas Franzen
Douglas Belchior ist Geschichtslehrer, Journalist  und Aktivist aus São Paulo. Er gehört zum Leitungsteam von UNEafro Brasil. Die Bildungsorganisation bietet verschiedene Kurse in sozial benachteiligten Stadtteilen an und leistet antirassistische Bildungsarbeit.
Douglas Belchior ist Geschichtslehrer, Journalist
und Aktivist aus São Paulo. Er gehört zum Leitungsteam von UNEafro Brasil. Die Bildungsorganisation bietet verschiedene Kurse in sozial benachteiligten Stadtteilen an und leistet antirassistische Bildungsarbeit.

Die Sklaverei in Brasilien wurde im Jahre 1888 abgeschafft. Warum ist die Ungleichheit zwischen Schwarzen und weißen Menschen weiterhin so ausgeprägt?
Douglas Belchior: Brasilien wäre nicht das, was es ist, ohne die rassistische Unterdrückung der Schwarzen. In den Anfängen der europäischen Invasion waren drei Viertel der Bevölkerung Sklaven aus Afrika. Jede Form der persönlichen und sozialen Beziehungen, der Kultur und des Zusammenlebens beruhte auf der Logik der Sklaverei. Und die brasilianische Bevölkerung ist bis heute strikt nach Hautfarben getrennt. Studien über die Lebensbedingungen im Land zeigen, dass die schwarze Bevölkerung in der gleichen sozialen Situation gefangen ist wie zur Zeit der Sklaverei. Da hat sich nichts verändert. Die weißen Eliten, also die gleichen Gruppen, die unser Land besetzt, vergewaltigt und kolonisiert haben, besitzen immer noch Macht und Reichtum. Ihnen gegenüber steht eine breite, überwiegend schwarze Masse, die trotz aller demokratischen Reformen und Initiativen vom politischen System ausgeschlossen ist. Auch knapp 130 Jahre nach Ende der Sklaverei sind wir weit von einer gerechten Realität entfernt.
Gerade die Polizeigewalt steht in der Kritik vieler sozialer Bewegungen. Afrobrasilianische Gruppen sprechen sogar von einem Genozid an der Schwarzen Bevölkerung. Warum?
Die brasilianische Gesellschaft gründet auf dem Genozid. Dieser Genozid ist als ein Projekt der Eliten zu verstehen, die schwarze Bevölkerung mit Gewalt zu kontrollieren, um zu verhindern, dass sie an Machtpositionen gelangt. Die Kontrolle hat verschiedene Dimensionen: die Diskriminierung im Rechtssystem, der Ausschluss von Bildung und öffentlichen Ämtern, die Unterdrückung von schwarzer Kultur und Religion, aber auch die physische Vernichtung. Die Angst der Eliten vor der schwarzen Bevölkerung war zentrales Element der Politik der öffentlichen Sicherheit nach dem Ende der Sklaverei. So gab es beispielsweise Anfang des Jahrhunderts ein Gesetz, das Capoeira (afrobrasilianischer Kampftanz, Anm. d. Red.) verbot. Weitere Initiativen zielten darauf ab, wichtige Bestandteile schwarzer Kultur zu diskriminieren. Solche Konzepte werden heute immer noch verfolgt, vor allem von der Polizei. Uns liegen Dokumente vor, aus denen dies klar hervorgeht. Die schwarze Bevölkerung wird in der Ausbildung der Polizisten als zentrales Ziel benannt. So lässt sich die extreme Gewalt gegen schwarze Menschen und ihre Territorien erklären. Allein schon die Grundsätze der Militärpolizei zeigen uns, dass es sich um einen Genozid handelt. Auch die Zahlen des alltäglichen Sterbens in den Vorstädten sprechen für sich.

Wie beeinflusst die Gewalt das Leben der Schwarzen Bevölkerung in diesen Gebieten?
Vor allem prägt sie das Leben der Menschen. Die Gewalt der Polizei zerstört Familienstrukturen und prägt diese für die Zukunft. Eine Familie, die zwei oder drei Angehörige durch die Polizei verloren hat, wird über mehrere Generationen damit zu kämpfen haben. Allerdings ist es eine der zentralen Aufgaben des Staates und der großen Medien, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Gewalt berechtigt sei. Diese Vorstellung beeinflusst auch die Mentalität der schwarzen Bevölkerung aus den Vorstädten. Viele Bewohner glauben selbst daran, dass die Gewalt gegen sie gerechtfertigt sei.

