Literatur | Nummer 505/506 - Juli/August 2016

GEFANGEN ZWISCHEN DEN WELTEN

Gewalt, Fremdzuschreibungen und Trostlosigkeit umgeben die junge Luz – ihr bleibt nur die Flucht in die eigene Fantasiewelt

Von Lyudmila Vaseva

Die elfjährige Luz lebt in einem Heim. Ihre Mutter ist fort, ihre Schwester liegt im Krankenhaus, ihr Vater sitzt im Knast. Nur ihre Tante Tencha kommt sie manchmal besuchen. Luz spricht nicht, trotz der Bitten und Beschwichtigungen Tenchas und der Betreuer*innen. Was ist passiert?

Luz blickt zurück und erzählt ihre Geschichte in einzelnen chaotischen Erinnerungsfetzen, die sie in ihr Tagebuch schreibt – dem Einzigen was sie bei sich hat, außer der lotería-Karten. Lotería ist ein mexikanisches Glücksspiel, so ähnlich wie Bingo, nur anders. Statt mit Zahlen wird mit Bildern gespielt. Jedes Buchkapitel, jeder Tagebucheintrag, ist einer Karte gewidmet: der Meerjungfrau und dem Betrunkenen, der Sonne, dem Mond und den Sternen. Diese Illustrationen von Jarrod Taylor tragen auch dazu bei, sich in die Gefühlswelt eines elfjährigen Kindes hineinversetzen zu können.
Mario Alberto Zambrano hat professionell für mehrere weltbekannten Ensembles getanzt, bevor er sich der Literatur zugewandt hat. Während seiner Karriere als Tänzer habe er sich die Disziplin angeeignet, die für das Schreiben eines Romans von Nöten ist, so der Autor in einem Interview mit dem Verlag. Sonne, Mond und Sterne, das im Original Lotería heißt, ist sein erstes Buch.
Der Roman erkundet einige Themen, die von aktueller Brisanz sind. Dazu gehört die Suche nach der eigenen Identität zwischen zwei Kulturen, der Umgang mit familiärer Gewalt, Alkoholismus und den eigenen Schuldgefühlen. Ursprünglich in englischer Sprache verfasst, bedient sich das Buch spanischer Wörter und Ausdrücke, die immer wieder in Luz‘ Gedanken auftauchen, um zu verdeutlichen, dass sich auch das Leben des Mädchens zwischendrin abspielt, zwischen Mexiko und den USA, zwischen dem Spanischen und dem Englischen. Als in Texas aufgewachsener US-Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln hat der Autor früh genug erfahren, welche Bürde fremde Identitätszuschreibungen mit sich bringen, was es heißt, „weiß“ oder „mexikanisch“ zu sein und in Schubladen gesteckt zu werden, die mit gewissen Erwartungshaltungen verbunden sind. Dies sind zentrale Aspekte, mit denen er sich auch in diesem Roman auseinandersetzt. Besondere Aufmerksamkeit in der Aufarbeitung dieser Erfahrungen wird den Traumata familiärer Gewalt und dem Umgang mit diesen gewidmet. Als ihre Familie auseinanderbricht, sucht Luz Zuflucht in ihrer Fantasiewelt der lotería. Sie will das Geschehene nicht vergessen, sondern einen Weg finden, sich selbst zu vergeben und weiterzumachen.
Damit ist der rote Faden abgesteckt, an dem sich Luz‘ bedrückende Geschichte orientiert und entwickelt. Nur die bunten Illustrationen der Spielkarten, die jedem Kapitel vorangestellt sind, lockern die düstere Stimmung ein wenig auf. Kombiniert mit fehlenden Lösungsansätzen für die angesprochenen Konflikte entsteht eine Atmosphäre der Trost- und Ausweglosigkeit. Auch der Umstand, dass Luz in ihrem Tagebuch Gott als Ansprechperson wählt, trägt dazu bei. Die Suche nach Verständnis und Vergebung durch eine höhere Instanz bestätigt das dominierende Gefühl der Machtlosigkeit.
Die Geschichte eines Mädchens, das aufgrund der sie umgebenden Welt voller Gewalt und Konflikte dazu gezwungen ist, plötzlich und abrupt erwachsen zu werden, wird durchaus packend erzählt. Ebenso abrupt, wie Luz erwachsen werden muss, endet die Geschichte. Zurück bleiben Ratlosigkeit, aber auch die Hoffnung auf einen Neuanfang unter besseren Vorzeichen.

Mario Alberto Zambrano// Sonne Mond und Sterne // Verlagsgruppe Randomhouse // März 2016 // 22,99 €// Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann // 288 Seiten

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