Welche Forderungen hat die Schwarze Bewegung in Brasilien?
Wir haben immer eine historische Wiedergutmachung gefordert. Es ist eine Politik notwendig, die Wirtschaft und Verteilung von Reichtum neu denkt. Denn die brasilianische Makropolitik ist rassistisch – auch wenn dies so nicht direkt geäußert wird, ist dies ihre praktische Wirkung. So werden die großen Banken und Unternehmer privilegiert, während die Ärmsten die Rechnung der Reichen zu zahlen haben. Die brasilianische Wirtschaftspolitik führt zu einer Verschärfung der Armut, und dies trifft vor allem die schwarze Bevölkerung. Ein Beispiel dieser Politik ist die Immobilienspekulation in den großen Städten: Sie verdrängt die schwarze Bevölkerung aus den zentralen Stadtteilen in die sozial benachteiligten Randgebiete.

Seit Monaten mobilisiert die Rechte gegen die Regierung der Arbeiterpartei PT. Die endgültige Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat gilt als wahrscheinlich. Welche Rolle spielt Rassismus bei den aktuellen politischen Auseinandersetzungen?
Das Amtsenthebungsverfahren und die Bestrebungen der rechten Bewegungen sind zuallererst als Ausdruck der Angst der weißen Mittel- und Oberschicht zu verstehen, ihre Privilegien zu verlieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Regierung die Dinge angegangen ist, wie sie es hätte tun sollen. Im Gegenteil, sie hat sich in den letzten Jahren gerade dem rechten Lager angenähert. Allerdings reicht das Wenige, was diese Regierung erreicht hat, aus, um einen solchen Hass auszulösen. Wo zeigt sich der Rechtsruck in der Praxis? Vor allem im Leben der schwarzen Bevölkerung. Die Forderung, die Umverteilungspolitik zu beenden, trifft vor allem uns. Diese Leute wollen keinen Schwarzen in der Universität oder am Flughafen begegnen und sie stören sich daran, wenn Schwarze die gleichen Produkte wie sie konsumieren. Zudem hat die Sprache der Rechten einen klar rassistischen Unterton. Daher sind die gegenwärtigen Auseinandersetzungen auch ein Beweis dafür, dass die Klassenfrage in Brasilien eine Frage der Hautfarbe ist. Das Hauptproblem dieses Landes ist zuallererst der Rassismus.

Die Lage scheint zum Verzweifeln zu sein. Ultrareaktionäre Politiker*innen befinden sich im Aufwind. Den rechten Kräften gelingt es, Hunderttausende zu ihren Demonstrationen zu mobilisieren. Wo finden Sie noch Zuversicht?
Es ist richtig, dass es im Moment eine starke Offensive reaktionärer Kräfte gibt. Jedoch gibt es auf der anderen Seite auch Widerstand. Heute gründen sich in den Vorstädten, Favelas und schwarzen Territorien immer mehr unabhängige Organisationen. Trotz der weiterhin geringen Anzahl schwarzer Studenten haben sich in den letzten Jahren an den Universitäten zahlreiche Kollektive und Kulturgruppen gebildet. Es gibt mittlerweile mehr Bildungsangebote für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Kultur und Religion spielen heute eine große Rolle und so erleben schwarze Ästhetik und Identität eine immer größere Wertschätzung. Insgesamt gibt es derzeit viele Aktivitäten. Zwar sind die meisten Gruppen noch zerstreut, aber sie sind sehr lebendig und radikalisieren sich, vor allem in den Randgebieten der Städte. Ich glaube, dass eine Reorganisierung der brasilianischen Linken nicht von institutionellen Gruppen, wie Parteien oder Gewerkschaften, ausgehen wird. Der Kampf wird von den Bewohnern der Vorstädte sowie der feministischen und schwarzen Bewegung getragen werden.

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